Schriftsteller





Liebe und Krankheit: Initialen der Geliebten

Schwindel.Gefühle S. 7ff
Die Ringe des Saturn S. 136f, 152f

An der Aussprache der - falsch geschriebenen - Hansestadt Stendal in der Altmark erkennen Sie den Kenner: Entweder - wie eine gebildeter Franzose sagt - mit e-Nasal oder, was einige Kenner für plausibler halten, mit a-Nasal. Bleiben wir bei [bεl], so heißt er nämlich wirklich:

Marie-Henri Beyle

Als ältester der drei Kinder Chérubin Beyles, Anwalt am Obersten Gerichtshof, wird er 1783 in Grenoble geboren, verliert mit sechs seine Mutter, bei der Geburt der jüngsten Schwester. Traumata: der Vater liiert sich mit der Schwester der Mutter, setzt den Sohn der Tyrannei eines verhassten Hauslehrers, eines Geistlichen, aus.
Aus Trotz gegen den royalistisch eingestellten Vater sympathisiert Marie-Henri mit den Jakobinern, freut sich über die Verhaftung des Vaters (hofft sogar auf die Guillotine) und geht nach der Schule aus der muffigen Kleinstadt nach Paris zum Studieren, schreibt Theaterstücke, wird in der unterkühlten Studentenbude krank und von Cousins aufgenommen. Die Darus gehören zum Umfeld Napoleons, profitieren von dessen Aufstieg zum Herrscher Europas, woran Beyle partizipiert. Als blutjunger Leutnant nimmt er im 6. Dragonerregiment an Napoleons siegreichem Italienfeldzug teil, bei dem Mitte Mai 1800 36.000 Mann über den Großen St. Bernhard marschieren, ein Unternehmen, das bis zu diesem Zeitpunkt für so gut wie ausgeschlossen gegolten hatte.

Er war damals siebzehn Jahre alt, sah das Ende seiner ihm auf das tiefste verhaßten Kindheit und Jugend gekommen und stand mit einiger Begeisterung im Begriff, seine Laufbahn im Dienste des Heeres anzutreten, die ihn, wie wir wissen, noch weit in Europa herumführen sollte. Die Notizen, in denen Beyle im Alter von dreiundfünfzig Jahren - er hielt sich zur Zeit ihrer Niederschrift in Civita Vecchia auf - die Strapazen jener Tage aus dem Gedächtnis heraufzuholen versucht, demonstrieren eindringlich verschiedene Schwierigkeiten der Erinnerung.
...
Beyle, der behauptet, um diese Zeit, aufgrund einer völlig verkehrten, allein auf die Ausbildung bürgerlicher Fertigkeiten ausgerichteten Erziehung, die Konstitution eines vierzehnjährigen Mädchens gehabt zu haben, schreibt auch, daß er von der großen Anzahl der toten Pferde am Wegrand und von dem sonstigen Kriegsgerümpel, das die sich fortwindende Armee als ihre Spur hinterließ, derart betroffen gewesen sei, daß er von dem, was ihn seinerzeit mit Entsetzen erfüllte, inzwischen keinerlei genaueren Begriff mehr habe. Die Gewalt des Eindruckes hätte diesen selber, so käme es ihm vor, zunichte gemacht. Die nachstehende Zeichnung ist darum bloß anzusehen als eine Art Hilfsmittel, durch welches Beyle versucht, sich zu vergegenwärtigen, wie es war, als der Truppenteil, mit dem er sich fortbewegte, in der Nähe des Dorfes und der Festung Bard unter Feuer kam.

