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Die deutsche Literatur besitzt in Alfred Andersch
eines ihrer gesündesten und selbständigsten Talente.

Klappentext,
verfasst von Alfred Andersch



Alfred Andersch
(W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur S. 113 ff )

Erhard Schütz schreibt am 23. 4. 2012 in der Freitag:
Weil das nun auch schon wieder fast 20 Jahre her ist, eine knappe Erinnerung: 1993, im Kontext der Christa-Wolf-Abrechnung, wurde Alfred Andersch von W.G. Sebald moralisch wie literarisch weggeputzt. Anderschs egoistische Scheidung 1943 von seiner nach Nazi-Kategorien „halbjüdischen“ Frau – als „Mischling“ wird Andersch sie gegenüber den Amerikanern bezeichnen –, habe weder 1952 Eingang in sein bekennerisch-autobiografisches Buch Kirschen der Freiheit gefunden, das mit Anderschs Desertion 1944 aus der Hitler-Wehrmacht als Höhepunkt endete, noch habe es ihn 1957 davon abgehalten, in seinem bis heute schulnotorischen Roman Sansibar oder der letzte Grund einen coolen Jungkommunisten, wie Andersch selbst einer gewesen sein will, ein „verwöhntes Mädchen aus reichem jüdischen Haus“ retten zu lassen; ein „Stück umgeschriebene Lebensgeschichte“ schrieb Sebald, der damals noch ziemlich am Anfang seiner Edeldichterkarriere stand. Vielleicht lag es auch daran, dass Andersch schon nicht mehr so präsent war, jedenfalls war die öffentliche Aufregung nicht übermäßig groß; immerhin gab es zwei bedenkenswerte Argumente der Verteidiger.
Moralisch: Wie man sich wohl selbst in den terroristischen Nazizeiten verhalten hätte.
Ästhetisch: Biografie ist eins, das Werk ein anderes.
Gegenargumente: Andere haben sich aufrecht verhalten – und letztlich unbeschadet.
Dann: Wer so hochfahrend wie Andersch andere beurteilt, muss sich mindestens an den eigenen Kriterien messen lassen.
Vor allem: Wenn ein Autor die Autorität seiner Biografie als Eigenkapital in die literarische Produktion einbringt, dann steht oder fällt diese letztlich mit jener.



