Schriftsteller






... wie der Schriftsteller Joseph Conrad


Casement

im Kongo kennengelernt und ihn, unter den teils von dem tropischen Klima, teils von ihrer eigenen Habsucht und Gier korrumpierten Europäern, denen er dort begegnete, für den einzigen geradsinnigen Menschen gehalten hat. Ich habe ihn einmal, so ein mir seltsamerweise wortwörtlich gegenwärtig gebliebenes Zitat aus dem Kongo-Tagebuch Conrads, nur mit einem Stecken bewaffnet und nur in Begleitung eines Loanda-Jungen und seiner englischen Bulldoggen Biddy und Paddy in die gewaltige Wildnis aufbrechen sehen, die im Kongo jede Niederlassung umgibt. Und einige Monate darauf sah ich ihn dann, seinen Stecken schwingend, mit dem Jungen, der das Bündel trug, und den Hunden aus der Wildnis wieder hervorkommen, etwas magerer vielleicht, aber sonst so unbeschadet, als kehrte er gerade von einem Nachmittagsspaziergang im Hyde Park zurück.

(Die Ringe des Saturn S. 126ff)


Joseph Conrad



... teils von dem tropischen Klima,
teils von ihrer eigenen Habsucht
und
Gier korrumpierten Europäern ...
(Die Ringe des Saturn
S. 126ff)

Am Ende des Sommers 1862 reiste Mme. Evelina Korzeniowska mit ihrem damals noch nicht ganz fünfjährigen Knaben Teodor Josef Konrad von der kleinen podolischen Stadt Zitomir nach Warschau, um sich ihrem Gemahl Apollo Korzeniowski anzuschließen, der bereits im Frühjahr sein wenig ertragreiches Gutsverwalterdasein aufgegeben hatte in der Absicht, durch literarische und politisch-konspirative Arbeit die von so vielen ersehnte Erhebung gegen die russische Tyrannei vorbereiten zu helfen.

Mitte September fanden die ersten Sitzungen des illegalen polnischen Nationalkomitees in der Warschauer Wohnung der Korzeniowskis statt, und im Verlauf der nachfolgenden Wochen hat der Knabe Konrad zweifellos zahlreiche geheimnisvolle Personen bei seinen Eltern ein und aus gehen sehen. Die ernsten Mienen der in dem weiß-roten Salon mit gedämpfter Stimme sich unterhaltenden Herrschaften werden ihn die Bedeutung der historischen Stunde zumindest haben erahnen lassen. Möglicherweise war er zu diesem Zeitpunkt sogar schon eingeweiht in den Zweck der verschwörerischen Vorgänge und wußte, daß die Mama - verbotenerweise - Schwarz trug zum Zeichen der Trauer für ihr unter fremder Gewalt schmachtendes Volk. Wenn nicht, so mußte man ihn spätestens ins Vertrauen ziehen, als Ende Oktober der Vater festgenommen und in die Zitadelle gesperrt wurde.

Der Urteilsspruch, nach einem kursorischen Verfahren vor dem Militärgericht, lautete auf Verbannung nach Vologda, einem gottverlassenen, irgendwo in der Landwüste hinter Nishnij Novgorod gelegenen Ort. Vologda, so schreibt Apollo Korzeniowski im Sommer 1863 an seinen Vetter, ist ein einziges Sumpfloch, dessen Straßen und Wege aus umgelegten Baumstämmen bestehen. Die Häuser, auch die aus Brettern zusammengezimmerten buntbemalten Paläste des Provinzadels, stehen auf Pfählen mitten im Morast. Alles ringsum versinkt, verfault und verrottet. Es gibt nur zwei Jahreszeiten, einen weißen und einen grünen Winter. Neun Monate lang fährt die Eisluft vom Nordmeer herunter. Das Thermometer sinkt auf unvorstellbare Tiefen. Man ist umgeben von einer endlosen Finsternis. Während des grünen Winters regnet es ohne Unterlaß. Der Schlamm dringt bei den Türen herein. Die Leichenstarre geht über in einen grauenhaften Marasmus. Im weißen Winter ist alles tot, im grünen Winter alles am Sterben.

Die Tuberkulose, an der Evelina Korzeniowska seit Jahren leidet, entfaltet sich unter diesen Umständen so gut wie ungehindert. Die ihre noch verbleibenden Tage sind fast schon gezählt. Der Gnadenerweis der zaristischen Behörden, der einen längeren Aufenthalt zur gesundheitlichen Wiederherstellung auf dem ukrainischen Landgut des Bruders ermöglicht, ist für sie am Ende nichts als eine zusätzliche Peinigung, denn nach Ablauf der ihr zugestandenen Frist muß sie, ungeachtet aller Eingaben und Gesuche, und obwohl sie dem Tod nun schon näher ist als dem Leben, mit Konrad zurück ins Exil. Am Tag der Abreise steht Evelina Korzeniowska, umgeben von der Schar der Verwandten und Bediensteten und von den aus der Nachbarschaft herbeigekommenen Freunden, auf der Freitreppe des Herrenhauses von Novofastov. Sämtliche Versammelten, ausgenommen die Kinder und die Livrierten, tragen Kleider aus schwarzem Tuch oder schwarzer Seide. Gesprochen wird kein einziges Wort. Die halbblinde Großmama starrt über die traurige Szene hinaus in das leere Land. Auf der gebogenen Sandbahn, die um das Buchsbaumrondell herumführt, hält eine bizarre, eigentümlich verlängert wirkende Kutsche. Viel zu weit nach vorn ragt die Deichsel, viel zu weit scheint der Bock mit dem Kutscher entfernt vom rückwärtigen Ende des mit Reisetruhen und Gepäckstücken jeder Art überladenen Gefährts. Das Kutschengehäuse selbst hängt niedrig zwischen den Rädern wie zwischen zwei für immer auseinandergeratenen Welten. Der Wagenschlag steht offen, und drinnen, auf dem rissigen Lederpolster, sitzt seit einiger Zeit schon der Knabe Konrad und sieht, aus dem Dunkel heraus, das, was er später beschreiben wird. Untröstlich blickt die arme Mama noch einmal in die Runde, dann steigt sie vorsichtig am Arm des


