Schriftsteller

. . . die lückenlose Amnesie hingegen,
obschon zweifellos eine für unsereinen gar nicht zu ermessende Belastung,
gewährt einen gewissen Schutz,
den nicht leicht aufgibt,
wer ihm das Weiterleben verdankt.




Erinnerungsembargo



Ich möchte zu ihnen hinabsteigen
und finde den Weg nicht
(Sinn und Form S. 226ff.)



Wikipedia schreibt:
"Der anonyme, 1921 geborene Ich-Erzähler ist einer von wenigen Überlebenden eines namenlosen Ghettos. (Becker wuchs im Ghetto von Łódź - im Zweiten Weltkrieg auch Litzmannstadt genannt – auf. Das geschilderte Ghetto steht für das Beispiel eines Ghettos allgemein.) Er erzählt im Jahre 1967, um seine eigene Vergangenheit zu bewältigen, nach vielen vergeblichen Versuchen das erste Mal die vollständige Geschichte seines Freundes Jakob Heym, mit dem er sich zeitgleich im Ghetto befunden hatte. Die Geschehnisse schildert er aus eigener Erinnerung oder anhand von Recherchen, Informationslücken füllt er mit Gedanken und „möglichen“ Geschehnissen.
Personen, Situationen oder Orte werden wechselweise aus erinnernder Ich-Perspektive und als Nacherzählung der vielfältigen Berichte – oft mit einem Wechsel in eine personale Erzählweise und fiktiven Ergänzungen – dargestellt. So schildert der Erzähler z. B. das, was er selbst dachte, als Herschel Schtamm sein Leben aufs Spiel setzt, indem er den im Zug sitzenden Deportierten die Nachricht vom raschen Vorrücken der Russen überbringt: „… ich weiß nicht warum, aber denke in diesem Augenblick an Chana" Auch erzählt er von seinen Recherchen, die er zu diesem Roman angestellt hat. Zudem stellt er dem Leser zwei verschiedene Enden zur Verfügung, weil ihm die Wahrheit (die letztliche Deportation der Juden aus dem Ghetto), vor allem im Kontext seiner Geschichte, nicht gefällt."

Sebald eröffnet, wie Schütte schreibt, mit der Generalkritik an Jurek Beckers Werk, insbesondere an "Jakob der Lügner" seine folgenreiche polemische Phase der 1990er Jahre.
Er bekennt in dem Text von 1992, den niemand annimmt, seit 1970 Vorurteile gegen Becker gehegt zu haben.
In "Sinn und Form" wird er erst 2010 veröffentlicht.


Um die Vorurteile zu revidieren, die ihm die erste Lektüre verleideten, nimmt sich Sebald 1992 Beckers Bücher nochmals vor - und findet seine Vorurteile aber bestätigt.

Darf - und kann - ein Autor schreiben, dessen Werk unter einem Erinnerungsbargo steht, wie er selbst darlegt?
"Ich kann", schreibt Becker in einem Band über Łódź "mich an nichts erinnern. ... Dennoch habe ich Geschichten über Gettos geschrieben, als wäre ich ein Fachmann. Vielleicht habe ich gedacht, wenn ich nur lange genug schreibe, werden die Erinnerungen schon kommen. Vielleicht habe ich irgendwann auch angefangen, manche meiner Erfindungen für Erinnerungen zu halten. Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so schwerer kommt sie dir vor, und um so ungeduldiger wirst du, das Ding endlich zu öffnen."




1. Falscher Realismus
Jurek Becker hat über die Jahre hinweg eine Reihe von Büchern geschrieben, von denen die meisten hauptsächlich befaßt sind mit den Auswirkungen, die die Verfolgung der Juden zeitigte auch noch in denen, die ihr entkamen, beziehungsweise weiterhin zeitigt im Leben der Nachgeborenen, mit einem Themenbereich also, dem die bürgerliche oder, besser gesagt, kleinbürgerliche deutsche Nachkriegsliteratur mit erstaunlicher Umsichtigkeit ausgewichen ist, wahrscheinlich weil mit den überlebenden Juden irgendwie noch schwerer umzugehen war als mit den toten. Da mir diese Zusammenhänge des längeren schon bewußt sind und da ich selber, wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt herkommend, mich in zunehmendem Maße beschäftige mit dem, was Beckers Geschichten bewegt, wurde es mir immer verwunderlicher, warum ich meine seinerzeit aufgegebene Lektüre nicht wieder aufnehmen wollte. Es hatte, so versuchte ich mir Rechenschaft zu geben, etwas zu tun mit Beckers falschem Realismus, mit dieser mir an der sogenannten DDR-Literatur seit jeher schon zuwider gewesenen umgangssprachlichen Leichtfertigkeit.