Freilich wird Beyle, als er sich auf diesem Punkt befand, die Sache so nicht gesehen haben, denn in Wirklichkeit ist, wie wir wissen, alles immer ganz anders. Im übrigen schreibt Beyle, es sei selbst da, wo man über lebensnahere Erinnerungsbilder verfüge, auf diese nur wenig Verlaß.
In Ivrea, wo sämtliche Häuser und öffentlichen Plätze von der biwakierenden Armee belegt waren, gelang es Beyle, für sich und den Capitaine Burelvillers, in dessen Gesellschaft er in die Stadt eingeritten war, im Warenlager einer Färberei zwischen allerlei Fässern und kupfernen Kesseln ein von einer eigenartig säuerlichen Luft durchwehtes Quartier aufzutun, das er, kaum war er abgestiegen, auch schon gegen eine marodierende Horde verteidigen mußte, die die Fensterläden und Türen aus ihren Angeln reißen wollte, um sie in das Lagerfeuer zu werfen, das sie in der Mitte der Hofstatt angeschürt hatte.
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So gründlich geht Beyle in den nachfolgenden Wochen in die Lehre, daß ihm in der Retrospektive sein Eintritt in die Welt verschwimmt mit seinen Aufenthalten in den Bordellen der Stadt und daß er noch vor Ende des Jahres die Schmerzen einer Infektion sowie der Quecksilber- und Jodkalibehandlung zu spüren bekommt.
Das hindert ihn jedoch nicht, zu gleicher Zeit an der Ausbildung einer sehr viel abstrakteren Passion zu arbeiten. Das Objekt seines Anbetungsbedürfnisses ist



Angela Pietragrua

die Maitresse seines Kameraden Louis Joinville, die den häßlichen jungen Dragoner aber nur ab und zu mit einem ironisch-mitleidsvollen Blick streift.
Erst elf Jahre später, als Beyle Mailand und Angela, der Unvergeßlichen, nach langer Abwesenheit wieder einen Besuch abstattet, findet er den Mut, ihr, die sich seiner kaum noch erinnert, seine hohen Gefühle zu erklären. Angela ist die Leidenschaft dieses seltsamen Liebhabers nicht recht geheuer, und sie versucht, die gespannte Lage zu entschärfen, indem sie einen Ausflug in die Villa Simonetta vorschlägt, wo ein weithin berühmtes Echo einen Pistolenschuß bis an die fünfzig Mal wiederholt. Doch die Verzögerungsstrategie verschlägt nichts. Lady Simonetta, wie Beyle Angela Pietragrua von nun an nennt, sieht sich schließlich gezwungen, vor der, wie ihr scheint, irrsinnigen Beredsamkeit, die Beyle ihr gegenüber entwickelt, zu kapitulieren. Immerhin gelingt es ihr, ihm das Versprechen abzunötigen, daß er sich, nach gewährter Gunst, ohne weiteren Verzug aus Mailand entfernen werde. Beyle akzeptiert diese Bedingung widerspruchslos und verläßt das so lange vermißte Mailand noch am selben Tag, nicht ohne das Datum und den Zeitpunkt seiner Eroberung, den 21. September, halb zwölf Uhr morgens, auf seinen Hosenträgern vermerkt zu haben. Als er, der ewig irgendwo Herumreisende, wieder in der Diligence sitzt und das schöne Gelände draußen an ihm vorbeizieht, fragt er sich, ob er je andere Siege als diesen eben errungenen davon tragen wird.
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Sobald er einigermaßen wiederhergestellt war, begann Beyle, der, abgesehen von der Feuertaufe in Bard, selbst noch in keinem Gefecht gestanden hatte, die Stätten in Augenschein zu nehmen, auf denen die großen Schlachten der letzten Jahre sich zugetragen hatten. Stets aufs neue durchquerte er dabei die ihm, wie er merkte, nun schon sehr ans Herz gewachsene lombardische Landschaft, in deren Entfernung graue und blaue Farbbänder sich immer feiner voneinander absonderten, um sich zuletzt am Horizont in einer Art Höhenrauch aufzulösen.