Onkels Tadeusz

über die Stufen herab. Die Zurückbleibenden behalten die Fassung. Sogar die Lieblingscousine Konrads, die in ihrem Schottenrock unter der schwarzen Gesellschaft wie eine Prinzessin aussieht, legt zum Ausdruck des Entsetzens über die Abfahrt der beiden Verbannten nur die Fingerspitzen vor den Mund. Und das häßliche Schweizerfräulein Durand, das sich den ganzen Sommer über mit der größten Hingebung um die Erziehung Konrads gekümmert hat und das sonst bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbricht, ruft, indem sie zum Abschied mit dem Schnupftuch winkt, ihrem Zögling tapfer noch zu: N’oublie pas ton français, mon chéri! Der Onkel Tadeusz macht den Wagenschlag zu und tritt einen Schritt zurück. Die Kutsche ruckt an. Schon verschwinden die Freunde und lieben Verwandten aus dem kleinen Ausschnitt des Fensters. Als Konrad auf der anderen Seite hinausblickt, sieht er, wie sich weit vorne, jenseits des Buchsbaumrondells, das nach russischer Art mit drei Pferden bespannte Wägelchen des Distriktspolizeikommandanten in Bewegung setzt und wie sich der Polizeikommandant gerade seine flache, von einem feuerroten Band umspannte Schirmmütze mit der behandschuhten Hand tief in die Augen drückt.

Anfang April 1865, achtzehn Monate nach der Abreise von Novofastov, stirbt die zweiunddreißigjährige Evelina Korzeniowska im Exil an den Schatten, die die Tuberkulose in ihrem Körper ausgebreitet hat, und an dem Heimweh, das ihre Seele zersetzte. Auch der Lebenswille Apollos ist nahezu völlig erloschen. Kaum daß er sich der Instruktion seines von so viel Unglück bedrückten Sohnes zu widmen vermag. Die eigene Arbeit nimmt er fast nie mehr vor. Höchstens, daß er hie und da eine Zeile umändert in seiner Übersetzung von Victor Hugos
Les travailleurs de la mer. Dieses unendlich langweilige Buch kommt ihm vor wie der Spiegel des eigenen Lebens. C'est un livre sur des déstinées dépaysées, sagt er einmal zu Konrad, sur des individus expulsés et perdus, sur les eliminés du sort, un livre sur ceux qui sont seuls et évités. 1867, kurz vor Weihnachten, wird Apollo Korzeniowski aus dem russischen Exil entlassen. Die Behörden sind zu dem Schluß gekommen, daß er jetzt keinen Schaden mehr anrichten kann und stellen ihm, zu Erholungszwecken, einen Paß aus, gut für eine einmalige Reise nach Madeira. Aber eine solche Reise zu unternehmen, das erlauben weder Apollos Finanzen, noch gestattet es sein inzwischen äußerst gebrechlicher Zustand.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Lemberg, wo es ihm zu österreichisch ist, bezieht er ein paar Zimmer in der Poselska-Straße in Krakau. Hier verbringt er die meiste Zeit reglos in seinem Lehnstuhl, trauernd um seine verlorene Frau, um das ganze mißlungene Leben und um den armen, einsamen Knaben, der gerade ein patriotisches Theaterstück geschrieben hat mit dem Titel Die Augen des Johan Sobieski. Er, Apollo, hat all seine eigenen Manuskripte im Kaminfeuer verbrannt. Manchmal hob dabei eine gewichtlose, einem Fetzchen schwarzer Seide gleichende Rußflocke sich ab und trieb, von der Luft getragen, eine Weile durch den Raum, ehe sie irgendwo zu Boden sank oder sich auflöste in der Dunkelheit. Wie für Evelina so kam der Tod für Apollo im Frühjahr, als es draußen zu tauen begann, doch es war ihm nicht vergönnt, an ihrem Jahrtag aus dem Leben zu scheiden. Bis weit in den Mai hinein mußte er, weniger und weniger werdend, noch liegenbleiben in seinem Bett. Konrad saß während dieser Sterbewochen spätnachmittags nach der Schule immer an einem von einer grünen Lampe beleuchteten Tischchen in einem fensterlosen Kabinett und machte seine Hausaufaufgaben. Die Tintenflecke im Heft und an Händen kamen von der Angst in seinem Herzen. Wenn die Tür zum Nebenzimmer aufging, hörte er den flachen Atem des Vaters. Zwei Nonnen mit schneeweißen Hauben versahen den Krankendienst. Lautlos glitten sie hin und her, verrichteten dieses und jenes und blickten bisweilen voller Besorgnis auf das jetzt bald elternlose Kind, wie es die Buchstaben aneinanderreihte, Zahlen zusammenzählte oder las, Stunden über Stunden, dicke polnische und französische Abenteuerbücher, Reisebeschreibungen und Romane.

