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| Aufgewacht bin ich erst mit dem Gefühl, daß der Zug, der sich so lang mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Täler gewunden hatte, nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hinunterstürzte. Ich riß das Fenster herab. Krachend schlugen mir Nebelfetzen entgegen. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Bläulichschwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran. Ich beugte mich hinaus und suchte vergebens ihre Gipfel. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Kopf, und damit dachte ich natürlich sogleich an die Zerstörung, die im Friaulischen vor wenigen Monaten erst sich zugetragen hatte. Nach und nach brachte das Morgengrauen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, in sich zusammengesunkenes Bauwerk, Schutt- und Schotterhalden und hie und da kleine Zeltdörfer schemenhaft an den Tag. Es brannte fast nirgends ein Licht in der ganzen Gegend. Die aus den Alpentälern herauskommenden niedrigen Wolken, die sich hinstreckten über das verwüstete Gelände, verbanden sich in meiner Vorstellung mit einem Bild Tiepolos, das ich oft lange betrachtet habe. Es zeigt die von der Pest heimgesuchte Stadt Este, wie sie, äußerlich unversehrt, in der Ebene liegt. Den Hintergrund bildet ein Gebirgszug mit einem qualmenden Gipfel. Das über das Bild ausgebreitete Licht ist gemalt, so scheint es, durch einen Schleier von Asche. Fast glaubt man, es sei dieses Licht, das die Menschen hinausgetrieben hat aus der Stadt auf das freie Feld, wo sie, nach einer Zeit des Herumtaumelns, von der aus ihrem Inwendigen hervordrängenden Seuche vollends niedergestreckt wurden. In der vorderen Mitte des Bildes liegt eine pesttote Mutter, das lebende Kind noch am Arm. Zur Linken, knieend, die heilige Thekla, in ihrer Fürbitte für die Bewohner der Stadt, das Gesicht aufwärts gekehrt, wo die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren und uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff geben von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht.
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Dabei ist mir, möglicherweise ausgelöst von den armseligen Bildern in der Krummenbacher Kapelle, Tiepolo wieder in den Sinn gekommen und die von mir seit langem gehegte Vorstellung, daß er, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, sich in Zirl entschlossen hat, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen. Und ich sah den Tiepolo, ![]() der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritztem Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen in das |
Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. Mit solcherlei Phantasien im Kopf und im Eingedenken auch an den Krummenbacher Maler, der vielleicht in der Winterszeit desselbigen Jahres an seinen vierzehn kleinen Kreuzwegstationen sich nicht weniger mühte als Tiepolo an seinem großen Deckengemälde, bin ich dann, es wird schon gegen drei Uhr gewesen sein, durch die Wiesen unterhalb des Sorgschrofen und der Sorgalpe gegangen, bis ich kurz vor der Pfeiffermühle auf die Straße gelangte. |
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Später standen wir noch im Treppenhaus der Residenz, und ich starrte an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für mich zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes von Tiepolo empor, wo unter einem bis in die höchsten Höhen sich aufwölbenden Himmel die Tiere und Menschen der vier Weltgegenden in einem phantastischen Leibergetümmel versam-melt sind. Seltsamerweise, sagte Ferber, sei der mit dem Onkel Leo in Würzburg verbrachte Nachmittag ihm vor wenigen Monaten erst wieder in den Sinn gekommen, als er beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbands über das Werk Tiepolos lange sich nicht habe losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Fresko-malerei, von den darin dargestellten hellen und dunklen Schönheiten, von dem knieenden Mohr mit dem Sonnenschirm und der wunderbaren Amazonenheldin mit dem Federputz auf dem Kopf. Einen ganzen Abend bin ich, sagte Ferber, über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie hineinzusehen. |
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Die Würzburger Residenz, außergewöhnliches einheitliches Barockschloss, einzigartig in seiner Originalität,
stellt mit seinem ehrgeizigen Bauprogramm und der internationalen Zusammensetzung des Baubüros eine Synthese des europäischen Barock
dar. Mit kurzen Unterbrechungen in knapp einer Generation von Grund auf neu errichtet,
reicht sein architekturgeschichtlicher Hintergrund von Wien bis Paris, von Genua und Venedig bis Amsterdam, ein
Palast- und Sakralbau als Gesamtkunstwerk von erstaunlicher Universalität.
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Neumanns unvergleichliche Raumfolge – Vestibül, Treppenhaus, Weißer Saal, Kaisersaal -, eine der großartigsten je im Schlossbau ersonnen, kongenial ausgestattet, bringt mit der schöpferischen Gemeinschaftsleistung das »Würzburger Rokoko« hervor, die temperamentvollste Variante dieses Stils in Deutschland. ![]() Auftraggeber Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau ![]() Architekt Balthasar Neumann ![]() und der Künstler selbst: ![]() Giovanni Battista Tiepolo.
Tiepolo geboren 1696 in Venedig als Sohn eines Schiffers, macht die Malerlehre,
ist mit 21 Meister und feiert schnell Erfolge.
![]() 10.000 rheinische Gulden für den Kaisersaal, alle Materialien gestellt sowie freie Unterkunft und Logis bei Hofe, eine Summe weit über dem, was üblich. In seiner Heimat kann Tiepolo mit dem Vermögen sich ein glänzendes Leben leisten. Am 12. Dezember Ankunft in Würzburg, wo man sie fürstlich behandelt: 5-Zimmer-Wohnung am Hof, Tiepolo darf an der Kavalierstafel speisen. |
Tiepolo beendet die Fresken im Kaisersaal zur vollsten Befriedigung von Greiffenclau, sie schließen
sofort einen Vertrag für das Fresko im Treppenhaus, was weitere 15.000 Gulden einbringt, die höchste Bezahlung, die er
je in seinem Leben für ein einzelnes Werk erhält, jedoch angemessen für das größte Fresko überhaupt,
das er oder irgendein anderer Künstler je malt.