Zurückdenkend an diesen Septembertag auf dem Feld von Marengo schien es Beyle späterhin oft, als habe er die folgenden Jahre, sämtliche Kampagnen und Katastrophen, selbst den Sturz und die Verbannung Napoleons damals vorausgesehen und als sei ihm zu diesem Zeitpunkt klar geworden, daß er sein Glück nicht im Dienst der Armee würde machen können. Jedenfalls war es in jenen Herbstwochen gewesen, daß er den Entschluß faßte, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden.
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Beyle, in diesen Jahren wie sonst auch viel zwischen Frankreich und Italien unterwegs, machte im März 1818 die Bekanntschaft der Metilde Dembowski Viscontini in ihrem Mailänder Salon. Metilde, mit einem um nahezu dreißig Jahre älteren polnischen Offizier verheiratet, war achtundzwanzig und eine große, melancholische Schönheit. Beyle war, nach Ablauf von etwa einem Jahr, in welchem er zu den regelmäßigen Besuchern in den Häusern an der
Piazza delle Galline und der Piazza Belgioioso gehörte, schon beinahe auf dem Punkt, die Zuneigung Metildes durch seine mit schweigsamer Diskretion ihr angetragene Leidenschaft zu gewinnen, als er sich selbst seine Chancen durch eine, wie er sich im nachhinein sagen mußte, nicht wiedergutzumachende gaffe durchkreuzte.
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Beyle war untröstlich. Monatelang machte er sich Vorhaltungen, und erst als er sich entschließt, seine große Passion in eine Denkschrift über die Liebe umzusetzen, findet er wieder sein seelisches Equilibrium.
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Diese Ghita, die am Rand von Beyles späterem Werk noch einige Male in Erscheinung tritt, ist eine mysteriöse, um nicht zu sagen geisterhafte Gestalt. Es gibt Grund für die Vermutung, daß Beyle ihren Namen als Chiffre für verschiedene seiner Liebhaberinnen wie Adele Rebuffel, Angeline Bereyter (!) und nicht zuletzt für Metilde Dembowski einsetzte und daß Mme Gherardi, deren Leben, wie Beyle an einer Stelle schreibt, leicht einen ganzen Roman ausmachte, allen dokumentarischen Angaben zum Trotz in Wirklichkeit gar nicht existiert hat und nur eine Art Phantomfigur gewesen ist, der Beyle dann jahrzehntelang die Treue gehalten hat.
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Beyle befand sich im Herbst des Jahres 1813 in einer anhaltenden elegischen Stimmung. Im vorhergehenden Winter hatte er den grauenhaften Rückzug aus Rußland mitgemacht, und im Anschluß daran hatte er einige Zeit, mit Verwaltungsgeschäften betraut, in Sagan in Schlesien verbracht, wo er im Hochsommer von einer schweren Krankheit befallen wurde, in deren Verlauf Bilder des großen Brandes von Moskau und Bilder von der Besteigung des Schneekopfes, die er unmittelbar vor Ausbruch des Fiebers geplant hatte, ihm immer wieder die Sinne verwirrten. Mal um Mal sah Beyle sich auf dem Gipfel des Berges, abgeschnitten von aller Welt und umgeben von den waagrecht im Unwetter flatternden Fahnen des Schnees und von den Flammen, die ringsum aus den Dächern der Häuser schlugen.
...war er bei einem Thema angelangt, das ihn als Schriftsteller auf Jahre hinaus noch beschäftigen sollte. So sitzt er etwa 1826 - er ist nun nahezu vierzig - allein auf der von zwei schönen Bäumen überschatteten und von einem Mäuerchen umgebenen Bank im Garten des Klosters der Minori Osservanti hoch überhalb des Albaner Sees und zeichnet langsam, mit dem Stock, den er jetzt meistens mit sich führt, die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Staub.

