Bilder
Schwindel.Gefühle S. 101

Um viertel nach eins kam fahrplanmäßig der blaue Bus, mit dem ich nach Riva fahren wollte. Ich stieg sogleich ein und setzte mich auf einen der rückwärtigen Plätze.
Kurz vor der Abfahrt stieg ein Junge von etwa fünfzehn Jahren ein, der auf die unheimlichste Weise, die man sich denken kann, den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm, soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied.
Ich legte den Kopf seitwärts an den Fensterrahmen in die Zugluft und wagte es lange nicht, mich umzublicken. Erst als wir Salò längst hinter uns hatten und Gargnano uns näherten, vermochte ich den Schrecken in meinen Gliedern zu überwinden und über die Schulter zu schauen.



Schütte in seinem Essay "Nachruhm" zu dem Vorfal:
Auf einer realen Erfahrung, so erzählte Siebald, beruhte die Geschichte mit dem an Schülerfotos von Kafka erinnernden italienischen Zwillingspaar, dem er auf einer Busreise nach Riva begegnet war. Der Vorfall war deswegen Auslöser dafür, bei seinen Reisen fortan immer eine Kamera mit sich zu führen. Denn zu seinem großen Bedauern habe er keine Foto zum Beweis von deren unheimlicher Ähnlichkeit mit dem Schriftsteller machen können.
Und da er "keinerlei Beleg würde vorzuweisen haben über dieses höchst unwahrscheinliche Zusammentreffen" mit dem Knabenpaar als doppelte Wiedergänger von Kafka, bleibt dm Erzähler von Schwindel.Gefühle keine andere Wahl: Er wendet sich an die Eltern mit der Bitte um Übersendung eines Fotos ihrer Söhne. Die groteske Szene gipfelt daher in der festen Überzeugung des so misstrauischen wie unkooperativen Ehepaars, dass es sich bei mir um nichts anderes als um einen zu seinem so genannten Vergnügen in Italien herumreisenden englischen Päderasten handeln würde.
Während hier die Komik aus einem grundsätzlich kaum komischen Thema wie der Pädophilie erst "herausgekitzelt" werden muss (wie auch die Begegnung mit der italienischen Familie sich wohl nicht in allen Einzelheiten genau so abgespielt haben dürfte) ...

Uwe Schütte: Annäherungen S. 262 (siehe --> )