Das Begräbnis des Patrioten Apollo Korzeniowski wurde zu einer großen, stillschweigenden Demonstration. Entlang der für den Verkehr gesperrten Straßen standen in feierlicher Ergriffenheit barhäuptige Arbeiter, Schulkinder, Universitätsstudenten und Bürger mit gezogenem Zylinder, und überall in den nach außen geöffneten Fenstern der oberen Stockwerke drängten sich Gruppen schwarzgekleideter Menschen. Der Leichenzug mit dem zwölfjährigen Konrad als dem Hauptleidtragenden an der Spitze bewegte sich aus der engen Gasse heraus, durch die Mitte der Stadt, vorbei an den ungleichen Türmen der Marienkirche in Richtung des Florianstors. Es war ein schöner Nachmittag. Der blaue Himmel wölbte sich über die Dächer der Häuser, und die Wolken fuhren hoch droben vor dem Wind dahin wie ein Geschwader von Seglern. Vielleicht hat Konrad im Verlauf der Beisetzung, während der Geistliche in dem schweren silberbestickten Ornat dem Toten in der Grube Zauberworte nachmurmelte, einmal den Blick gehoben und dieses Wolkensegelschauspiel gesehen wie niemals in seinem Leben zuvor, und vielleicht ist ihm dabei der für den Sohn eines polnischen Landedelmanns ganz und gar abwegige Gedanke gekommen, Kapitän werden zu wollen, den er drei Jahre später seinem Vormund gegenüber zum erstenmal äußert und von dem er sich in der Folge um nichts in der Welt mehr abbringen läßt, auch dann nicht, als ihn der Onkel Tadeusz mit seinem Privatlehrer Pulman auf eine mehrwöchige Sommerreise schickt in die Schweiz. Pulman sollte seinem Schützling bei jeder möglichen Gelegenheit vor Augen führen, wie viele verschiedene Laufbahnen es gebe außer dem Seemannsberuf, aber wovon er auch redete angesichts des Rheinfalls bei Schaffhausen, in Hospenthal, bei der Besichtigung der Baustelle des St.-Gotthard-Tunnels und droben auf dem Furka-Paß, Konrad bestand fest auf dem einmal gefaßten Plan. Ein Jahr später bereits, am 14. Oktober 1874 er ist noch nicht siebzehn - , verabschiedet er sich von seiner Großmutter Theophila Bobrowska und dem treuen Onkel Tadeusz, die beide draußen vor dem Zugfenster stehen auf dem Bahnhof von Krakau. Das Billett nach Marseille in seiner Tasche hat 137 Gulden gekostet und 75 Groschen. Sonst führt er mit sich nur, was in sein Handköfferchen paßt, und sechzehn Jahre werden vergehen, ehe er, besuchsweise, wieder in sein immer noch nicht befreites Geburtsland zurückkehrt.

1875 überquert Konrad Korzeniowski auf dem Dreimaster Mont Blanc zum erstenmal den Atlantischen Ozean. Ende Juli ist er in Martinique, wo das Schiff zwei Monate vor Anker bleibt. Die Heimfahrt dauert beinahe ein Vierteljahr. Erst am Weihnachtstag läuft die Mont Blanc, schwer angeschlagen von den Winterstürmen, in Le Havre ein. Unbeirrt von dieser strapaziösen Initiierung in das Seeleben, macht Konrad Korzeniowski weitere Reisen zu den Westindischen Inseln, nach Cap-Haitien, nach Port-au-Prince, nach St. Thomas und dem wenig später von einem Ausbruch des Mont Pelée zerstörten St. Pierre.

Hinüber werden Waffen gebracht, Dampfmaschinen, Pulver und Munition. Herüber kommt tonnenweise Zucker und das in den Regenwäldern geschlagene Holz. Die Zeit, in der er nicht zur See ist, verbringt Korzeniowski in Marseille sowohl mit seinen Berufsgenossen als auch mit vornehmeren Leuten. Im Cafe Boudol in der Rue Saint-Ferréol und im Salon der majestätischen Gattin des Bankiers und Reeders Delestang gerät er in eine aus Adeligen, Bohemiens, Geldgebern, Abenteurern und spanischen Legitimisten seltsam gemischte Gesellschaft. Die letzten Zuckungen der Ritterlichkeit vereinigen sich mit den skrupellosesten Machenschaften, komplizierte Intrigen werden gesponnen, Schmugglersyndikate gegründet und undurchsichtige Geschäfte abgeschlossen. Korzeniowski ist vielfach verstrickt, verbraucht weit mehr als er hat und erliegt den Verführungen einer geheimnisvollen, mit ihm etwa gleichaltrigen, aber nichtsdestoweniger bereits im Witwenstand sich befindenden Dame. Diese Dame, deren wahre Identität nie mit Sicherheit festgestellt werden konnte, war in den Kreisen der Legitimisten, in denen sie eine prominente Rolle spielte, unter dem Namen Rita bekannt, und es wurde behauptet, daß sie die Geliebte des Bourbonenprinzen Don Carlos gewesen sei, den man, auf die eine oder andere Weise, auf den spanischen Thron bringen wollte. Später ist von verschiedener Seite das Gerücht ausgestreut worden, daß es sich bei der in einer Villa in der Rue Sylvabelle residierenden Doña Rita und bei einer gewissen Paula de Somoggy um ein und dieselbe Person gehandelt habe. Dieser Geschichte zufolge hat Don Carlos, als er im November 1877 von einer Besichtigung der Frontstellungen des russisch-türkischen Krieges nach Wien zurückkam, eine Mme. Hannover gebeten, ihm eine junge Choristin namens Paula Horvath aus Pest zuzuführen, die ihm, wie man annehmen muß, ihrer Schönheit wegen in die Augen gestochen war.