2. Fehlende erzählersiche Genauigkeit
... versucht Hage sein positives Urteil zu qualifizieren, wenn er zu »Bronsteins Kinder« anmerkt, daß sich aufgrund der von ihm apostrophierten Geschliffenheit und Präzision des Beckerschen Stils »beim Leser Identifikation weder mit dem Vater noch mit dem Sohn einstellen will«. Diese Konjektur halte ich für verkehrt, einmal weil Becker, wie noch zu zeigen sein wird, keineswegs mit vorbildlicher erzählerischer Genauigkeit operiert, und zum andern, weil es auf die Möglichkeit der Identifikation in erster Linie ohnehin nicht ankommt. Weitaus genauer zu treffen scheint mir eine zweite diagnostische These Hages, nämlich daß Becker sich vollständig heraushält aus den von ihm erzählten Geschichten. »Das ist seine Stärke«, schreibt Hage, »und doch nicht nur.« Die etwas ausweichende Phrase 'und doch nicht nur' vertritt die Stelle des entgegengesetzten Begriffs der Schwäche. Einmal hervorgehoben, hätten die negativen Implikationen von Beckers Distanziertheit genauer umrissen und erläutert werden müssen. Hage bleibt die Erklärung schuldig.



3. Faktische und emotionale Absenz des Autors
Bereits in »Jakob der Lügner«, einem Buch, von dem man annehmen müßte (und häufig angenommen hat), daß es zurückgeht auf die frühen Erfahrungen seines Autors, ist Becker nirgends anzutreffen. Und daß der vorgeschobene Erzähler, Überlebender des Gettos und der Deportation, die Stelle des Autors in einer der Schwierigkeit seines Amtes angemessenen Weise vertritt, das läßt am Text sich nicht zeigen, denn das erzählende Ich bleibt eine blasse Figur, die kaum nur den fiktiven Status der übrigen fiktiven Gestalten erreicht und der man die ihr eingangs als Charakteristikum und Legitimation zugeschriebene, später aber nicht weiter reflektierte Erfahrung extremen Leids nicht abnimmt.



4. Zweifel an der Authenzität
Verdächtig oft und ausführlich muß der Erzähler uns auch auseinandersetzen, wie er über die Ereignisse, von denen er berichtet, so genau Bescheid wissen kann - ganz als antizipiere er den Zweifel des Lesers an seiner Authentizität. So beispielsweise läßt Becker den Erzähler in einem zweiseitigen Exkurs auf das umständlichste klarstellen, weshalb er so genau darüber im Bilde ist, daß der Dr. Kirschbaum sich in dem Gestapowagen, in dem er, der Erzähler, selber nicht war, mit einer Giftkapsel ums Leben gebracht hat. Diese Art von Legitimationsmanöver ist, auch bei ironischer Handhabung, bezeichnend für eine Erzählhaltung, der es an Glaubwürdigkeit gebricht, weil der Erzähler - aufgrund des unverbindlichen Verhältnisses von Autor und Text - in der von ihm erzählten Geschichte aller gegenteiligen Behauptungen zum Trotz einfach nicht vorkommt.



5. Undurchsichtige Beziehung zum Leser
Nicht weniger undurchsichtig sind die Beziehungen des Erzählers zu seiner präsumtiven Leserschaft. Schon tausendmal, so äußert er gleich zu Beginn seines Berichts, habe er versucht, seine verfluchte Geschichte loszuwerden. Immer vergebens, denn entweder habe er Fehler gemacht beim Erzählen dieser seiner Geschichte oder »es waren nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte«. (»Bronsteins Kinder«) Heißt das, daß in dem vollendeten Text, der uns vorliegt, keine Fehler gemacht, daß die richtigen Zuhörer gefunden worden sind, daß am Ende gar das deutsche Lesepublikum das richtige ist für Beckers Erzähler, und wenn nicht, für wen hat er dann seine Geschichte aufgeschrieben?