Sebalds Thesen

    Andersch
  • hat als Leitbild Ernst Jünger, der die Hitlerzeit einläuten half
  • verschweigt die Gründe seiner Nichtemigration in die Schweiz (in der Zeit 1935 bis 1939)
  • seine angebliche "innere Emigration" nach Entlassung aus dem KZ Dachau ist in Wahrheit der zutiefst komprimittierende Vorgang seiner Angleichung an die herrschenden Verhältnisse;
  • seine gewichtigste Auslassung in Kirschen der Freiheit: Ehe mit Angelika Albert
  • stellt am 16. Februar 1943 Antrag auf Aufnahme in Reichsschrifttumkammer und erklärt, geschieden zu sein
  • sein Verhalten im Kommentar seines Bruders Martin: 'eigene Entwicklung' war ihm wichtiger als Moral
  • bezeichnet Albert als "a mogrel of jewish descent" (Mischling jüdischer Abstammung), legt damit penetrante Selbstgerechtigkeit an den Tag, wenn er diese grausige, von deutscher Perversion inspirierte Bezeichnung in seinem Antrag als POW vom 8.10.1944 wählt, ist umso schäbiger, als er, nachdem er Angelika beim Reichsschrifttumskammer-Antrag verleugnet hat, sie nunmehr als "my wife" für sich (trotz Scheidung) reklamiert
  • gelingt, indem er sich Kompaniechef gegenüber auf die in den Mitteilungsblättern an die Wehrmacht abgedruckte Verfügung Hitlers beruft, wonach ehemalige KZ-Insassen zu entlassen sind, seine Abstellung ins Zivilleben.
  • sein O-Ton im Brief an die Mama entlarvt Wahrheitsgehalt der Kirschen der Freiheit : Mit dem Chef, so berichtet er nach Hause, fährt er per Motorrad durch den sonnigen Süden. Pisa, der schiefe Turm, Dom und ... eine unerhört italienische Landschaft mit herrlichen Arno-Fronten sausten an mir vorbei. In einem süßen kleinen Dorf (wird) Quartier gemacht... der Abend ist sanft und warm, und die Chianti-Flasche fehlt nicht. Und zu all dem muß man noch 100% Soldat sein. Aber es macht Spaß.
  • wirft sich nach Kriegsende auf zum Wortführer der "Kämpfer von Stalingrad, El Alamein und Cassino, spricht sie von jeglicher Mitschuld an den Verbrechen von Dachau und Buchenwald frei
  • nimmt die Beweise in Urs Widmers Dissertation von 1966, dass die Kapitel im "Ruf" ausnahmslos hergeschrieben sind aus der Zeit vor 1945, nicht zur Kennnis, gesteht es später (1979) aber ein
  • läßt Gregor als sein altger ego und Angelika Albert und Judith auftreten: Gregor wird zum Helden (der Andersch nie war), der Judith nicht verlässt, sondern ins Exil bringt (auch wenn sie das als verwöhntes junges Mädchen aus reichem jüdischen Haus so ganz nicht verdient)
  • stilisiert seine Desertion (einer, der sich ... bei guter Gelegenheit in die Büsche schlug) als Widerstandstat ("mein ganz persönlicher 20. Juli")
  • dekliniert alle Ressentiments gegenüber Juden an Judith durch (eine Jüdin, dachte Gregor, das ist doch eine Jüdin, was will denn die hier in Rerik? ... Gregor erkannte das Gesicht sofort; es war eines jener jungen jüdischen Gesichter, wie er sie im Jugendverband in Berlin, in Moskau oft gesehen hatte. Dieses hier war einbesonders schönes Exemplar (!! WGS) eines solchen Gesichts. ...ein junges schwarzhaariges Mädchen ... mit einem schönen, zarten, fremdartigen Rassegesicht (!! WGS) ... mit wehenden Haarsträhnen über einem hellen, elegant geschnittenen Trenchcoat.) Wie sich das für ein jüdisches Mädchen gehört, besitzt Judith eine besondere erotische Ausstrahlungskraft. Neben der verhinderten Liebesgeschichte steht das politische Dégagement Gregors im Zentrum der Erzählung.
  • ästhetisiert Gewalt und Krieg (Dick Barnett sitzt in einem Büro der Lockheed Aircraft Corporation in Burbank, Kalifornien, und zeichnet die Umrisse der Gestalt des Düsenjägers F 94. Er tut das in erster Linie nach sorgfältigen Berechnungen, also mit Hilfe seiner Vernunft, aber nur Leidenschaft kann eine so reine Form schaffen, eine Form, in der noch der geheime Kampf zwischen Mut und Angst in der Brust von Dick Barnett nachzittert, aus der man herausfühlt, daß Barnett sich, als er sie schuf, auf des Messers Schneide bewegte. Eine kleine Bewegung nur, und er wäre abgestürzt. Eine einzige falsche Drehung von Barnetts Geist — und der Düsenjäger F 94 wäre nicht das vollendete Kunstwerk, das er ist. Und dazu die Stimmungen von Burbank, Kaliformen, Barnett völlig unbewußt, das bestimmte Rot von Benzinkanistern an einer Tankstelle, morgens, auf dem Weg zu den Lockheed-Werken, oder die Linie des Halsansatzes seiner Frau, unter einer Straßenlampe, als sie gestern abend, aus dem Kino kommend, den Wagen verließen, aus: Kirschen der Freiheit)
  • wählt Ephraim zu seinem Stellvertreter und erspart sich dadurch, an das Trauma seines eigenen moralischen Versagens zu rühren.
  • betreibt mit seinem letzten großen Werk Winterspelt Lebeslaufbegradigung. Käthe Lenk und Joseph Dincklage sind retrospektive Wunschbilder des Paares Alfred und Gisela, die sich ebenfalls in der Eifel näher gekommen sind, das Buch der Versuch, das moralische Defizit durch symbolischen Widerstand in der Kunst auszugleichen; Dincklage ist der personifizierte deutsche Existenzialismus: leere und falsche Geste, fikiv, privatissime, gratis.

Reaktionen
Anderschs Tochter Annette Korolnik-Andersch gibt zusammen mit ihrem Ehemann Marcel Korolnik 2008 den Sammelband Sansibar ist überall heraus. Dort stellt ein Historiker (Tuchel) fest: Andersch hätte durch ein Weiterbestehen der Ehe weder die Deportation seiner Schwiegermutter noch den möglichen Zwangsarbeitereinsatz seiner Frau ab Herbst 1944 verhindern können. Doch er hätte – wie viele andere Partner in einer ‹Mischehe› auch – ein Zeichen der Solidarität mit seiner von der NS-Rassenpolitik verfolgten und diskriminierten Frau geben können. Dies hat er nicht getan.