Von Wien aus fuhr Don Carlos mit seiner neu aquirierten Begleiterin zuerst zu seinem Bruder nach Graz und von dort aus nach Venedig, Modena und Mailand, wo er sie als Baronin de Somoggy in der Gesellschaft vor stellte. Das Gerücht von der Identität der beiden Geliebten hatte seinen Ursprung wahrscheinlich darin, daß Rita genau zu dem Zeitpunkt aus Marseille verschwand, zu dem die Baronin von Don Carlos, angeblich aufgrund einer von der bevorstehenden ersten heiligen Kommunion seines Sohnes Jaime ausgelösten Gewissenskrise, fallengelassen beziehungsweise weiterverheiratet wurde an den Tenor Angel de Trabadelo, mit dem sie anscheinend bis zu ihrem Tod im Jahr 1917 glücklich und zufrieden in London zusammenlebte. Es muß zwar dahingestellt bleiben, ob Rita und Paula wirklich miteinander identisch waren, aber daß der junge Korzeniowski die Gunst einer dieser, sei es als Ziegenmädchen im katalonischen Hochland, sei es als Gänsehirtin am Plattensee aufgewachsenen Damen zu erlangen suchte, das steht ebenso außer Frage wie die Tatsache, daß die in manchem ans Phantastische grenzende Liebesgeschichte ihren Höhepunkt Ende Februar 1877 erreichte, als Korzeniowski sich entweder selber durch die Brust schoß oder von einem Rivalen durch die Brust geschossen wurde. Es gilt nämlich bis heute als ungeklärt, ob die glücklicherweise nicht lebensgefährliche Verletzung die Folge eines Duells gewesen ist, wie Korzeniowski später behauptete, oder, wie der Onkel Tadeusz vermutete, die eines Selbstmordversuchs. Inspiriert war die dramatische Geste, vermittels welcher der als Stendhalien sich empfindende junge Mensch offenbar klare Verhältnisse schaffen wollte, jedenfalls von der Oper, die damals in Marseille ebenso wie in allen anderen europäischen Städten die Gesellschaftssitten und insbesondere die Ausprägungen der Liebessehnsucht bestimmte. Korzeniowski hatte im Théâtre de Marseille die musikalischen Kreationen von Rossini und Meyerbeer kennengelernt und war hingerissen vor allem von den damals nach wie vor im größten Schwang sich befindenden Operetten Jacques Offenbachs, zu denen ein Libretto mit dem Titel Konrad Korzeniowski und die Verschwörung der Carlisten in Marseille gut eine weitere Vorlage hätte abgeben können. In Wirklichkeit freilich wurde ein anderer Schlußstrich unter die französischen Lehrjahre Korzeniowskis gezogen, als er am 24. April 1878 mit dem Steamer Mavis Marseille in Richtung Konstantinopel verließ. Der russisch-türkische Krieg war zu Ende gegangen, aber Korzeniowski konnte vom Schiff aus, wie er später berichtete, noch die einer Fata Morgana gleichende Zeltstadt von


San Stefano

vorbeigleiten sehen, in der man den Friedensvertrag unterzeichnet hatte. Von Konstantinopel aus ging der Dampfer nach Yeisk am äußersten Meer von Asow, wo eine Ladung Leinöl an Bord genommen wurde, mit der die SS. Mavis, wie in den Büchern der Hafenmeisterei von Lowestoft vermerkt ist, am Dienstag, dem 18. Juni 1878 an der englischen Ostküste anlangte.

Zwischen Juli und Anfang September, dem Zeitpunkt seiner Abreise nach London, macht Korzeniowski als Matrose auf dem zwischen Lowestoft und Newcastle hin- und herfahrenden Frachter
Skimmer of the Seas ein halbes Dutzend Touren. Wie er die zweite Junihälfte in dem zu Marseille im denkbar größten Gegensatz stehenden Seehafen und Badeplatz Lowestoft zugebracht hat, darüber ist wenig bekannt. Er wird sich ein Mietzimmer genommen und die für seine weiteren Pläne nötigen Erkundigungen eingeholt haben. Am Abend, wenn die Dunkelheit über dem Meer heraufzog, spazierte er wohl auf der Esplanade, ein einundzwanzig Jahre alter Fremder, einsam unter lauter Engländern und Engländerinnen. Ich sehe ihn beispielsweise draußen auf dem Pier stehen, wo von einer Blechkapelle gerade die Tannhäuser-Ouvertüre gespielt wird als Nachtmusik. Und als er zwischen den anderen Zuhörern durch die über dem Wasser wehende sanfte Brise langsam nach Hause geht, da wundert er sich, mit welcher Leichtigkeit ihm auf einmal die ihm bisher vollkommen unvertraute englische Sprache, in der er später seine Welt rühm erlangenden Romane schreiben wird, zufliegt und wie sie ihn zu erfüllen beginnt mit einer ganz neuen Zuversicht und Zielstrebigkeit.

Korzeniowskis erste englische Lektüren waren nach seiner eigenen Auskunft der Lowestoft Standard und das Lowestoft Journal, in denen in der Woche seiner Ankunft die folgenden, für diese beiden Organe durchaus bezeichnenden gemischten Nachrichten dem Publikum zur Kenntnis gebracht wurden: Eine furchtbare Bergwerksexplosion in Wigan forderte zweihundert Menschenleben; in Rumelien kommt es zu einem Aufstand der Mohammedaner; in Südafrika müssen die Kaffernunruhen niedergeschlagen werden; Lord Grenville verbreitet sich über die Erziehung des weiblichen Geschlechts; ein Despatch Boat geht nach Marseille ab, um den Herzog von Cambridge nach Malta zu bringen, wo er die indischen Truppen inspizieren wird; ein Dienstmädchen in Whitby verbrennt bei lebendigem Leib, weil ihr Kleid, über das sie versehentlich Paraffinöl ausgegossen hat, am offenen Kamin Feuer fängt; der Dampfer Largo Bay verläßt den Clyde mit 352 schottischen Auswanderern an Bord; eine Mrs. Dixon aus Silsden wird vor Freude vom Schlag gerührt, als ihr Sohn Thomas, der beinahe zehn Jahre in Amerika gewesen ist, plötzlich unter ihrer Türe steht; die junge Königin von Spanien wird Tag für Tag schwächer; die Arbeiten an den Befestigungswerken von Hongkong, bei denen über zweitausend Kulis beschäftigt sind, rapidly approach completion and in Bosnia all highways are infested with bands of robbers, some of them mounted. Even the forests around Sarajevo are swarming with marauders, deserters and franc-tireurs of all kinds. Travelling is, therefore, at a standstill.