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Das Treppenhausfresko misst 19×32 m, mit einer Fläche von 677 m² ist es das größte zusammenhängende Deckenfresko der Welt. Das Gewölbe errichtet der damals junge und unbekannte Architekt Balthasar Neumann als oberen Abschluss des repräsentativen Treppenhauses.
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Im Zentrum des Deckengemäldes Sonnengott Apollo als Schirmherr der Künste, umgeben von weiteren Göttern als Verkörperung der Planeten,
Jahreszeiten und Monate. |
Während der junge Kontinent Amerika noch völlig unzivilisiert ist und die alten Kulturen Asiens und Afrikas sich erschöpft haben, präsentiert sich Europa in Gestalt des Würzburger Musenhofes als Hort der Künste und der wissenschaftlichen Studien. Tiepolo lässt das kleine Hochstift Würzburg im schönsten Licht erscheinen. |
Wild und vital ist Amerika! Eine barbusige Indianerin, eine Allegorie der America, sitzt, mit buntem Federschmuck auf dem Kopf auf einem riesigen Krokodil und ruft zur Jagd. Um sie herum eine tanzende, offenbar blutgierige Gesellschaft, abgeschlagene Köpfe weißer Männer zu ihren Füßen. |
Inmitten eines Markttreibens liegt träge die nackte Africa auf einem Dromedar, umgeben von Schwarzen, Orientalen und Europäern; demütig überbringt ihr ein Krieger Geschenke. |
Die Asia reitet bekleidet auf einem prächtig geschmückten Elefanten, auch sie ist Mittelpunkt einer wildbewegten Szenerie,
mit Hinweisen auf Asien als Geburtsstätte von Schrift und Wissenschaft. Alles ist üppig; mit Witz im Detail. |
Tiepolos Deckenfresko beschäftigt Interpreten und Wissenschaftler ohne Zahl, es gilt heute als eines der größten Kunstwerke des Abendlands. Das war nicht immer so, und jüngere Forschungen enthüllen höfische Funktion und ironische Untertöne des Kolossalgemäldes.
![]() Gerahmt durch den Bogen über dem Treppenaufgang, erscheint eine exotische Tier- und Menschengruppe, aus der eine bräunliche Frauenschönheit aufragt, im Federschmuck, mit bloßen Brüsten und wegweisender Gebärde. Beim gemessenen Gang hinauf - rasches Treppensteigen entspräche nicht dem Protokoll - weitet sich die Perspektive Schritt für Schritt. Wie in einem Film tauchen von rechts und links zusätzliche Gestalten auf, vor allem aber scheint der Himmel sich zu öffnen - ein dramatisch bewegtes Firmament in Hellblau, Rosa und Gewittergrau, von überirdischen Lichtwesen durchflattert. ![]() Dann, als würde die Einstellung abgeblendet, entschwindet das gemalte Getümmel; architektonische Raumelemente schieben sich ins Blickfeld. Erst die Kehrtwendung des Besuchers auf dem Treppenabsatz lässt, wie nach einem Schnitt, eine neue Episode beginnen: Die Randfiguren an der Deckenwölbung ordnen sich zu Triumphzügen in Richtung auf eine zentrale Szenerie, und über dieser schwebt, von Putten und allegorischen weiblichen Gestalten emporgetragen, das Bild des Souveräns. ![]()
Schon seinen Zeitgenossen mag es, vor zweieinhalb Jahrhunderten, merkwürdig vorgekommen sein, dass die prachtvolle Empfangskulisse weder Papst noch Kaiser noch König zu Diensten war, sondern nur einem Carl Philipp von Greiffenclau, Fürstbischof von Würzburg. Ausgerechnet dieser geistliche Duodezherrscher lässt sich in seiner Residenz eine beispiellose Apotheose des Absolutismus auf 677 Quadratmeter Gewölbefläche malen. Standesgenossen und Lehnsleute des Fürstbischofs müssen es beim offiziellen Entree als rauschendes, wenngleich minutenkurzes Schauspiel erlebt haben.
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Diese Herausforderung erlebt er in Würzburg. Keine Kirche und kein Palazzo, für die Tiepolo schon Altarbilder und Fresken gemalt hat, nimmt es an Dimension und künstlerischem Rang mit der Residenz der fränkischen Fürstbischöfe auf.
![]() Die Mitarbeit der Tiepolo-Söhne ist gefragt. Der Ältere, ![]() Giovanni Domenico
bei Ankunft in Würzburg 23, darf drei Wandfelder über Türen mit Szenen aus der frühen Kirchengeschichte schmücken - auf eigene Rechnung, aber möglichst doch, so ein Zeitgenosse, als "wahrhafte Kopie des Originals, nämlich des virtuosen Herrn Vaters".
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Verglichen mit dem Maler-Selbstporträt, wirkt das ovale Bildnis des Fürsten merkwürdig wesenlos.
Tiepolo macht sich, bei allem Respekt, über die Ideologie, die seiner Kunst zu Grunde liegt, auch ein bißchen lustig.
In spielerischer Leichtigkeit läßt er "die Brüchigkeit dieses ideellen Gebäudes" spüren.
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