Leute




Xianfeng/Hsien-feng *)
Die Ringe des Saturn S. 176ff


Im August 1861, nach Monaten der Unentschlossenheit, dämmerte der Kaiser Hsien-feng im Exil von Jehol dem Ende seines kurzen, von Ausschweifungen zerstörten Lebens entgegen. Das Wasser war ihm aus dem Unterleib bereits bis ans Herz gestiegen, und die Zellen seines allmählich sich auflösenden Körpers trieben in der aus den Blutbahnen in sämtliche Zwischenräume des Gewebes einsickernden salzigen Flüssigkeit wie die Fische im Meer. Mit flackerndem Bewußtsein erlebte Hsien-feng die Invasion der Provinzen seines Reiches durch fremde Mächte auf exemplarische Weise an den eigenen absterbenden Gliedern und in den von giftigen Stoffen überfluteten Organen. Er selber war nun die Walstatt, auf der sich der Niedergang Chinas vollzog, bis daß am 22. des Monats die Schatten der Nacht sich über ihn legten und er vollends versank im Delirium des Todes.

Aufgrund des mit komplizierten astrologischen Kalkulationen verbundenen Traktaments, dem der Leichnam des kaiserlichen Herrschers vor der Einsargung zu unterziehen war, konnte die Überführung nach Peking nicht vor dem 5. Oktober anberaumt werden. Drei Wochen bewegte sich dann der über eine Meile lange Trauerzug mit dem auf eine riesige goldene Bahre aufgesetzten, auf den Schultern von einhundertvierundzwanzig ausgesuchten Trägern immer wieder bedrohlich schwankenden Katafalk durch den gleichmäßig herabrauschenden Herbstregen, bergan und bergab, durch schwarze Täler und Schluchten und über wüste, im eisgrauen Gestöber des Schnees verschwindende Paßhöhen.
Als am Morgen des 1. November der Leichenzug endlich sein Ziel erreicht hatte, waren zu beiden Seiten der auf die Tore der verbotenen Stadt zuführenden, mit gelbem Sand bestreuten Straße Sichtblenden aus blauer Nankingseide aufgestellt, damit nicht das gewöhnliche Volk seine Blicke werfen konnte auf das Antlitz des fünfjährigen Kinderkaisers T’ung-chih, den Hsien-feng in seinen letzten Tagen noch zum Anwärter des Drachenthrons ernannt hatte und der jetzt, hinter den sterblichen Resten seines Vaters, zusammen mit seiner aus dem Konkubinat aufgestiegenen, bereits den erlauchten Titel "Kaiserinwitwe" führenden Mutter Tz’u-hsi auf einem gepolsterten Palankin heimgebracht wurde in sein Haus.


*) in Wade-Giles-Umschrift
































Xianfeng ist der neunte Kaiser der Qing-Dynastie, er lebt von 1831 bis 1861, über China herrscht er von 1850 bis zu seinem Tod.
Geboren wird er im kaiserlichen Sommerpalast, 8 Kilometer nordwestlich von Peking, als vierter Sohn Kaisers Daoguang. Er übetrifft an Bildung und Verwaltungsfähigkeit seine Brüder, was Vater so beeendruckt, dass er ihn zum Nachfolger bestimmt.
Als 19jähriger besteigt er den Thron einer Dynastie, die im Inneren und Äußeren vor größten Herausforderungen steht. Der Herrschaftstitel Xianfeng bedeutet "Universeller Wohlstand", das Gegenteil aber findet statt, das Reich der Mitte erlebt seine schwerste Krise.

Der 1848 ausgebrochene Taiping-Aufstand weitet sich zur umfassenden Katastrophe aus. Die Taiping verwüsten 600 Städte, 20 Millionen Menschen kommen ums Leben. 1851 rebelliert in Nord- und Ostchina die Geheimgesellschaft „Weißer Lotus“, in verschiedenen Provinzen erheben sich weitere ethnische Minderheiten. Die Dynastie wankt.

Ein kleiner Zwischenfall an der Küste löst den 2. Opiumkrieg 1856 bis 1860 aus. Anglo-französische Truppen dringen vor, bieten Verhandlungen an, Xianfeng, unter dem Einfluss seiner Konkubine Yi, glaubt an die chinesische Überlegenheit und weigert sich, den kolonialen Forderungen nachzukommen. Alle Friedensbemühungen scheitern, als die Chinesen den britischen Gesandten, Sir Harry Parkes, während der Verhandlungen festnehmen.