Beyle verfaßte seine großen Romane in den Jahren zwischen 1829 und 1842, immer wieder geplagt von den Symptomen seiner syphilitischen Erkrankung. Schlingbeschwerden, Schwellungen unter den Achseln und Schmerzen in seinen schrumpfenden Hoden machten ihm besonders zu schaffen. Als der gründliche Beobachter, der er nun geworden war, führte er aufs genauste Buch über die Schwankungen seines Gesundheitszustands und bemerkte schließlich, daß seine Schlaflosigkeit, die Schwindelgefühle, das Ohrensausen, der flatternde Puls und das Zittern, das manchmal so schlimm war, daß er kaum mehr Messer und Gabel regieren konnte, weniger mit seiner Krankheit selbst als mit den schwer toxischen Mitteln zu tun hatte, die er seit Jahren einnahm. Sein Befinden besserte sich, als er nach und nach auf das Quecksilber und das Jodkali verzichtete, doch merkte er, daß ihm allmählich das Herz seinen Dienst zu versagen begann. Immer häufiger stellte Beyle nun, wie er es seit längerem schon gewohnt, in einer kryptographischen Form Berechnungen seines Lebensalters an, die sich in ihrer kraxligen, ominösen Abstraktheit wie Botschaften des Todes ausnehmen.

Sechs Jahre der angestrengtesten Arbeit trennen ihn zu dem Zeitpunkt, zu dem er diese schwer durchschaubare Zahlennotiz entwirft, noch von seinem Ende. Am Abend des 22. März 1842, der Vorfrühling lag bereits in der Luft, wirft ihn ein apoplektischer Anfall auf das Trottoir der Rue Neuve-des-Capucines. Man bringt ihn in seine Wohnung in der heutigen Rue Danielle-Casanova zurück, wo er, in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages, erlischt, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.




Josef Conrad
Es muß zwar dahingestellt bleiben, ob Rita und Paula wirklich miteinander identisch waren, aber daß der junge Korzeniowski die Gunst einer dieser, sei es als Ziegenmädchen im katalonischen Hochland, sei es als Gänsehirtin am Plattensee aufgewachsenen Damen zu erlangen suchte, das steht ebenso außer Frage wie die Tatsache, daß die in manchem ans Phantastische grenzende Liebesgeschichte ihren Höhepunkt Ende Februar 1877 erreichte, als Korzeniowski sich entweder selber durch die Brust schoß oder von einem Rivalen durch die Brust geschossen wurde. Es gilt nämlich bis heute als ungeklärt, ob die glücklicherweise nicht lebensgefährliche Verletzung die Folge eines Duells gewesen ist, wie Korzeniowski später behauptete, oder, wie der Onkel Tadeusz vermutete, die eines Selbstmordversuchs. Inspiriert war die dramatische Geste, vermittels welcher der als Stendhalien sich empfindende junge Mensch offenbar klare Verhältnisse schaffen wollte, jedenfalls von der Oper, die damals in Marseille ebenso wie in allen anderen europäischen Städten die Gesellschaftssitten und insbesondere die Ausprägungen der Liebessehnsucht bestimmte.


Kartause von Parma, Fabrizio in Waterloo
De holle weg van Ohain, de Herlog van Wellington, de rook van de pruisische batterijen, tegenaanval van de nederlandse cavalerie - die Kämpfe wogten wahrscheinlich, wie das meistens der Fall ist, lang hin und her. Ein deutliches Bild ergab sich nicht. Weder damals noch heute. Erst als ich die Augen schloß, sah ich, daran erinnere ich mich genau, eine Kanonenkugel, die auf schräger Bahn eine Reihe von Pappeln durchquerte, daß die grünen Zweige zerfetzt durch die Luft flogen. Und dann sah ich noch Fabrizio, den jungen Helden Stendhals, blaß und mit glühenden Augen in der Schlacht herumirren und einen vom Pferd gestürzten Obristen, wie er sich gerade wieder aufrafft und zu seinem Sergeanten sagt: Ich spüre nichts als nur die alte Wunde in meiner rechten Hand.



Als er die Zahlennotiz niederschreibt (er war glänzender Mathematiker!), ist Henri Stendhal 53.