6. Becker bezieht nirgends Position
Becker bezieht nirgends in seinen Büchern eine exponierte Position. Die Radikalität der subjektiven Reaktion, die Kompromißlosigkeit Levis oder Amérys sind ihm offenbar fremd. Sorgsam hält er sich aus allem heraus, wohlweislich verwahrt bleiben seine Gedanken und Gefühle. Daß der Mangel an persönlicher Präsenz in Beckers Werk nicht aufgewogen wird durch ein Übergewicht an Wirklichkeit, wie es in Anbetracht der Erzählgegenstände vielleicht zu erwarten wäre, vergrößert nur noch das Defizit. »Jakob der Lügner« ist keine Chronik, in der der Autor das Getto, in welchem er seine Kindheit zubringen mußte, beschrieben und dort vorgefallene Ereignisse verzeichnet hätte. »Jakob der Lügner«, das läßt sich anders nicht sagen, ist ein melodramatischer Genreroman, und was dieser Roman uns vor Augen führt, ist nicht das Getto von Łódź, sondern, wie der Erzähler gelegentlich einmal bemerkt, »unser Städtchen«.

... eine Art von Musicalszenerie, in der an Versatzstücken des Massenelends eben nur das und nur soviel herbeigeschafft wird, als mit einer im menschlichen Sinne 'intakten' Geschichte zu vereinbaren ist.



7. Falsches Erinnerungsmodell
Das Erinnerungsmodell, das dem Getto-Roman Beckers zugrunde liegt, ist ein falsches, von nostalgischer Traurigkeit überglänztes. Die KLG-Autoren vertreten die These, daß die jüdische bzw. jiddische Tradition mit hereingespielt haben mag in Beckers gutes Erzählen. Was das betrifft, will mir scheinen, daß der verklärende Blick - verständlich, wenn ein Ausgewanderter ihn zurückwirft auf das Stetl von einstmals - die Sichtweise eines aus Litzmannstadt Davongekommenen nicht sein kann. Beckers erstes Buch über Jakob weist kaum eine Spur auf von Verstörung. Daß es dem deutschen Durchschnittsleser das Getto kommensurabel macht, ist das Maß seines Mißlingens.



8. Konstitutionelle Schwächen
Die konstitutionellen Schwächen der Romane Beckers lassen überdies das Erzählen als solches nicht unberührt. Fortwährend ertappt man als Leser den Autor beim Aufziehen des Uhrwerks seiner Geschichte. Manchmal ist es fast, als sei die mechanische Manipulation des Handlungsverlaufs ein Ersatz für die mangelnde moralische Intervention. Und wie so oft, wenn der Romanregulator ratternd am Ablaufen ist, werden einem die Defekte eines leicht ins Überflüssige ausufernden Genres mit besonderer Deutlichkeit vorgeführt. Funktionslose Figuren treten auf, wie zum Beispiel Wanda, die Freundin von Bronsteins Mitverschwörer Kenik, an der dem jungen Bronstein auffällt, daß sie die größte Zahnlücke »besaß« (sic), »die ich je gesehen habe«. Zweifellos wird durch diese Zahnlücke ein gewisser effet de réel erzielt, auch wenn weder sie, die Zahnlücke, noch Wanda im weiteren Verlauf der Geschichte irgendeine Rolle spielen, wie es für die Ökonomie des »Boxers« ja auch keinen Zutrag bringt, wenn uns mitgeteilt wird, daß der russische Offizier, mit dem Arno Blank zu tun hat, »unglaublich heiß trinken konnte«, oder daß der Arzt in dem Kinderheim, in dem Arnos Sohn untergebracht ist, am späten Vormittag im Pyjama an seine Zimmertür kommt, weil er Nachtdienst hatte und also, logischerweise, ausschlafen mußte - ein ganz und gar redundantes Detail ...



9. Stilistische Ausrutscher
Was ist das, ein Schrei »von der Sorte (...) wie sie in Liebschaften vorkommen«? Was sollen wir uns denken, wenn es Hans beim ersten Anblick des im Gartenhaus gefangengesetzten und malträtierten Nazis durch den Kopf geht, daß er solchen Leuten bisher nur »auf Fotos und in strengen Filmen« begegnet sei? Was bedeutet es, wenn Martha sich »auf vier zertretene Grashalme« setzt? Oder wenn auf der anderen Straßenseite ein großer Hund »im Fußgängerschritt« vorbeigeht? Es mag arg beckmesserisch erscheinen, wenn man solche Patzer eigens herausstellt. Stilfehler lassen sich schließlich, stochert man nur lang genug in einem Text herum, überall finden, auch bei Autoren mit ruhmvoll sicherer Hand. Gewiß, aber die Frequenz, mit der Becker ungenaue und peinliche Formulierungen unterlaufen, ist doch wohl ein Indiz dafür, daß seine Bücher irgendwo mitbestimmt werden von einer Art mauvaise foi, die ja bekanntlich bis in die Feinstruktur eines Schriftwerks hinein (auch das ließe bei Becker sich zeigen) ihre Schäden anrichtet.