Die Anglo-französische Invasion rollt Richtung Peking, schlägt 10.000 Soldaten Chinas vernichtend, unter ihnen die Elite mongolischer Kavallerie. 1860 plündern die Invasoren Peking, brennen die kaiserlichen Sommerpaläste nieder, Xianfengs Gesundheit verschlechtert sich rapid, der Kaiser muss in seinen Sommerpalast zu Jehol fiehen, wo er bis zu seinem Lebensende bleibt. Nach einem kurzen Leben voller Maßloiskeit stirbt er am 22. August 1861, 230 Kilometer nordöstlich von Peking. Auf seinem Totenbett diktiert er ein kaiserliches Edikt, mit dem er vier Mitglieder der kaiserlichen Linie zu Ministern ernennt, um den jungen Kaiser zu unterstützen.

In der Pekinger Konvention 1860 wird China zu erheblichen Konzessionen gezwungen, es muss seine Häfen für den transkontinentalen Handel öffnen, „Kriegsentschädigung“ von 16 Millionen Silberunzen zahlen und christliche Missionstätigkeit uneingeschränkt dulden. China muss die Insel Hong Kong und den Südteil der Halbinsel Kowloon einschließlich Stonecutters Island für immer an Großbritannien und Teile der nördlichen Mandschurei an Russland abtreten (das dort drei Jahre später die Stadt Wladiwostok gründet).

Mit der Konkubine Yi zeugt der Kaiser seinen einzigen Sohn Tongzhi, der ihm als Kindkaiser auf dem Thron folgt. Yi übernimmt als Kaiserin Cixi 47 Jahre lang die Regentschaft und wird zur mächtigsten Frau Chinas.

Vater Daoguang und Xianfeng wissen wenig über die Europäer und ihre Denkweise. Xianfeng sieht alles Nicht-Chinesische als minderwertig an, die wiederholten Bemühungen der Europäer um Aufnahme diplomatischer Beziehungen betrachtet er als Beleidigung und Straftat. Bis zu seinem Tod trifft er nicht einen ausländischen Würdenträger.

Trotz des chaotischen Jahrzehnts seiner Herrschaft verehrt China Kaiser Xianfeng als den letzten Qing-Kaiser von höchstem Ansehen. Sein Sohn und Nachfolger Tongzhi aber muss den Untergang der Qing-Dynstie erleben.



Sterbezimmer Xianfengs







Die Ringe des Saturn S. 170ff



Die Niederschlagung der Taipingrebellion

wäre wahrscheinlich unmöglich gewesen, hätten nicht die in China sich befindenden britischen Armeekontingente nach der Beilegung ihrer eigenen Kämpfe mit den kaiserlichen Heeren sich diesen zur Seite gestellt. Die bewaffnete Präsenz der britischen Staatsmacht in China geht zurück auf das Jahr 1840, in dem der sogenannte Opiumkrieg erklärt wurde. Aufgrund der seit 1837 von der chinesischen Regierung getroffenen Maßnahmen zur Unterbindung des Opiumhandels sah die



East India Company,

die den Anbau von Mohn auf den Feldern von Bengalen betrieb und das aus den Samen gewonnene Rauschgift in erster Linie nach Kanton, Amoy und Shanghai verschiffte, eine ihrer einträglichsten Unternehmungen bedroht. Die Kriegserklärung, zu der es infolgedessen kam, war der Beginn der zwangsweisen Öffnung des seit zweihundert Jahren vor den fremden Barbaren sich verschlossen haltenden chinesischen Reichs. Im Namen der Ausbreitung des christlichen Glaubens und des als Grundvoraussetzung für jeden zivilisatorischen Fortschritt geltenden freien Handels demonstrierte man die Überlegenheit der westlichen Geschütze, stürmte eine Reihe von Städten und erpreßte sodann einen Frieden, zu dessen Bedingungen bestimmte Garantien für die britischen Faktoreien an der Küste, die Abtretung von

sowie, nicht zuletzt, wahrhaft schwindelerregende Reparationszahlungen gehörten. Insofern dieses aus britischer Sicht von vornherein nur vorläufige Arrangement einen Zugang zu den Handelsplätzen im Landesinnern nicht vorsah, war auch die Notwendigkeit weiterer militärischer Aktionen auf die Dauer nicht von der Hand zu weisen, insbesondere in Anbetracht der vierhundert Millionen Chinesen, denen man das in den Spinnereien von Lancashire verfertigte Baumwollzeug hätte verkaufen können. Ein hinlänglicher Vorwand für eine neue Strafexpedition fand sich allerdings erst 1856, als chinesische Offiziere im Hafen von Kanton einen Frachter enterten, um einige der Piraterie verdächtige Mitglieder der ausschließlich aus chinesischen Seeleuten bestehenden Mannschaft in Gewahrsam zu nehmen.