1807 bis 1813 besetzt Napoleon mit seinen Truppen Stadt und Herzogtum Braunschweig, französische Besatzungsbeamte reisen in die Hauptstadt des Oker-Departements an, unter ihnen Marie-Henri Beyle, 24. Seinen Aufenthalt in Braunschweig von November 1806 bis Dezember 1808 hält er im Tagebuch fest, wo "Minette" auftaucht. Beyle schwärmt für Mina de Griesheim, eine Generalstochter, die seine Liebe - wie Beyle so oft erfahren und erleiden muss - nicht erhört.
Während seiner Zeit in Braunschweig bereist Beyle die nähere Umgebung, kommt auch in die Hansestadt Stendal. Kolportiert wird, sein Pseudonym sei Hommage auf Johann Joachim Winckelmann, der hier geboren ist.



In Eggebrechts Roman 'Vaters Haus' teilt Professor Lupicz, Direktor des Altmärkischen Museums und Lehrer am Stendaler Gymnasium "Neues zum Beylismus" mit. Der gelehrte Mann liest Stellen aus dem Tagebuch und einem Brief Beyles an Pierre Daru vor. Dort berichtet Henri Beyle, er sei von Braunschweig nach Stendal zusammen mit einer Dame namens Minna von Griesheim gereist und dort hätten sie ein "gemeinsames Quartier" in der "Schadewachten Nr. 19" bezogen. Die Stadt samt Unterkunft seien ihm so zu Herzen gegangen, dass er sich ihr und Minna zuliebe "ab heute und jetzt 'Stendhal' nennen werde."
Seine etwas misstrauischen Zuhörer fragen den Professor, ob er den Brief vielleicht nicht selbst verfasst habe. Antwort: "Nu, nu, und wenn schon! Ich konnte mir nicht denken, daß einzig Winckelmann der Anlaß dafür hätte sein können, sich mir nichts, dir nichts 'Stendhal' zu nennen."
Man stelle sich vor, die gut behütete deutsche Generalstochter Wilhelmine von Griesheim zusammen mit dem Franosen zwei Nächte in einem gemeinsamen Quartier in Stendal. Dieser "neue" deutsche Beitrag zum "Beylismus" ist pikant, aber nicht ganz neu. Schon 1910 hält es Artur Schurig, ohne Fräulein von Griesheim zu nennen, für möglich, Beyle könnte sich bei Wahl des Pseudonyms an 'ein galantes Abenteuer' in Stendal erinnert haben.
Doch mit oder ohne Minette - nichts deutet daraufhin, dass Stendhal die altmärkische Stadt je besichtigt hätte. Wir bewegen uns, wenn wir über die Beziehungen Stendhals zu Stendal nachsinnen, auf dem Feld von Hypothesen.



Die "Bekenntnisse eines Ich-Menschen" verarbeiten die Erlebnisse zwischen 1821 und 1832, Marie-Henri Beyle tritt mit seinem realen Namen auf, der Text ist in Ich-Form verfasst. Ein Kapitel erzählt von der Reise nach London, wo er von Theater- und Bordellbesuchen berichtet.

Welch abscheulicher Egotismus liegt in all diesen Einzelheiten! – Gewiß, aber was ist dies ganze Buch, wenn nicht abscheulicher Egotismus? Wozu pedantische Ziererei zur Schau stellen, wie gestern Herr Villemain in seinem Artikel über Chateaubriands Verhaftung! Ist dies Buch langweilig, so wird man in zwei Jahren die Butter beim Krämer damit einwickeln. Ist es nicht langweilig, so wird man erkennen, daß der Egotismus, aber nur der ehrliche, ein Mittel zur Schilderung des Menschenherzens ist, in dessen Kenntnis wir seit 1721 – seit dem Erscheinen der »Lettres persanes« des großen Montesquieu, den ich so eifrig studiert habe – Riesenfortschritte gemacht haben. Der Fortschritt ist bisweilen so erstaunlich, daß Montesquieu grob erscheint.
Ich war mit meinem Londoner Aufenthalt so zufrieden, seit ich den ganzen Abend in schlechtem Englisch gemütlich sein konnte, daß ich den Baron, der wieder in den Dienst mußte, und Lolot, den seine Geschäfte zurückriefen, nach Paris abreisen ließ. Trotzdem war ihre Gesellschaft mir sehr angenehm gewesen. Ich vermied Kunstgespräche, die stets ein Stein des Anstoßes bei meinen Freunden waren.

