Was wären wir ohne Erinnerung?
Wir wären nicht imstande,
die einfachsten Gedanken zu ordnen,
das gefühlvollste Herz verlöre die Fähigkeit,
einem anderen sich zuzuneigen,
unser Dasein bestünde nur aus einer endlosen Abfolge sinnloser Augenblicke,
und es gäbe nicht die Spur einer Vergangenheit mehr.
Was für ein Elend ist nicht unser Leben!
So voller verkehrter Einbildungen ist es,
so vergeblich,
dass es beinahe nichts ist als der Schatten der Chimären,
die unser Gedächtnis entlässt.


Nachwort
(mit Gedanken von Heike Gfrereis und Ellen Strittmater)

2008 suchen Sebaldianer im Nachlass den Menschen Sebald - vergeblich. Nach dem Schock der Trost:



Des Autors Leben   i s t   Literatur, der er etwas ganz Neues, nie Dagewesenes einhaucht: Der gelernte Germanist verwandelt die analytisch-interpretatorischen Methoden seines Metiers in poetische Verfahren. Der Blick auf sein Werk ist der Blick auf alle Literatur, auf die großen kulturtheoretischen und literatur-wissenschaftlichen Diskurse. Sebald lesen heißt Dichter erraten und lesen, Kafka und Robert Walser, Stifter und Jean Paul, Goethe und Hölderlin, Benjamin und Adorno. Erinnerungen an Lektüren werden wach, er erweckt sie zum Leben. Biografien, historische Namen, reale Orte und prägnante Zeitangaben sind die Schatten der Geschöpfe aus dem fiktiven Reich Hades' und aller Literatur. Wer kann den Ich-Erzähler trennen vom Autor, der zu den Daten Dokumente und Bilder liefert, alle realen und fiktiven Personen führen ein Leben nach dem Buch: Wir Leser schreiben weiter.



Sebald lesen heißt aber auch: Brennpunkte europäischer Geschichte - bis aus Fernost - aufleuchten sehen, aus illusionistischer Perspektive hautnah im Intimsten.

Wer ein Sebald-Buch aufschlägt, sich einlässt, wird hineingezogen in eine andere Welt, einen zweiten Raum, eine vierte Dimension. Die Figuren sehen einen an, Sätze tauchen auf, Worte stehen da und gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Wir legen das Buch weg, sehen Schatten, die vor und hinter ihm weghuschen, schlagen das Buch wieder auf, nicht selten geistern Figuren in ihm durch mehr als seine Blätter hindurch.

Ein Schauspieldirektor (Thomas Oberender) sagt:
Mich hat die Begegnung mit dem Autor W. G. Sebald im existentiellen Sinne gerettet, oder sagen wir besser: gestärkt. Daniel Kehlmann hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Und ich habe innerhalb dieser sehr anstrengenden zweieinhalb Monate alles gelesen, was er je geschrieben hat. Ich fand darin für mich ein inneres Programm. Sebald ist ein Mensch, der sehr lange die Kraft hatte, am Rand zu stehen. Mit zwanzig ist er aus Deutschland nach England emigriert, wurde Professor in Norwich, lebte in einem alten Pfarrhaus und verwandelte die Wildnis um ihn herum in einen Garten. Er war ein begnadeter Analytiker und Dichter, der die Grenzen zwischen Fiktion und dokumentarischem Material aufhob. Lesend, reisend, schreibend wurde er zum Chronisten der Verluste, des Prinzips der Verbrennung, auf dem unsere Kultur beruht. Und gleichzeitig konnte er, vom Rande her, den Menschen und der Natur ihre Würde und Schönheit zurückerstatten. Er war ein moralischer Mensch...
Seine Bücher haben mir die Kraft gegeben, in einer schwierigen Situation meine exzentrische Position zu halten. Irgendwann habe ich wirklich ganz simpel gedacht: Du musst dich wehren. Aber ich habe mir auch gesagt: Das darf in deinem Leben nicht diese Rolle spielen.



Was ein Forum wie dieses einem lieb und teuer werden lässt, ist das stille Einvernehmen der vielen Wenigen, die aber mehr werden.

Sebald lesen
heißt: sich einlassen auf eine andere Wahrnehmung, Perspektive, Gangart, Sprache. Sebald lesen bedeutet, uns die Frage zu stellen - besser: uns der Frage zu stellen, wieso wir überhaupt lesen (sofern es nicht sprödem Informationsprozess dient).
Anwort: Sebald bremst uns ab auf Zeitlupe, ihn schnell zu lesen, erscheint sinnlos, denn er fordert Zeit, sich auf sein schweifendes, geduldiges Erzähltempo einzulassen. Der ideale Sebaldleser ist Buchseitenflaneur. Sebald ist Therapie, Therapie von funktionsorientierter Aufnahme von Geschriebenem, wie sie aus unserem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken ist, schon gar nicht seit dem Quantensprung der Elektrifizierung der Kommunikation: Die Welt - eine Textkrake ...

Ich las am Wassergraben der Festung von
Breendonk das fünfzehnte Kapitel von
Heshel's Kingdom
zu Ende,
und machte mich dann auf den Rückweg
nach Mechelen,
wo ich anlangte,
als es Abend wurde.







zuletzt

werden bloß soviel
überbleiben als
herumsitzen können
um eine Trommel




Blogs (Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch):





















Über allen interpretatorischen Versuchen, Beiträgen, Foren, Explikationen, Blogs, "Searching for Sebald" und "Understanding W.G.Sebald" aber steht seine geheime Auslegung alles literarisch von ihm selbst voller Blind- und Bildstellen Geschriebenen:

Man lese sein Essay Eine kleine Traverse Das poetische Werk Ernst Herbecks (Die Beschreibung des Unglücks S. 131ff) und setze anstelle des "ärmsten Poeten" W.G. Sebald!

