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Kunst




Paul Delvaux:
Schlafende Venus

W.G. Sebald Die Ausgewanderten S. 264

Erst als ich Ende November 1989 in der Londoner Tate Gallery (ich war eigentlich gekommen, Delvaux' Schlafende Venus anzusehen) einem etwa vier auf fünf Fuß messenden Bild mich gegenüberfand, das die Signatur Ferbers trug und den für mich ebenso bedeutungsvollen wie unwahrscheinlichen Titel

G. I. on her Blue Candlewick Cover, (siehe Ferber )
erst dann begann Ferber in meinem Kopf wieder lebendig zu werden.

1856 öffnete ein gewisser Dr. Spitzner (wie einige seiner Kollegen auch, hatte sich Pierre Spitzner einen falschen Doktortitel zugelegt) im Pariser Pavillon de la Ruche (an der heutigen Place de la Republique) das "Große Museum der Anatomie und Ethnologie" - bald war seine Kollektion von Wachsfiguren, Skeletten und makabren Kuriositäten eine Attaktion und er ein wohlhabender Mann.
So etwas hatte die Welt bis dahin noch nicht gesehen: Neben Krüppeln und syphilitischen Kretins lagen Leichen mit herausquellendem Gedärm - Wesen wie aus der Phantasie eines Hieronymus Bosch. Ausgestellt waren da krebszerfressene Organe und monströs mißgebildete Embryos sowie eine Nachbildung von John Chriffort, 20 Jahre, ausgestattet mit drei Beinen, zwei Penes, beide zeugungsfähig.
Hunderttausende von Schaulustigen drängten sich in den folgenden 29 Jahren durch die Schauderschau, dann verließ der Monsieur le Docteur die Stadt und tingelte fortan mit seinem Gruselkabinett über die Jahrmärkte Europas - Paris war um eine Sehenswürdigkeit ärmer.

Das Spitzner-Museum, welches Delvaux in den frühen 1930er Jahren Anregungen für zahlreiche Bilder liefert und im Jahr 1943 sogar titelgebendes Thema eines seiner Hauptwerke ist, zählt zu den anatomischen-pathologischen Wachsfigurenkabinetten, die sich aus den entsprechenden Sonderabteilungen der Panoptiken entwickelt hatten.

Delvaux beschreibt es als ziemlich lange Hütte mit Samtvorhängen.
An einer Wand war eine Darstellung von Doktor Charcot, der eine hysterische Frau in Trance einem Auditorium von Wissenschaftlern und Studenten vorführte. Dieses Bild war umso beeindruckender, als es sehr realistisch gemalt war. Mitten im Eingang zum Museum saß die Kassiererin, umgeben von einem menschlichen Skelett und, mehr im Vordergrund, von einer mechanischen Puppe in einer Glasvitrine: die Schlafende Venus. An der anderen Wand hing eine Darstellung Doktor Pasteurs am Krankenbett eines Kindes.
Im Innern des Museums gab es eine Reihe ziemlich schrecklicher und dramatischer anatomischer Wachsabgüsse, an denen man die Schrecken der Syphilis und der Missbildung studieren konnte.

Und das alles mitten in der hektischen Fröhlichkeit der Kirmes. Dieser Kontrast war so erregend, dass ich tief beeindruckt war. Ich kann ihnen versichern, dass dies lange Zeit große Auswirkungen auf mein Leben gehabt hat.
Die erwähnte "Schlafende Venus", die Wachsfigur einer schönen jungen Frau, war Bestandteil vieler Wachsfigurenkabinette und zielte wie einige andere Exponate auch vor allem auf die Schaulust bzw. die Phantasien des männlichen Publikums. Eine besondere Variante, die ebenfalls bei Spitzner ausgestellt war, stellte die "Anatomische Venus" dar. Eine "Anatomische Venus" ließ sich zerlegen und ermöglichte so den Blick in das Innere des Körpers. Sie war oft das wertvollste Stück der Sammlung und wurde meist vom Besitzer persönlich vorgeführt.
Die Schlafende Venus aus Spitzners Panoptikum war ein immer wiederkehrendes Motiv bei Paul Delvaux:

Jede Schlafende Venus, die ich gemalt habe, hat dort ihren Ursprung. Sogar die, die in London in der Tate Gallery hängt. Sie ist die exakte Transkription der Schlafenden Venus aus dem Spitzner-Museum, allerdings mit griechischen Tempeln oder Schaufensterpuppen, mit allem, was sie wollen. Das Drumherum ist gleichgültig, aber das tiefe Gefühl hat seinen Ursprung dort.
Delvaux bemerkt später, er habe das Bild währed der deutschen Besatzung in Brüssel gemalt (zu dieser Zeit wurde die Stadt bombardiert). Er erinnert sich:
Die Psychologie dieses Moments war absolut außergewöhnlich, voller Dramatik und Angst, ich wollte diese Angst im Bild ausdrücken, als Kontrast zur Ruhe der Venus.


Paul Delvaux, Schlafende Venus
1944 Öl auf Leinwand 1727 x 1991 mm
London Tate Glallery