Im Februar 1890, also zwölf Jahre nach der Ankunft in Lowestoft und über fünfzehn Jahre nach dem Abschied auf dem Krakauer Bahnhof, kehrt Korzeniowski, der inzwischen die britische Staatsbürgerschaft und das Kapitänspatent erworben hat und in den fernsten Teilen der Welt gewesen ist, erstmals nach Kazimierowska in das Haus seines Onkels Tadeusz zurück. In einer sehr viel später gemachten Aufzeichnung beschreibt er, wie er, nach kurzen Aufenthalten in Berlin, Warschau und Lublin schließlich an der ukrainischen Station anlangt, an welcher der Kutscher und der Majordomo seines Onkels ihn erwarten in einem mit vier Falben bespannten, sonst aber sehr kleinen, beinahe einem Spielzeug gleichenden Schlitten. Acht Fahrstunden sind es noch bis nach Kazimierowska. Fürsorglich, schreibt Korzeniowski, verpackte mich der Majordomo, ehe er an meiner Seite Platz nahm, in einen mir bis an die Fußspitzen reichenden Mantel aus Bärenfell und stülpte mir eine enorme, mit Ohrenklappen versehene Pelzmütze auf. Als der Schlitten anruckte, begann für mich, begleitet von dem leisen gleichmäßigen Schellengeräusch, eine Winterreise zurück in die Kindheit. Mit sicherem Instinkt fand der junge, vielleicht sechzehnjährige Kutscher den Weg durch die endlosen, schneebedeckten Felder. Auf eine Bemerkung meinerseits, so Korzeniowski weiter, über den staunenswerten Orientierungssinn unseres Kutschers, der nirgends zögerte und nicht ein einziges Mal in die Irre fuhr, sagte der Majordomo, daß er, der junge Kutscher, ein Sohn des alten Kutschers Josef sei, der meine Großmutter Bobrowska seligen Angedenkens immer gefahren und später mit nicht minderer Treue dem Pane Tadeusz gedient habe, bis die Cholera ihn dahinraffte. Auch seine Frau, sagte der Majordomo, ist an der mit dem Eisbruch gekommenen Krankheit gestorben, und ein ganzes Haus voller Kinder, und nur dieser taubstumme Junge, der da vor uns auf dem Bock sitzt, ist als einziger übriggeblieben. Man hat ihn nie auf die Schule geschickt und nicht damit gerechnet, ihn je zu irgend etwas gebrauchen zu können, bis es sich zeigte, daß die Pferde ihm folgten wie keinem anderen Knecht. Und als er ungefähr elf war, da erwies es sich bei irgendeiner Gelegenheit, daß er die Karte des gesamten Distrikts mit jeder Wegbiegung so akkurat in seinem Kopf hatte, als sei er geboren worden mit ihr. Nie, schreibt Korzeniowski im Anschluß an die von ihm übermittelte Erzählung seines Begleiters, bin ich besser gefahren als damals in die um uns her sich ausbreitende Dämmerung hinein. Wie früher, vor langer Zeit, sah ich die Sonne über die Ebene sich senken. Eine große, rote Scheibe, senkte sie sich in den Schnee, als ginge sie unter über dem Meer. Geschwind fuhren wir in die nun einbrechende Dunkelheit hinein, in die unermeßliche, an den Sternenhimmel angrenzende weiße Wüste, in der wie Schatteninseln die von Bäumen umstandenen Dörfer trieben. Bereits vor seiner Reise nach Polen und in die Ukraine hatte sich Korzeniowski um eine Anstellung bei der Société Anonyme pour le Commerce du Haut-Congo bemüht. Unmittelbar nach der Rückkehr von Kazimierowska sprach er nochmals persönlich vor in der Zentralverwaltung der Gesellschaft in der Brüsseler Rue de Brederode bei dem


Geschäftsführer Albert Thys

Thys, dessen gallertartiger Leib in einen ihm viel zu knappen Gehrock gezwängt war, saß in einem dusteren Bureau unter einer die ganze Wandfläche bedeckenden Karte von Afrika und offerierte Korzeniowski, kaum daß dieser sein Anliegen vorgebracht hatte, ohne weiteres das Kommando eines am Oberlauf des Kongo verkehrenden Dampfboots, wahrscheinlich weil dessen Kapitän, ein Deutscher oder Däne namens Freiesleben, gerade von den Eingeborenen umgebracht worden war. Nach zwei Wochen überstürzter Vorbereitungen und einer kursorischen Untersuchung auf Tropentauglichkeit bei dem einem gespenstischen Knochenmann gleichenden Vertrauensarzt der Société fährt Korzeniowski mit der Bahn nach Bordeaux und schifft sich auf der Mitte Mai nach Boma auslaufenden Ville de Maceió ein. Schon in Teneriffa überfallen ihn böse Vorahnungen. Das Leben, schreibt er an seine schöne, soeben verwitwete Tante Marguerite Poradowska nach Brüssel, sei eine Tragikomödie - beaucoup des rêves, un rare éeclair de bonheur, un peu de colère, puis le désillusionnement, des années de souffrance et la fin -, in der man wohl oder übel seinen Part spielen müsse. Aus dieser unguten Stimmung heraus erkennt Korzeniowski im Verlauf der langen Seereise allmählich den Wahnwitz des ganzen kolonialen Unternehmens. Tag für Tag ist das Meeresufer unverändert, als bewege man sich nicht von der Stelle. Und doch, so schreibt Korzeniowski, sind wir an verschiedenen Landungsplätzen und Faktoreien vorbeigekommen mit Namen wie Gran’ Bassam oder Little Popo, die allesamt irgendeiner grotesken Farce zu entstammen scheinen. Einmal passierten wir ein Kriegsschiff, das vor einem trostlosen Küstenstrich lag, auf dem nicht das geringste Anzeichen einer Ansiedlung zu sehen war. So weit das Auge reichte, nur der Ozean und der Hlimmel und der hauchdünne grüne Streifen der Buschvegetation. Schlapp hing die Fahne vom Mast herunter, träge hob und senkte sich der schwere eiserne Kahn auf der schmierigen Dünung, und in regelmäßigen Abständen feuerten die langen Sechs-Zoll-Kanonen offenbar ziel- und zwecklos hinein in den fremden afrikanischen Kontinent.