Im Zuge dieser Operation holte das Enterkommando den am Hauptmast flatternden Union Jack ein, wahrscheinlich weil das britische Hoheitszeichen damals im illegalen Verkehr nicht selten zu Tarnungszwecken gehißt wurde. Da aber das geenterte Schiff in Hongkong registriert war und also durchaus rechtmäßig unter der britischen Flagge fuhr, konnte der an sich lachhafte Zwischenfall von den britischen Interessenvertretern in Kanton zum Anlaß für eine vorsätzlich bald so weit getriebene Auseinandersetzung mit den chinesischen Behörden genommen werden, daß man zuletzt keine andere Wahl zu haben glaubte, als die Hafenforts zu besetzen und den Amtssitz des Verwaltungspräfekten zu bombardieren. Günstigerweise fügte es sich, daß beinahe zum selben Zeitpunkt in der französischen Presse berichtet wurde von der von Beamten der Provinz Kwangsi angeordneten Exekution eines Missionspriesters namens Chapdelaine.

Die Beschreibung der peinlichen Prozedur gipfelte in der Behauptung, die Henker hätten dem schon zu Tode gebrachten Abbe das Herz aus der Brust geschnitten und es anschließend gekocht und verspeist. Die daraufhin in Frankreich laut werdenden Rufe nach Sühne und Vergeltung verbanden sich auf das beste mit den Bestrebungen der Kriegspartei in Westminster, so daß nach entsprechenden Vorbereitungen das im Zeitalter imperialistischer Rivalität seltene Schauspiel einer gemeinsamen anglo-französischen Kampagne sich entfalten konnte. Der Höhepunkt des mit den größten logistischen Schwierigkeiten verbundenen Unternehmens wurde im August 1860 erreicht, als achtzehntausend britische und französische Streitkräfte in der



Bucht von Pechili,

kaum hundertfünfzig Meilen von Peking, an Land gingen und, unterstützt von einem in Kanton rekrutierten Heer von chinesischen Hilfstruppen, die von Salzsümpfen, tiefen Gräben, enormen Erdwällen und Bambuspalisaden umgebenen Forts von Taku an der Mündung des Peihoflusses einnahmen. Bei den im Anschluß an die bedingungslose Kapitulation der Festungsbesatzung angestrengten Versuchen, den vom militärischen Standpunkt aus bereits erfolgreich abgeschlossenen Feldzug auf dem Verhandlungsweg ordnungsgemäß zu beenden, gerieten die Delegierten der Alliierten, ungeachtet der Tatsache, daß sie eindeutig die Oberhand hatten, tiefer und tiefer in das alptraumhafte Labyrinth der von den komplexen Erfordernissen der Drachenreichs-Etikette ebenso wie von der Angst und Ratlosigkeit des Kaisers bestimmten chinesischen Hinhaltungsdiplomatie.

Letzten Endes scheiterten die Verhandlungen wahrscheinlich an dem völligen, durch keinen Dolmetscher zu überbrückenden Unverständnis, mit dem die in grundverschiedenen Vorstellungswelten lebenden Emissäre einander begegneten. Sah man auf britischer und französischer Seite den zu erzwingenden Frieden als die erste Etappe in der Kolonisierung eines maroden, von den geistigen und materiellen Errungenschaften der Zivilisation weitgehend unberührten Reichs, so waren die Abgesandten des Kaisers ihrerseits bemüht, den mit den chinesischen Gepflogenheiten anscheinend in keiner Weise vertrauten Fremden die Schuldigkeit vor Augen zu führen, in der sich die Botschafter tributpflichtiger Trabantenmächte gegenüber dem Sohn des Himmels von jeher befanden. Zuletzt blieb nichts anderes übrig, als mit Kanonenbooten den



Peiho

hinaufzufahren und zugleich über Land gegen Peking vorzurücken. Der trotz seiner jungen Jahre gesundheitlich äußerst geschwächte, an der Wassersucht leidende Kaiser Hsien-feng entzog sich der drohenden Konfrontation, indem er am 22. September inmitten eines ungeordneten Haufens von Hofeunuchen, Mauleseln, Gepäckskarren, Tragsesseln und Sänften aufbrach an seinen Zufluchtsort Jehol jenseits der großen Mauer. Die den Kommandierenden der Feindesmacht übermittelte Nachricht besagte, seine Majestät der Kaiser sei von Gesetzes wegen gehalten, sich im Herbst auf die Jagd zu begeben. Ihrerseits nun in einem Zustand der Unschlüssigkeit über das weitere Vorgehen, stießen die Truppen der Alliierten zu Anfang des Monats Oktober anscheinend zufällig auf den nahe bei Peking gelegenen, mit einer Unzahl von Palästen, Pavillons, Wandelgängen, phantastischen Lauben, Tempeln und Turmbauten bestückten Zaubergarten Yuan Ming Yuan, wo an den Abhängen künstlicher Berge zwischen Böschungen und lichten Gehölzen Hirsche mit fabelhaften Geweihen weideten und die ganze unbegreifliche Pracht der Natur und der von Menschenhand in sie eingebetteten Wunder sich spiegelte in den dunklen, von keinem Lufthauch bewegten Gewässern.