Die Engländer sind wohl das fühlloseste und barbarischste Volk auf Erden. Darum verzeihe ich ihnen ihre Schändlichkeiten von Sankt Helena. Sie hatten kein Gefühl dafür. Gewiß würde ein Italiener, wenn man ihn bezahlt, ja selbst ein Deutscher sich einbilden, Napoleon überlegen zu sein. Die biederen Engländer, denen unaufhörlich der Abgrund des Hungertodes droht, wenn sie einen Augenblick nicht arbeiten, verscheuchen den Gedanken an Sankt Helena, wie sie den Gedanken an Raffael verscheuchen, weil sie dabei Zeit verlören. Das ist alles.
Als ich allein war, kämpfte in mir der Gedanke an die Ehrbarkeit der englischen Familie, die mit 10 000 Franken lebt, mit dem an die völlige Sittenverderbnis des Engländers, der kostspielige Neigungen hat und sich an die Regierung verkauft, um diese Neigungen zu befriedigen. Infolge des Widerstreits dieser beiden Gedanken reiste ich ab, ohne zu wissen, ob man England eine Schreckenszeit wünschen solle, die diesen Augiasstall reinigte.
Das arme Mädchen, bei dem ich die Nächte verbrachte, beteuerte mir, sie würde Äpfel essen und mir nichts kosten, wenn ich sie nach Frankreich mitnehmen wollte. Das hätte mir manche pechschwarze Stunde erspart. Zu meinem Unglück ist die Geziertheit mir derart zuwider, daß es mir schwerfällt, gegen eine Französin schlicht, aufrichtig, gut, kurz, recht deutsch zu sein.
Eines Tages wurde angekündigt, daß acht arme Teufel gehenkt werden sollten. Wenn in England ein Dieb oder ein Mörder gehenkt wird, so ist es in meinen Augen ein Opfer, das die Aristokratie zu ihrer Sicherheit schlachtet, denn sie hat ihn zum Verbrechen gezwungen. Diese Wahrheit, so paradox sie heute ist, wird vielleicht ein Gemeinplatz sein, wenn man mein Geschwätz liest.
Die Nacht hindurch sagte ich mir, es sei Pflicht des Reisenden, derartige Schauspiele und ihre Wirkung auf ein noch bodenständiges Volk (who has raciness) anzusehen. Aber am nächsten Morgen um acht Uhr, als ich geweckt wurde, regnete es in Strömen. Die Sache, zu der ich mich zwingen wollte, war so peinlich, daß ich mich des Kampfes noch erinnere. Ich habe dem gräßlichen Schauspiel nicht beigewohnt.

Ein - von mehreren - selbstverfasster 'Nachruf':
Die Hälfte des Jahres verbrachte er in Rom. Literarisch gesprochen, verlor er dort seine Zeit. Er schrieb dort den »Grünen Jäger« und sammelte Novellen wie »Vittoria Accoramboni«, »Beatrice Cenci« und acht bis zehn Foliobände. Im Mai 1836 kehrte er mit einem Urlaub von Herrn Thiers, der Napoleons große Worte nachahmte, nach Paris zurück. Vom 9. November 1836 bis Juni 1837 stellte er das »Leben Napoleons« zusammen.

Grabschrift:
Qui giace
Arrigo Beyle, Milanese
Visse, scrisse, amò
Se n'andiede di anni...
Nel...