Niemand könnte das eigene Programm besser formulieren als er, wenn Sebald über den Stil des Schachspielers, Schmetterlingsmannes und Geisterbeschwörers, der immer auftaucht, unvermutet, überall im Werk, schreibt:

Das Muster auf dem Boden des Badezimmers von Wyra, der weiße Dampf über der Wanne, in den der Knabe von seinem Sitz in dem dämmrigen Klosett traumverloren hineinsieht, die Wölbung des Türrahmens, gegen den er seine Stirne anlehnt, plötzlich, mit ein paar wenigen richtig gesetzten Worten, wird der ganze Kindheitskosmos vor unseren Augen hervorgezaubert wie aus dem Inneren eines schwarzen Zylinders. Eine große Paraffinlampe auf einem Alabasterfuß wird durch das Dunkel gesteuert. Sanft schwebt sie dahin, und sanft senkt sie sich nieder. Die weiß behandschuhte Hand eines Bedienten, die jetzt die Hand der Erinnerung ist, setzt sie auf ihren Platz in der Mitte des runden Tischs. Und also nehmen wir teil an der von Nabokov veranstalteten Séance, und fremdvertraute Personen und Gegenstände treten hervor, umstrahlt von jener claritas, die seit dem heiligen Thomas von Aquin als das Kennzeichen gilt einer wahren Epiphanie. Solch visionären Augenblicken sich entgegenzuschreiben war auch für Nabokov ein überaus mühevolles Geschäft.

Nabokov


Stundenlang mußte oft an einer knappen Folge von Worten gearbeitet werden, bis der Rhythmus bis in die letzte Kadenz stimmte, die Erdenschwere überwunden war und der Autor, selber nun gewissermaßen entleibt, über die prekäre Konstruktion seiner Buchstabenbrücke das jenseitige Ufer erreichen konnte. Wo dieses Unternehmen aber gelingt, da treibt man auf der Strömung der fort und fort laufenden Zeilen hinein in ein leuchtendes, wie alles Wunderbare leicht surreal angehauchtes Reich, steht, sozusagen, unmittelbar vor der Offenbarung einer absoluten Wahrheit, "blendend", wie es am Ende des Wahren Lebens des Sebastian Knight heißt, "in seiner Pracht und beinahe gemütlich in seiner perfekten Einfachheit". Um etwas derartig Schönes ins Werk zu setzen, dazu bedarf es, nach Nabokov und nach der messianischen Theorie der Erlösung, nicht einer großen Veranstaltung, sondern nur eines winzigen geistigen Rucks, der unsere in unseren Köpfen eingesperrten und dauernd im Kreis gehenden Gedanken entläßt in ein Universum, in dem, wie in einem ordentlichen Satz, alles am rechten Ort und gut aufgehoben ist. (Campo Santo S. 189f)

Genial die prägnante Charakterisierung des Sebald-Stils durch seinen Freund



Jan Peter Tripp:

"... das hat mich immer so fasziniert an all seinen Büchern, dieses ständige Ineinanderfließen der Zeit und der auf den ersten Blick unzuvereinbarenden Geschehnisse. In den Romanen gibt es dann eine unglaubliche Transparenz, also dass plötzich drei, vier Bilder wie Neagtive übereinanderliegen; und dadurch kommt ein unglaublicher Reichtum und eine Tiefenschärfe hinein, wo wir sonst immer kontinuierliche opake Schilderungen haben, die diese Transparenz, dieses Öffenen der Hintergründe gar nicht aufweisen."




Je mehr Bilder aus der Vergangenheit
ich versammle,
sagte ich,
desto unwahrscheinlicher wird es mir,
daß die Vergangenheit auf diese Weise
sich abgespielt haben soll,
denn nichts an ihr sei normal zu nennen,
sondern es sei das allermeiste lächerlich,
und wenn es nicht lächerlich sei,
dann sei es zum Entsetzen.




In eigener Sache:
Wäre die Sebald-website eine (erfolgreiche) Dissertation, was sie aber nicht ist, müsste der Titel aberkannt werden: auf der Seite findet sich eine erkleckliche Zahl (wunderbarer) Zitate, ohne - getreu dem Vorbild des Subjekts wie Objekts dieser Seite - Quellenangabe. Falls sich hierdurch jemand beeinträchtigt fühlen sollte, wird um Mitteilung gebeten, auf Wunsch wird indiziert oder auch das Zitat entfernt!

PS
Vor kurzem erreichte mich ein Brief, wo u. a. das zu lesen war:
"Lieber Herr Wirth,
ich bin einer von vielen, die für Ihre Sebald-Webseite sehr dankbar sind. Schon als ich als junger Student Sebald zu lesen anfing, habe ich mich mit Vergnügen in ihrer rhizomatischen Struktur verloren! Sie hat sich wirklich als unbezahlbare Ressource erwiesen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass es einen Sebald-Liebhaber oder -Forscher gibt, der nicht aus dieser unvergleichbaren Quelle geschöpft hat! (Und wenn ihre “unsystematische” Beschaffenheit im Metzler-Handbuch kritisiert wird, dann finde ich das einfach unmusikalisch - im Gegenteil reflektiert ihr labyrintisch-enzyklopädischer, hyperlinkartiger Aufbau ja gerade das besondere Gewebe der sebaldschen Erzählweise.)"

Vielen Dank für die Blumen lieber Surfer!