Philologie

="W.

Und da es ja nun Universitätsprofessoren jeden Ranges
in diesen Massenfächern Germanistik und Geschichtswissenschaft gibt,
wie Sand am Meer,
ist es schon verwunderlich,
welche Berührungsangst offenbar herrscht


Sebalds Verdikte
  • Andersch



    Meine Überlegung dazu war, daß das,
    was von deutschen Autoren nichtjüdischer Herkunft über dieses Thema der Verfolgung
    und der versuchten Ausrottung des jüdischen Volks geschrieben worden ist,
    im allgemeinen unzulänglich ist und
    über weite Strecken aus Peinlichkeiten besteht,
    auch aus Usurpationen.
    Das Paradebeispiel ist für mich Alfred Anderschs Roman Efraim.
    Da versuchte ein Autor,
    eine Art von - sei es ästhetischem,
    sei es realem - Kapital aus diesem Thema zu schlagen.



  • Andersch, Böll und Schmidt



    Bis dahin hatte ich,
    wie alle Heranwachsenden,
    die in sich so etwas wie ein literarisches Interesse verspüren,
    die sogenannten deutschen Nachkriegsautoren gelesen,
    also Andersch und Böll und Schmidt und was es da so alles gibt.
    Das hatte ich für die neue deutsche Literatur gehalten und rechnete damit,
    daß mir dort erzählt wird,
    was ich wissen muß über das Land,
    in dem ich aufgewachsen bin.
    Ich hatte allerdings damals schon beim Lesen das Gefühl,
    daß angesichts der großen Katastrophen,
    die sich abgespielt haben,
    sehr wenig in diesen Büchern drinsteht,
    daß sie so etwas wie ein umsichtig verwaltetes Erfahrungsdefizit repräsentiert haben.



  • Becker



    Obgleich die Interpolierung des empfindenden und räsonierenden Subjekts
    in den Ablauf der kontingenten Ereignisse
    zu den nahezu unabdingbaren Strategien der neueren Romanliteratur gehört,
    trägt Becker stets Sorge,
    daß er nicht mit hineingerät in sein Werk.
    Bereits in »Jakob der Lügner«,
    einem Buch, von dem man annehmen müßte (und häufig angenommen hat),
    daß es zurückgeht auf die frühen Erfahrungen seines Autors,
    ist Becker nirgends anzutreffen.
    Und daß der vorgeschobene Erzähler,
    Überlebender des Gettos und der Deportation,
    die Stelle des Autors in einer der Schwierigkeit seines Amtes angemessenen Weise vertritt,
    das läßt am Text sich nicht zeigen,
    denn das erzählende Ich bleibt eine blasse Figur,
    die kaum nur den fiktiven Status der übrigen fiktiven Gestalten erreicht
    und der man die ihr eingangs als Charakteristikum und Legitimation zugeschriebene,
    später aber nicht weiter reflektierte Erfahrung extremen Leids nicht abnimmt.
    Verdächtig oft und ausführlich muß der Erzähler uns auch auseinandersetzen,
    wie er über die Ereignisse, von denen er berichtet,
    so genau Bescheid wissen kann -
    ganz als antizipiere er den Zweifel des Lesers an seiner Authentizität.



  • Grass



    Der Kunstwille, also, der mich zum Beispiel bei Grass -
    um nur ein Beispiel zu nennen - furchtbar stört,
    obwohl ich die Grassschen Sachen natürlich mag auf irgendeine Art,
    aber der in jedem Satz sich manifestierende verzweifelte Kunstwille,
    daß also alles nach diesem Grassschen Modus gedrechselt werden muß,
    das liegt mir fern. Ich möchte halt so schreiben,
    wie man halt schreibt, nicht?,
    so möglichst geradeaus.
    Und daß das vielleicht den einen oder anderen etwas altmodisch dünkt,
    das ist etwas,
    was ich natürlich nicht kontrollieren kann.



  • Gruppe 47



    Hans Werner Richter hat beschrieben,
    wie bei einem dieser ersten Treffen der Gruppe 47,
    irgendwo an der Ostsee,
    ein Bordell gemeinsam aufgesucht wird — gedacht als eine Art höherer Jux.
    Und die beiden Damen,
    nämlich Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann,
    dürfen mitgehen.
    Das Ganze ist von einer derartigen Penetranz und Peinlichkeit,
    wie es schlimmer nicht geht.
    Man kann an dieser grotesken Anekdote besser als an allem anderen sehen,
    in welch hoffnungsloser Situation die beiden schreibenden Frauen in diesem Männerverein gewesen sind.
    Es stehen einem noch vierzig Jahre danach die Haare zu Berge.




  • Jünger



    Wenn man das Beispiel Jünger nimmt,
    dann ist das ein sehr eklatantes Exempel dafür,
    wie man solche Katastrophen nicht betrachten darf.
    Es gibt ja diese berühmte Passage in den Strahlungen,
    in den Tagebüchern der Kriegszeit,
    wo er irgendwo in Paris auf einem Dach steht
    und das Bombardement aus der Ferne betrachtet
    und die ästhetische Wirkung des Bombenhagels beschreibt.
    Was an sich wahrscheinlich noch durchaus legitim wäre.
    Er diskreditiert sich nur durch die Tatsache,
    daß er es nicht unterlassen kann,
    dem Leser auch noch zu verraten,
    daß er zugleich - wenn ich mich recht erinnere -
    ein Glas Champagner mit Erdbeeren in der Hand hat.



  • Reich-Ranitzki



    (zu den Abbildungen in Sebalds Büchern)
    Ja, da gibt es dann halt solche Männer wie Reich-Ranicki,
    die überhaupt nicht wissen,
    was das Ganze soll,
    weil sie sich nie mit diesen Dingen beschäftigt haben.



  • Walser



    Für mich bedeutet das einfach,
    daß diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
    nicht einfach abgebrochen werden kann,
    indem wie Martin Walser sagt:
    wir haben uns jetzt dreißig oder vierzig Jahre damit geplagt,
    jetzt haben wir unser Soll erfüllt
    und lassen das einmal
    und versuchen uns mit anderen Dingen zu beschäftigen.
    Das erscheint mir als eine Absurdität.
    Unter dieser Prämisse wäre es vollkommen unmöglich,
    sich irgendwelche Gedanken zu machen
    über den deutsch-französischen Krieg von 1870/71
    oder was mein Großvater an der Siegfriedlinie erlebt hat im Ersten Weltkrieg.
    Was in der Vergangenheit liegt,
    liegt alles in der gleichen Entfernung zu unserer Existenz heute.