(Hier liegt Arrigo Beyle, Mailänder. Er lebte, schrieb, liebte)


Er liebte Cimarosa, Shakespeare, Mozart, Correggio.



Leidenschaftlich liebte er V., M., A., Ange, M., C.,
und obwohl nichts weniger als schön,
wurde er von vier bis fünf dieser Frauen sehr geliebt.



Er hatte nur vor einem Manne Respekt: Napoleon.




Bericht des össterr. Polizeidirektors von Mailand,
Graf Torresani,
an den Präsidenten der obersten Polizei- und Zensurhofstelle,
Graf Sedlnitzky



Mailand, 29. Januar 1829.

Euer Exzellenz! Gnädiger Herr!

In der Nacht vom 1. dieses langte der Franzose Heinrich Bayle aus Süditalien zurückkommend hier an. Dieser unter der Bonapartischen Herrschaft mit der Stelle eines Auditors im Staatsrat bekleidete Fremde ist als der Verfasser des berüchtigten Werkes bekannt, welches den Titel »Rome, Naples et Florence par M. de Stendhal« führt und worin er nicht nur in politischer Rücksicht die verderblichsten Grundsätze äußerte, sondern auch durch verleumderische Angaben den Ruf mehrerer Individuen dieser Provinzen und anderer Staaten Italiens höchlichst kompromittierte, ja selbst die Frechheit hatte, die sträflichsten Reden gegen die Österreichische Regierung zu führen. Als nun Bayle Gesundheit und Belustigung als die einzigen Zwecke seiner gegenwärtigen Bereisung der Italienischen Halbinsel angebend, sich um einen Aufenthaltsschein auf längere Zeit bewarb, wurde er angewiesen, augenblicklich die k. k. Erbländer zu verlassen. Auf seine über diese Maßregel erhobenen Klagen gab man ihm offen zu erkennen, daß er diese Behandlung nicht so sehr der Verwegenheit, womit er seine Galle gegen die Österreichische Regierung, welche ihrer Würde und Macht bewußt, die unsinnigen Diatriben der ausländischen Skribler nicht achtet, ausließ, als dem sträflichen Benehmen beizumessen habe, womit er in seinem Werk den Ruf vieler achtbarer Personen und besonders unserer ehrwürdigen Damen Mailands, wo er vom Jahre 1816 bis 1821 volle Gastfreundschaft genoß, antastete.
...
Schließlich habe ich noch untertänigst zu bemerken, daß Bayle während seines mehrjährigen Aufenthaltes in Mailand sich als irreligiöser, unmoralischer und gefährlicher Feind der Legitimität bewies, so daß man nicht begreifen kann, wie er von meinen Vorfahren so viele Jahre ungestört dahier belassen worden sei, zumal da er eben mit unseren berüchtigten Liberalen in der freundschaftlichsten Berührung stand. Er wird auch allgemein als der Verfasser eines anderen äußerst verderblichen Werkes gehalten, welches im Jahre 1817 in Paris erschien und den Titel »Histoire de la peinture en Italie par M.B.A.A.« führt.

Ich gebe mir die Ehre, von diesem Vorfalle Euer Exzellenz in Kenntnis zu setzen, indem ich in tiefster Ehrfurcht verharre

Euer Exzellenz untertänig-gehorsamster

Torresani.



* Weiterlesen auf eigene Gefahr: Schwindelerregend! *



Nachwort:

Leiden wir alle unter dem Stendhal-Sebald-Schwindel?
Beide Ich-Erzähler haben psychosomatische Störungen im zeitlichen Zusammenhang mit kultureller Reizüberflutung: Panikattacken, Wahrnehmungsstörungen und wahnhafte Bewusstseinsveränderungen.