Rolf Vollmann (DIE ZEIT 2008): Damals der Zorn (der unverhältnismäßige, wie meistens Zorn, und hier ganz bestimmt), den der Dichter W. G. Sebald auf seinen Kollegen Alfred Andersch losließ, nahm seine Gewalt aus einer dreifachen Verachtung oder Geringschätzung, eines Charakters, eines Werks und einer Leserschaft. Sebald demontierte den politisch-moralischen Charakter, den ein Autor sich anschneidere, und immer gleichzeitig verriss er das Werk, angesichts dessen vermeintlicher Bedeutung der angegriffene Autor sich das Recht zu nehmen schien, seinen doch offenbar autobiografischen Figuren ein Leben unterzuschieben, das fast eine Lüge war, verglich man es mit dem wirklich gelebten Leben des Autors; und den Autor selber in seiner angemaßten Bedeutung ließ Sebald in Äußerungen zu Wort kommen, die tatsächlich eine schon sehr forcierte Überzeugtheit aussprachen vom eignen Rang.
Etwas unfair, indezent dabei sah aus, dass Sebald sie aus frühen Briefen von Andersch an seine Mutter holte – aber so ist der große Zorn, nur seine Gestik ist edel, sonst nimmt er sich einfach, was er so braucht, das hatte ja Achill auch schon so gemacht.
Immer wieder, um den Autor zurechtzustutzen auf das in seinen Augen wahre Maß, zitierte Sebald die absprechendsten Rezensionen; aber das hätte er nicht gemusst, wenn nicht eben Andersch ein von einem doch eben tonangebenden Publikum überaus geschätzter und gelesener und für wichtig gehaltner Autor gewesen wäre; in dieser Bedeutung, die Andersch da hatte, und wenn man sie zusammennahm mit seinem in den Augen des blitzenden Zorns irrwitzigen Anspruch und der dahintersteckenden irgendwie verbogenen Lebensfigur, in dem allen zusammen also erschien ein Stück deutscher Nachkriegsliteratur, gegen das Sebald nun auf dem Grund seines eignen ganz andern Schreibens, andern Empfindens, andern Lebens (das jedenfalls war seine Idee – in Deutschland aushalten wollte er’s auf seine Weise so wenig wie Andersch) seinen Zorn losließ.





Neue Beweise
Ein Dokument der Deutschen Dienststelle Berlin bezieht sich auf Anderschs vorläufige Entlassung aus der Wehrmacht am 12. März 1941. Dort heißt es: „Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941 - Grund: ,jüdischer Mischling' laut Verfügung“. Die Selbstanzeige des Soldaten Andersch, die die Entlassung zur Folge hatte, dürfte sich demnach nicht auf die vermeintliche Wehrunwürdigkeit des ehemals kommunistischen Jugendführers bezogen haben, sondern auf seine Ehe mit einer „halb-jüdischen“ Frau. (Und: Im Heeresverordnungsblatt des entsprechenden Zeitraums, findet sich, wie Andersch vorgibt, kein Hitler-Erlass über zu entlassende KZ-Häftlinge. Politisch unzuverlässige Soldaten in der Regel auch nicht „a.v.“ entlassen, sondern meist Strafbatallionen überstellt. Andersch profitiert hier faktisch vom Umstand seiner Ehe mit einem „jüdischen Mischling“ - einer Ehe, die nach der Reinhardtschen Biografie zum Zeitpunkt seiner Wehrmachtsentlassung schon unrettbar zerrüttet war). Das macht den Umstand der von ihm forcierten Scheidung von 1943 moralisch umso anstößiger. Der zusätzliche Beleg für die strategische Instrumentalisierung seiner Ehefrau erneuert und stärkt die Position Sebalds.
siehe auch Wiener Zeitung


Andersch ‚revisited‘



Zwischen Wunschbiographie und kumulativer Heroisierung
Jörg Döring, Initiator der philologischen Revision, stellt anhand des Manuskripts von Kirschen der Freiheit fest, Andersch habe ursprünglich vorgehabt, die Scheidung und deren Umstände zu reflektieren, das aber zugunsten der Konzentration auf die Deserteursthematik weggelassen. Eine ästhetische, keine moralische Entscheidung.
Nach den Befunden des Historikers Rolf Seubert bestehen begründete Zweifel an Anderschs KZ-Haft in Dachau, (die im Laufe seiner Darstellungen übrigens immer länger wird), ja, ob er überhaupt je inhaftiert war. Bis heute sind keinerlei Aktenzeichen vorhanden – und das in einem bürokratisch perfektem System. Das erklärt auch, warum Andersch dazu so gut wie nichts Konkretes schreibt. Andersch taucht in den NS-Häftlingslisten jener Zeit nirgends auf, genauso wie er auch nicht, wie dargestellt, Organisationsleiter des kommunistischen Jugendverbands in Südbayern gewesen ist.