Bordeaux, Teneriffa, Dakar, Conakry, Sierra Leone, Kotonou, Libreville, Loango, Banane, Boma - nach vier Wochen zur See erreichte Korzeniowski endlich den Kongo, eines der fernsten Traumziele seiner Kindheit. Damals war der Kongo nur ein weißer Fleck auf der Afrikakarte gewesen, über die er, die farbigen Namen leise vor sich hin murmelnd, gebeugt saß oft stundenlang. Fast nichts war im Inneren dieses Weltteils eingezeichnet, keine Bahnlinie, keine Straße, keine Stadt, und weil die Kartographen in solche Leerräume gern irgendein exotisches Tier, einen brüllenden Löwen oder ein Krokodil mit aufgesperrtem Rachen, hineinmalten, machten sie aus dem Kongo-Fluß, von dem man nur wußte, daß sein Ursprung Tausende von Meilen von der Küste entfernt war, eine quer durch das immense Land sich ringelnde Schlange. Inzwischen freilich war die Karte ausgefüllt worden.
The white patch had become a place of darkness. Tatsächlich gibt es in der ganzen, größtenteils noch ungeschriebenen Geschichte des Kolonialismus kaum ein finstereres Kapitel als das der sogenannten Erschließung des Kongo. Im September 1876 wird unter Verkündigung der denkbar besten Absichten und unter angeblicher Hintanstellung aller nationalen und privaten Interessen die Association Internationale pour l'Exploration et la Civilisation en Afrique ins Leben gerufen. Hochgestellte Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Gesellschaft, Vertreter des Hochadels, der Kirchen, der Wissenschaft und des Wirtschafts- und Finanzwesens nehmen an der Gründungsversammlung teil, bei der König Leopold, der Schirmherr des vorbildlichen Unternehmens, erklärt, daß die Freunde der Menschheit keinen edleren Zweck verfolgen könnten als den, der sie heute vereine, nämlich die Öffnung des letzten Teils unserer Erde, der bislang von den Segnungen der Zivilisation unberührt geblieben sei. Es ginge darum, sagte


König Leopold,

die Finsternis zu durchbrechen, in der heute noch ganze Völkerschaften befangen seien, ja es ginge um einen Kreuzzug, der wie kein anderes Vorhaben angetan sei, das Jahrhundert des Fortschritts seiner Vollendung entgegenzuführen. Naturgemäß verflüchtigte sich in der Folge der hohe, in dieser Deklaration zum Ausdruck gebrachte Sinn. Bereits 1885 ist Leopold, der jetzt den Titel Souverain de l'Etat Indépendent du Congo trägt, der alleinige, niemandem zur Rechenschaft verpflichtete Herrscher über das am zweitlängsten Fluß der Erde liegende, eine Million Quadratmeilen und somit hundertmal die Fläche des Mutterlandes umfassende Territorium, dessen unerschöpfliche Reichtümer er nun ohne jede Rücksichtnahme auszubeuten beginnt. Die Instrumente der Ausbeutung sind Handelskompanien wie die Société Anonyme pour le Commerce du Haut Congo, deren bald legendäre Bilanzen beruhen auf einem von sämtlichen Aktionären und sämtlichen im Kongo tätigen Europäern sanktionierten Zwangsarbeits- und Sklavensystem. In manchen Regionen des Kongo wird die eingeborene Bevölkerung durch die erpreßte Arbeitsleistung bis auf geringe Reste dezimiert, und auch die aus anderen Teilen Afrikas oder aus Übersee Verschleppten gehen scharenweise an der Ruhr, am Sumpffieber, an den Blattern, an Beriberi, Gelbsucht, Hunger, körperlicher Erschöpfung und Auszehrung zugrunde. Zwischen 1890 und 1900 lassen jedes Jahr schätzungsweise fünfhundert tausend dieser namenlosen, in keinem Jahresbericht verzeichneten Opfer ihr Leben. Im selben Zeitraum steigen die Aktien der Compagnie du Chemin de Fer du Congo von 320 auf 2850 belgische Franken.