Das der militärischen Disziplin und überhaupt jeder Vernunft spottende furchtbare Zerstörungswerk, das im Verlauf der folgenden Tage in der legendären Gartenlandschaft vollbracht wurde, ist nur teilweise begreifbar als eine Folge der Wut über die immer weiter sich verschleppende Entscheidung. Der wahre Grund für die Brandschatzung des Yuan Ming Yuan lag, wie man annehmen muß, in der unerhörten Provokation, welche die aus der irdischen Wirklichkeit geschaffene, jede Idee von der Unzivilisiertheit der Chinesen sogleich vernichtende Paradieswelt darstellte für die selber unendlich weit von zu Hause abgekommenen, an nichts als Zwang, Entbehrung und die Abtötung ihrer Sehnsucht gewohnten Krieger. Die Berichte von dem, was an jenen Oktobertagen sich zugetragen hat, sind zwar wenig verläßlich, doch spricht allein die Tatsache der späteren Versteigerung des Raubguts im britischen Lager dafür, daß ein Großteil des von dem fliehenden Hof zurückgelassenen beweglichen Zierats und Schmuck, alles, was aus Jade und Gold gearbeitet war und aus Silber und Seide, in die Hände der Plünderer gefallen ist. Das anschließende Niederbrennen der über zweihundert in dem ausgedehnten Gartengelände und den angrenzenden Palastbezirken stehenden Lusthäuser, Jagdschlösser und Heiligtümer wurde von den Kommandierenden, wie es heißt, angeordnet als Vergeltungsmaßnahme für die Mißhandlung der britischen Emissäre Loch und Parkes, war jedoch in Wahrheit in erster Linie gedacht zur Unkenntlichmachung der zuvor bereits geschehenen Verheerung. Mit unglaublicher Geschwindigkeit, so schrieb der



Pionierhauptmann Charles George Gordon,

gingen die zumeist aus Zedernholz gebauten Tempel, Solitüden und Eremitagen nacheinander in Flammen auf und verbreitete sich krachend und springend das Feuer durch das grüne Gebüsch und die Wälder. Bis auf ein paar steinerne Brücken und Marmorpagoden war bald alles zerstört. Lange noch hingen Rauchfahnen über der ganzen Umgegend, und eine große Aschenwolke, die die Sonne verdeckte, wurde vom Westwind nach Peking getragen, wo sie nach einiger Zeit sich niedersenkte auf die Häupter und Behausungen der, wie sie wähnten, von einer Strafe des Himmels heimgesuchten Bewohner. Ende des Monats, nach dem in Yuan Ming Yuan statuierten Exempel, sahen sich die Amtswalter des Kaisers gezwungen, ohne weiteren Verzug den immer wieder vertagten



Frieden von Tientsin

zu unterzeichnen, dessen Hauptklauseln sich, abgesehen von den neuerlichen, kaum zu bewältigenden Reparationsforderungen, auf das Recht des freien Verkehrs und der ungehinderten Missionstätigkeit im Inneren des Landes sowie auf die Aushandlung eines Zolltarifs zum Zweck der Legalisierung des Opiumhandels bezogen. Als Gegenleistung erwiesen sich die westlichen Mächte bereit, ihren Beistand zu leisten zur Erhaltung der Dynastie, das heißt bei der Ausrottung der Taiping und bei der Niederschlagung der Sezessionsbestrebungen der muslimischen Bevölkerung in den Tälern von Shensi, Yunnan und Kansu, in deren Verlauf verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen sechs und zehn Millionen von ihren Wohnplätzen vertrieben beziehungsweise ums Leben gebracht wurden. Der bereits erwähnte, zu jener Zeit knapp dreißigjährige Hauptmann der Royal Engineers, Charles George Gordon, ein an sich scheuer, vom christlichen Geist erfüllter, zugleich aber jähzorniger und schwer melancholischer Mensch, der später im belagerten Khartoum eines ruhmreichen Todes sterben sollte, übernahm das Oberkommando der demoralisierten kaiserlichen Armee und bildete sie binnen kurzem zu dermaßen schlagkräftigen Truppen aus, daß ihm, in Anerkennung seiner Verdienste, bei seinem Abschied die Gelbe Reiterjacke, die höchste Auszeichnung des Reichs der Mitte, verliehen wurde.



Gordons Grab