Der Historiker Johannes Tuchel ehrt - wie schon jeher - den Deserteur.
Der Historiker Felix Römer hat die Gefangenenakten der Verhörlager in den USA ausgewertet. Sie zeigen, dass Andersch besorgt war, seine geschiedene Frau könne dem NS-Genozid zum Opfer gefallen sein. Sie zeigen aber auch, wie selbstgefällig und großsprecherisch Andersch war.
Der Literaturwissenschaftler Markus Joch kommt zum Ergebnis, Andersch habe nach den frühen, fragwürdigen Idealkorrekturen der eigenen Fehlbarkeit und einem „Überhang an Selbstgefälligkeit und Wunschdenken“ nach und nach in seinem Werk eine honorige und glaubwürdige Ästhetik der Scham entwickelt.
Der Anderschbiograf Stephan Reinhardt fragt, ob nach dessen eigenen Kriterien Sebald in der Andersch-Attacke nicht vielmehr die Kollaboration seines Vaters mit den Nazis verarbeitet habe.
Und der englische Literaturwissenschaftler Rhys Williams macht minutiös die Überlegung plausibel, ob nicht Sebald, als selbsterschriebene Autorität für jüdische Figuren und Emigration (der seinen Gang nach England ähnlich zur Emigration stilisierte wie Andersch seinen Rückzug ins Tessin) in Andersch nicht einen früheren Arbeiter im selben Feld habe hinwegschreiben wollen.
Was bringt uns die Causa Andersch?
Vor allem die Einsicht, dass man gegenüber moralapostolischen und politpäpstlichen Literaten sehr skeptisch sein, noch besser aber von Schriftstellern gar nicht erst Moralführerschaft und Politikberatung erwarten sollte.
Die Zeit wimmelt von Leuten jeder Provenienz, die über ihren aus Inkompetenz und Anmaßung, Ehrgeiz und Unverantwortlichkeit zusammengeschusterten Lebensschifflein Moral und Wahrheit ausgeflaggt haben.

Und:
Ein Gedicht Alfred Anderschs von 1976 (in der Schweiz lebend)
[zum "Radikalenerlaß" der sozialliberalen Regierung Brandt, der Hunderttausende von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst mit systematischen Gesinnungsprüfungen überzog. Das Gedicht entfesselt einen Proteststurm und wird zum meistdiskutierten Gedicht der Republik]

Artikel 3 (3)

1

niemand darf wegen
seines geschlechts
seiner abstammung
seiner rasse
seiner sprache
seiner heimat und herkunft
seines glaubens
seiner religiösen oder
politischen
anschauungen
benachteiligt oder
bevorzugt werden.

2

ein volk von
ex-nazis
und ihren
mitläufern
betreibt schon wieder
seinen lieblingssport
die hetzjagd auf
kommunisten
sozialisten
humanisten
dissidenten
linke.

3

wer rechts ist
grinst.

4

beispielsweise
wird eine partei zugelassen
damit man
die existenz
ihrer mitglieder
zerstören kann
eigentlich waren
die nazis ehrlicher

zugegeben
die neue methode ist
cleverer.

5

dreißig Jahre später
gibt es wieder
sagen wir
zehntausnd
die verhören
die neue gestapo

wehrt euch
vielleicht gibt es Zeitungen
die eine rubrik einrichten
jeden tag in einem kasten
eine visage
die fotografie einer fresse
die verhört
mit namen
beruf
adresse
sowie
in den meisten fällen
mitgliedsnummer der
nsdap

dann selbstverständlich
keine gewalt
sondern
geht hin
und zeichnet
die wohnungstüre
das haus
des folterers
mit hakenkreuzen

ich garantiere euch
der wird es sich überlegen
ob er noch einmal
verhört

der läuft zu
seinem boss
und sagt
sorry boss
die machen mich
dingfest
der wird mir
zu gefählich
dem geht der
arsch mit grundeis

hört auf zu winseln
wehrt euch
die beste verteidigung ist
der angriff (clausewitz)