Nach seiner Ankunft in Boma wechselt Korzeniowski von der Ville de Maceio auf einen kleinen Flußdampfer, mit dem er am 13. Juni Matadi erreicht. Von hier aus muß er über Land, denn zwischen Matadi und Stanley Pool ist der Kongo wegen zahlreicher Wasserfälle und Stromschnellen nicht befahrbar. Matadi ist eine desolate, von seinen Bewohnern die Stadt der Steine genannte Ansiedlung, die wie ein Geschwür den Schutt überzieht, der seit Jahrtausenden ausgeworfen wird von dem unablässig rumorenden Mahlwerk des Höllenkessels am Ausgang dieser vierhundert Kilometer langen, bis heute nicht bezwungenen Strecke. Zwischen Geröllhalden und den mit rostigem Wellblech gedeckten, willkürlich in die Gegend gesetzten Baracken, unterhalb der hohen Felsenklippen, aus denen der Strom sich hervordrängt, sowie an den steilen Abhängen der Ufer, überall sieht man schwarze Figuren in Trupps bei der Arbeit und Trägerkolonnen, die in langer Linie sich fortbewegen durch das unwegsame Terrain. Nur hie und da steht zwischen ihnen ein Aufseher in einem hellen Anzug und mit einem weißen Helm auf dem Kopf. Hin paar Tage schon ist Korzeniowski in der von einem ununterbrochenen Tosen erfüllten, an einen riesigen Steinbruch ihn erinnernden Arena, als er, wie er später seinen Stellvertreter Marlow in Heart of Darkness erzählen läßt, ein Stück weit außerhalb des besiedelten Areals auf einen Platz stößt, an dem die von Krankheit Zerstörten und von Hunger und Arbeit Ausgehöhlten zum Sterben sich niederlegen. Wie nach einem Massaker liegen sie da in dem gräulichen Dämmer auf dem Grunde der Schlucht. Offenbar hält man diese Schattenwesen nicht auf, wenn sie sich davonschleichen in den Busch. Sie sind jetzt frei, frei wie die Luft, die sie umgibt und in die sie sich nach und nach auflösen werden. Allmählich, berichtet Marlow, dringt aus dem Dunkel der Glanz einiger aus dem Jenseits auf mich gerichteten Augen. Ich beuge mich hinab und sehe ein Gesicht neben meiner Hand. Langsam heben sich die Lider. Irgendwo weit hinter dem leeren Blick rührt sich nach einer Weile ein blindes Flackern, das gleich wieder erlischt. Und während so ein kaum dem Knabenalter entwachsener Mensch seinen letzten Atem verströmt, tragen diejenigen, die noch nicht am Ende sind, zentnerschwere Säcke mit Nahrungsmitteln, Werkzeugkisten, Sprengsätze, Ausrüstungsgegenstände jeder Art, Maschinenteile und auseinandermontierte Schiffsleiber durch Sümpfe und Wälder und über das von der Sonne ausgedörrte Hochland, oder sie arbeiten am Berg Palaballa und am M'pozo-Fluß an der Trasse der Bahn, die Matadi mit dem Oberlauf des Kongo verbinden wird. Korzeniowski legt diese Strecke, an der bald die Niederlassungen Songolo, Thumba und Thysville entstehen, unter großen Strapazen zurück. Einunddreißig Träger hat er dabei und als unwillkommenen Reisebegleiter einen übergewichtigen Franzosen namens Harou, der immer dann ohnmächtig wird, wenn man gerade meilenweit vom nächsten schattigen Platz entfernt ist, so daß er über lange Wegstücke in einer Hängematte transportiert werden muß. Nahezu vierzig Tage dauert der Marsch, und während dieser Zeit beginnt Korzeniowski zu begreifen, daß die Mühen, unter denen er zu leiden hat, ihn nicht von der Schuld befreien, die er durch seine bloße Anwesenheit im Kongo auf sich lädt. Von Leopoldville aus fährt er zwar noch auf einem Dampfboot, dem


Roi des Belges

den Oberlauf des Stromes bis Stanley Falls hinauf, aber der ursprünglich von ihm verfolgte Plan, hier für die Société Anonyme ein Kommando zu übernehmen, erfüllt ihn inzwischen nur mehr mit Ekel. Die alles zersetzende Feuchtigkeit der Luft, das mit dem Herzschlag pulsierende Sonnenlicht, die immergleiche dunstig verhangene Ferne über der Wasserstraße voraus, die ihm von Tag zu Tag irrsinniger erscheinende Gesellschaft auf dem Roi des Belges - er weiß, er wird umkehren müssen. yTout m'est antipathique ici, schreibt er an Marguerite Poradowska, les hommes et les choses, mais surtout les hommes. Tous ces boutiquiers africains et marchands d’ivoire aux instincts sordides. Je regrette d’etre même ici. Je le regrette même amèrement. Zurück in Leopoldville, ist Korzeniowski so krank am Leib und an der Seele, daß er sich selber den Tod wünscht. Aber es wird noch ein Vierteljahr dauern, bis er, der von jetzt ab immer wieder lang anhaltende, mit seiner schriftstellerischen Arbeit abwechselnde Verzweiflungsanfälle hat, in Borna die Heimreise antreten kann. Mitte Januar 1891 kommt er in Ostende an, in demselben Hafen, den in wenigen Tagen ein gewisser Joseph Loewy an Bord des nach Borna gehenden Dampfschiffs Belgian Prince verläßt. Loewy, ein Onkel des damals siebenjährigen Franz Kafka, weiß als ehemaliger Panamist genau, was ihn erwartet. Insgesamt zwölf Jahre, fünf jeweils mehrmonatige Kur- und Erholungsaufenthalte in Europa eingerechnet, wird er in verschiedenen wichtigen Stellungen in Matadi verbringen, wo die Lehensbedingungen für seinesgleichen nach und nach etwas erträglicher werden. So sollen beispielsweise im Juli 1896, anläßlich der Fertigstellung der Halbwegstation Thumba, den geladenen Gästen nebst einheimischen Delikatessen auch europäische Speisen und Weine vorgesetzt worden sein. Zwei Jahre nach diesem denkwürdigen Ereignis bekommt Loewy

(ganz links im Bild), der inzwischen zum Chef des gesamten Handelsdienstes aufgestiegen ist, bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung des letzten Teilstücks der Kongo-Bahn von König Leopold persönlich die Goldmedaille des Ordre du Lion Royal verliehen.