10. Anschein der Erfahrungslosigkeit
Im »Lexikon zur Gegenwartsliteratur« wird angemerkt, daß weder »Jakob der Lügner« noch »Der Boxer« denkbar wären ohne die Erfahrungen, die Becker während seiner Kindheit im Getto und im Konzentrationslager gemacht hat. Ich glaube eher, daß die Bücher Beckers auch von einem von der Verfolgung nicht Betroffenen hätten geschrieben werden können. Sie erwecken geradezu den Eindruck von Erfahrungslosigkeit, insbesondere wenn man sie vergleicht mit dem im vergangenen Jahr im Locker Verlag erschienenen Bild- und Dokumentationsband über das Getto von Łódź (»Unser einziger Weg ist Arbeit. Das Getto in Łódź 1940-1944«).

Daß im Getto von Łódź, auf einer bebauten Fläche von zirka fünf Quadratkilometern zeitweise bis zu 170.000 und kaum je weniger als 100.000 Menschen unter horrenden Bedingungen hausten; die bürokratische Logistik des arbeitsteiligen Vernichtungsverfahrens, diese unglaubliche Zweckrationalität der Deutschen, für die das Kollektiv der Juden ein bis auf die physische Substanz »auszubeutendes Kaptal darstellt« (Aktennotiz des Stadtoberinspekteurs an den Bürgermeister Dr. Marder vom 4.12.1940, in: »Unser einziger Weg ist Arbeit«); die Arbeitsverhältnisse in den Fabrikanlagen und Manufakturen von Łódź, wo Tausende von Kindern ab dem achten und neunten Lebensjahr in die Produktion gepreßt wurden und schaffend zugrunde gingen; die präviktorianische Organisationsform der Arbeit im Getto; der ganze Zusammenhang zwischen der Ur- und Entwicklungsgeschichte unserer Industrie und der sukzessiven und systematischen Ausrottung von Leben - all das hätte ein Thema sein können für einen Autor, dem die Grundsätze des dialektischen Materialismus gewiß nicht unbekannt waren. Um so mehr wäre ein derartiger Ansatz zu erwarten gewesen, als in der deutschen Literatur der späteren sechziger Jahre bei Peter Weiss und bald darauf bei Alexander Kluge der Prozeß der Verschrottung durch Arbeit als Paradigma der kapitalistischen Wirtschaft bereits reflektiert wird.

Insbesondere Kluge gelangt zu weitreichenden Einsichten in die Art und Weise, in der die Spezies Mensch es versteht, Unglück in unvorstellbaren Dimensionen zu organisieren. Levi verfolgt ähnliche Gedanken in seinem letzten Buch »I sommersi e i salvati«, wo er gegen Ende des dritten Kapitels schreibt, daß der Mensch imstande sei, eine endlose Ungeheuerlichkeit von Schmerz und Pein sozusagen zu konstruieren. Und Schmerz, so fügt er hinzu, ist die einzige Kraft, die aus dem Nichts geschaffen werden kann. Das Arbeitslager, wie es von den Deutschen eingerichtet wurde, wäre somit die idealtypische Organisationsform der Industrie. Dergleichen Verbindungslinien werden in Beckers Büchern auch nicht ansatzweise gezogen. Und wie die objektiven Zusammenhänge und Determinanten des Grauens ausgespart werden, so zeichnet sich nirgends der Reflex ab von dessen subjektiver Empfindung. Nicht der geringste Hinweis findet sich in »Jakob der Lügner« auf die sequentielle Traumatisierung des hier schreibenden Subjekts durch die Getto- und Lagererfahrung. Wenn wirkliche Erinnerungsleistung, wie Dirk Baecker in einer Arbeit über die »Form des Gedächtnisses« vermutet, definiert werden kann als ein Versuch, »die Momente der Gefährdung als eigentliche Momente der Selbstwerdung« nochmals zurückzuholen, dann findet eine wirkliche Erinnerungsleistung in den Büchern Beckers nicht statt, wahrscheinlich weil die besondere Gefahr, um die es hier geht, weiterhin virulent ist und die Erinnerung an sie, der verflossenen Zeit zum Trotz, weniger mit Selbstwerdung als mit Selbstauslöschung in Verbindung gebracht würde.