1979 veröffentlicht Graziella Magherini (sie heißt, wenn es sie denn gibt, wirklich so), italienische Psychologin, eine Studie und enthüllt (bisher verborgen?) das nach Stendhal benannte Syndrom. Die 10 Jahre später veröffentlichte Studie, in der sie mehr als 100 (repräsentiv?) typische Krankheitsfälle von Touristen in der Kunstmetropole Florenz beschreibt, macht das Syndrom international bekannt.
Waren Sie schon in Florenz? Hüten Sie sich vor kultureller Reizüberflutung!
Der Name Stendhal-Syndrom bezieht sich auf eine Notiz Beyles. Schon bei der Ankunft in Florenz fühlt er sich wie in einem Wahn, kann keinen klaren Gedanken fassen (Wienreise mit Schwindelgefühlen Sebalds lässt grüßen).
Bei der Besichtigung der Kirche Santa Croce, berühmt für die Grabmäler von Florentinern wie Michelangelo, Dante Alighieri oder Galileo Galilei, steigert sich seine Begeisterung (Wahn?):
Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.

Stendhals Schilderung ist nicht das einzige literarische Beispiel für das überwältigende Gefühl, das europäische Intellektuelle bei ihrer Grand Tour in Italien angesichts der Fülle der Kunst- und Bauwerke überkommt. Heinrich Heine urteilt in seinen Reisebildern über den Mailänder Dom, dass die unzähligen Heiligenbilder einem fast die Sinne verwirrten. Mit Beginn des organisierten Tourismus Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt die Zahl der Besucher in den europäischen Kunstmetropolen zu. In ihren Reiseberichten finden sich immer wieder Zeugnisse großer Ergriffenheit, verbunden mit Zuständen großer Verwirrung.

Die erste psychologische Bewertung liefert Sigmund Freud, der 1936 im Rückblick seinen ersten Besuch der Athener Akropolis als Erinnerungsstörung beschreibt, die in ihm Schuldgefühle auslöst.
Merkmal des Stendhal-Syndroms sei der "Verlust der Kohäsion des Selbst".
Die italienische Psychologin unterscheidet drei Varianten:
Bei einer Gruppe äußert sich das Stendhal-Syndrom durch Störungen des Denkens und der Wahrnehmung, die Halluzinationen und wahnhafte Stimmungen sowie tiefe Schuldgefühle bei den Betroffenen auslösen.
Eine zweite Gruppe entwickelt affektive Störungen, die sowohl zu Allmachtsphantasien als auch zur Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts der Fülle an Kunstschätzen führen.
Bei einer dritten Gruppe tritt eine Panikattacke auf, die mit erhöhtem Blutdruck, Ohnmachtsanfällen, Bauchschmerzen und Krämpfen verbunden ist. Die meisten der Betroffenen sind zwischen 26 und 40 und unverheiratet (!).
2007 veröffentlicht Magherin ein Buch, in dem sie exemplarisch an Michelangelos David-Statue die Wirkung von Kunstwerken auf den Menschen beschreibt (Meiden Sie die Statue!).
Varen Sie Bitte bitte keinesfalls nach Fendiedig oder alsss Jahpaner nach Paarris!

Angesichts der hohen Zahl von Selbstmordversuchen deutschsprachiger Touristen wird ein Venedig-Syndrom diagnostiziert, während bei japanischen Touristen das häufige Auftreten eines Paris-Syndroms beschrieben wird.

PS
Wen er nie selbst analysiert hat der Sigmund Freud, ist Sigmund Freud; und ist Graziella Magherini etwa am Stendhal-Syndrom erkrankt?

Ein Tourist aus Bayern bekam die sexuelle Identitätskrise, als er vor Caravaggios "Jugendlichem Bacchus" stand.
Einem deutschen protestantischen Theologen riss Davids Schönheit eine alte Wunde in ihm auf, er stürzte in einen Abgrund.
Was tun, wenn das Syndrom sich regt?
"Ausruhen. Mit Landsleuten sprechen. Und schnell wieder nach Hause fahren", sagt die Professorin.



O Herr! Bin ich verrückt?