Korzeniowski, der nach der Ankunft in Ostende sogleich zu Marguerite Poradowska nach Brüssel fährt, empfindet jetzt die Hauptstadt des Königreichs Belgien mit ihren immer bombastischer werdenden Gebäuden wie ein über einer Hekatombe von schwarzen Leibern sich erhebendes Grabmal, und die Passanten auf den Straßen kommen ihm vor, als trügen sie allesamt das dunkle kongolesische Geheimnis in sich. Tatsächlich gibt es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit, wie man sie anderwärts nur selten antrifft.



Joseph Conrad (1857 - 1924) und Lord Jim

Computerspiele, und viele Filme beruhen auf seinen Romanen, wie etwa Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes oder Francis Ford Coppolas Kriegsdrama Apocalypse Now, häufig diskutiert und neuartig interpretiert: Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski, der Pole, der 1886 die britische Staatsbürgerschaft erhält und 1888 Kapitän der


Otago

wird.

Als Kapitän eines Flussdampfers an den Stanley-Fällen des Kongo befällt ihn schweres Fieber, das Kanu, das ihn an Land bringen soll, kentert, Conrad wird gerettet, sein letzter Versuch 1893, auf See wieder zu gesunden, misslingt, er wird Schriftsteller, schafft ein umfangreiches literarisches Werk in englischer Sprache, die Romane und Erzählungen zählen zu den berühmtesten Werken der britischen Literatur. Sohn Borys (1898–1978) veröffentlicht 1970 ein Erinnerungsbuch an seinen Vater.

Francesco Schettino von der "Costa Concordia" ist nicht allein. Joseph Conrad erwägt in seinen Romanen immer wieder die Psychologie von Fehltritten und Angst, seine Seemänner stehen allesamt in der Verantwortung, Naturgewalten und menschliche Nöte überwinden zu müssen. Der polnische Kapitän a. D. greift gerne auf eigene Erlebnisse zurück, er schafft den berühmtesten Feigling der Literaturgeschichte, "Lord Jim", den die Malaien nur Tuan Jim nennen.

Am 17. Juli 1880 legt der britische Dampfer S. S. Jeddah, Besatzung 50 Mann, und die Frau des Kapitäns Joseph Clark, in Singapur ab, nimmt in Penang, Malaysia, 953 Menschen an Bord, außerdem 600 Tonnen Güter, hauptsächlich Zucker und Bauholz, fährt nach Dschidda, Ziel der Passagiere Mekka. Das Schiff gerät in einen mehrtägigen Orkan, die Dampfkessel platzen, hastig gesetzte Segel zerfetzt der Wind, das Schiff schlägt leck. Mannschaft und Passagiere schöpfen und pumpen vier Tage lang Wasser, der Kapitän lässt im Glauben, das Schiff sei verloren, tief in der Nacht das Rettungsboot an Steuerbord ausschwingen, er, seine Frau und der Erste Ingenieur steigen ein. Panik entsteht. Die Mekkapilger werfen alles, was sie finden, nach den Flüchtlingen. Das Ehepaar und 19 Mann Besatzung schwimmen davon. Am nächsten Morgen sichtet ein Schiff die Schiffbrüchigen, brachte sie nach Aden. Kapitän Clark sendet ein Telegramm nach Singapur, meldete den vollständigen Untergang der "Jeddah".

Skandal.

Am gleichen Abend, nur eine Stunde später, kommt ein anderes Telegramm bei der Reederei an: "Vollgelaufene ,Jeddah' im Schlepp der ,Antenor' hierher verbracht. Sämtliche Leben gerettet. Schiff in behördl. Gewahrsam." Die Pilger hatten Teile der verbliebenen Mannschaft gezwungen, an Bord zu bleiben, weiter Wasser geschöpft, neue Segel gesetzt. Der Wind steht gut, S. S. Jeddah treibt in Richtung Küste, Dampfschiff Antenor findet sie.

Kapitän Clark gibt eine Stellungnahme ab, die der von Kapitän Schettino ähnelt. Er sei von aufgebrachten Pilgern bedroht und ins Rettungsboot gestoßen worden. Das Seegericht Aden spricht den Kapitän schuldig. Er hätte versagt, einen "beschämenden Mangel an Mut und primitivstem Urteilsvermögen an den Tag gelegt", sich "schwerstem Fehlverhalten" schuldig gemacht: Drei Jahre Entzug des Kapitänspatent - unglaublich mild. Conrad trifft den Ersten Offizier Augustine Podmore Williams in Singapur (der als Hafen-Agent für Schiffsausrüster arbeitet), Conrad hat gerade die Prüfung fürs Offizierspatent bestanden, kurz darauf segelt der 23-Jährige nach Sydney. 20 Jahre später wird "Lord Jim" zu einem der schönsten See-Bücher.

Jim ist lethargisch und nicht bei Sinnen, Conrad nutzt die eigene Erinnerung an den Brand eines Schiffes."Ich war gesprungen. Ich wusste nichts davon, bis ich aufblickte." Erzähler ist Seemann Marlow, der auch im "Herz der Finsternis" von den Abenteuern berichtet. Jim flieht vor Scham von Hafen zu Hafen, wird überall erkannt, auf Borneo bei einem Malaien-Stamm wird er zu Lord Jim, hilft ihnen gegen einen Räuber, führt sie in den eigentlich aussichtslosen Kampf. Jahre später übernimmt Jim die Verantwortung für den Tod eines Einheimischen, stirbt durch den Schuss ins Herz. Conrads Sympathie gilt ihm, dem Feigling. Er stärkt ihm mit jeder Zeile den Rücken. (Die echte "Jeddah" wurde verkauft, umgetauft, fährt noch Jahre über die Meere. Augustine William heiratete 1883 in Singapur, drei Jahre nach dem Unglück. Das Paar hat 16 Kinder, sieben sterben, die Schmach überlebt den Vater.

Joseph Conrad: Er war ,einer von uns'.