6

als die nazis
während des krieges
in dänemark
den judenstern einführen wollten

trug der König von dänemark
bei seinem nächsten ausritt
den gelben stern
auf seiner uniform

warum legen
der scheel
der schmidt
der willi brandt
der genscher
der maihofer
nicht den
judenstern an
wenn sie
beim frühstück lesen
daß man schon wieder
eine lehrerin
gefoltert hat

ah ich vergesse
daß sie eine solche meldung
mit der lupe
suchen müßten

wie wär´s denn
bundesdeutsche zeitungen
wenn ihr
den deutschen dissidenten
wenigstens ein zehntel des raums
einräumen würdet
den ihr
den russischen
widmet
doch ihr zieht es vor
aus dem glashaus
mit steinen zu schmeißen

die splitter im fremden
anstatt den balken im eigenen
auge zu sehn

7

das neue kz
ist schon errichtet

die radikalen sind ausgeschlossen
vom öffentlichen dienst
also eingeschlossen
ins lager
das errichtet wird
für den gedanken an
die veränderung
öffentlichen dienstes

die gesellschaft
ist wieder geteilt
in wächter
und bewachte
wie gehabt

ein geruch breitet sich aus
der geruch einer maschine
die gas erzeugt

denn, so schreibt Andersch (aus der Schweiz) an Böll: Diese Sache ist die Affäre Dreyfus der zweiten deutschen Republik. Leider bin ich kein Zola.





Alfred Andersch

Geboren 1914 in München, gestorben 1980 in Berzona. Das Gymnasium (Direktor: Joseph Gebhard Himmler, Vater Heinrich Himmlers) verlässt er nach der Untertertia wegen schlechter Noten. Buchhändlerlehre, 1930 Eintritt KPD, angeblich 1933 drei Monate im KZ Dachau. 1934 mit Freundin Reise nach Italien, 1935 Hochzeit. 1937 Hamburg, 1940 eingezogen, Einsatz in Frankreich, lernt Malerin und Lehrerin Gisela Groneuer kennen. 1941 wegen Ehe mit einer "Halbjüdin" aus der Wehrmacht entlassen, Frankfurt am Main, Verhältnis mit Gisela Groneuer, sie bekommt ein Kind. 1942 Trennung von Frau, Schwiegermutter Ghetto Theresienstadt (später ermordet), 1943 Scheidung, erneuter Kriegsdienst, 1944 Desertion in Italien, läuft zur US-Armee über. 1944 bis 1945 Kriegsgefangener, 1945 Rückkehr nach Deutschland: Darmstadt.

Redaktionsassistent bei Münchner Zeitung, Zeitungsgründungen, 1948 bis 1958 Rundfunkredakteur, 1950 Heirat Gisela Dichgans, 1952 Hamburg, ab 1958 Berzona/Schweiz.

Autor der Nachkriegsliteratur.

Sebald zeiht Andersch der persönlichen Feigheit und der Manipulation der eigenen Biografie.
Dass Andersch die Dauer seiner Lagerhaft weit übertrieben, bei Schilderung seiner Desertion die wahren Geschehnisse heroisch verklärt habe, sind die milderen Vorwürfe. Der wirklich schmerzhafte Punkt: Andersch habe sich von seiner halbjüdischen Ehefrau Angelika 1943 scheiden lassen, um im Literaturbetrieb des Dritten Reiches Vorteile zu erlangen, sie aber später in amerikanischer Kriegsgefangenschaft als my wife reklamiert, um sich in das rechte Licht des Widerständlers zu rücken. Damit nicht genug. Indem er in "Sansibar" Gregor, die Hauptfigur, seine Ehefrau Judith retten lasse, habe Andersch seine peinliche Lebensgeschichte literarisch zurechtgebogen. Versetzt Sebald dem Gewissensautor Andersch den Todesstoß?

Der Literaturskandal ist Fachdebatte der Germanisten geworden. Andersch-Nachkommen lassen Dokumente prüfen, Magazine schieben zugespitzte Geschichten nach. "Sansibar" hält sich in Lehrplänen. Andersch ist aus dem Bewusstsein einer weiteren Öffentlichkeit verschwunden. Der Bedarf an Autoren als moralische Instanzen hat spätestens seit den Enthüllungen um die SS-Mitgliedschaft Günter Grass' spürbar nachgelassen.

"Winterspelt" wird wohl bleiben. Ein kristallines Beziehungsspiel faszinierender Charaktere in perfekter Sprache. Ein klar gebauter Roman wie Paul Klees Aquarell "Polyphon gefasstes Weiß", das in "Winterspelt" eine zentrale Rolle spielt. Wieder ist - wie der "Lesende Klosterschüler" - ein Kunstwerk Botschafter der Humanität ...