Conclusio
Für Sebald ist all das Beleg dafür, dass Beckers Romane in vorbewußter Absicht so angelegt sind, daß sie das Aufsteigen der Erinnerung unterbinden und das mangelnde Interesse am und im Text Mittel zur Selbstbehauptung gegenüber einer Wirklichkeit ist, die noch heute, ein halbes Jahrhundert nach den tatsächlichen Ereignissen, das sich erinnernde Subjekt mit ihrer zerstörerischen Gewalt einholt.



Nachbemerkung:
Übersieht W. G. Sebald mit dem folgenden kritischen Splitter im Auge des "Boxers" womöglich den Balken im Auge von "Austerlitz"?

Es entbehrt zum Beispiel jeder inneren Logik, wie der Text mit dem Dialog umgeht. Daß Rede und Gegenrede zwischen Arno und dem Erzähler als solche wiedergegeben werden (sagte ich, sagt er), mag noch angehen, aber daß Ereignisse aus der Vergangenheit, die Arno dem Erzähler gewiß nicht in dialogischer Form mitgeteilt hat, nach eben diesem Raster zubereitet werden, das ist erzähltechnisch nicht plausibel. Die Dialoge zwischen Arno und Paula, Arno und Kenik, Arno und Ostwald, die einen Gutteil des Romantexts ausmachen, wirken deshalb wie schlechte Erfindungen des Erzählers.





Jurek Becker

1937 - 1997, Jude, 1939 mit seinen Eltern ins Ghetto von Lódz deportiert, 1944 mit seiner Mutter über das KZ Ravensbrück nach Sachsenhausen bzw. ins KZ-Außenlager Königs-Wusterhausen verlegt.
Sein Vater findet ihn dort mit Hilfe einer jüdisch-amerikanischen Suchorganisation wieder. Die Mutter – bereits in Freiheit – stirbt an Unterernährung, die Nazis bringen ungefähr 20 weitere Familienmitglieder um. 1945 zieht Becker mit seinem Vater nach Ost-Berlin, wo er unter anderem in Wohngemeinschaft mit Manfred Krug lebt, den er seit 1957 kennt.

1955 Abitur, zwei Jahre freiwillig zur Kasernierten Volkspolizei, Mitglied der FDJ. 1957 Studium Philosophie, Mitglied der SED. 1960 lässt sich Becker vom Studium beurlauben, um Entlassung durch Universität zuvorzukommen, die seine häufigen "disziplinarischen Verstöße" und seine "Haltung" missbilligt und als für "eines Studenten einer sozialistischen Universität" unwürdig erachtet.

Ab 1960 Film-Szenariums-Studium, mehrere Kabarett-Texte. 1962 Drehbuchautor bei der DEFA, Fernsehspiele und Drehbücher. 1968 Drehbuch Jakob der Lügner abgelehnt, arbeitet es zu seinem ersten Roman um, 1969 erschienen, mehrfach verfilmt.
1976 unterzeichnet Becker mit elf weiteren Schriftstellern Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, was die DDR mit Ausschluss aus der SED und dem Vorstand des Schriftstellerverbands ahndet.
1977 geht Becker aus Protest gegen den Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband mit Genehmigung der DDR-Behörden in den Westen, da seine Bücher in der DDR nicht mehr verlegt und Filmprojekte abgelehnt werden.

Freier Schriftsteller, Drehbuchautor und Gastprofessor.

Nachtrag
Die Idee zu "Jakob der Lügner" hat Becker von seinem Vater. Dieser erzählt von einem jüdischen Ghettoinsassen, der tatsächlich ein Radio besaß und Nachrichten verbreitete, verraten und ermordet wird. Max Becker ist, nachdem er den Erstlingsroman seines Sohnes zu lesen bekommt, so empört, dass er für einige Zeit jeglichen Kontakt zu seinem Sohn abbricht.
Auf die Frage, welche Enttäuschungen er im Westen erlebt habe, antwortet Becker, dass er sich plötzlich gezwungen sah, sich als Jude zu fühlen; dies habe so gut wie keine Rolle in der DDR gespielt.
"Wenn es keinen Antisemitismus geben würde - denkst du, ich hätte mich auch nur eine Sekunde als Jude gefühlt?"