Schriftsteller
ROBERT WALSER (1878 - 1956)

Logis in einem Landhaus S. 127 ff



Ihm reichte es, sich mit ingrimmiger Ironie
als den immer noch neuntgrößten eidgenössischen Schriftsteller zu bezeichnen.
Wir aber wollen Walser den Ehrentitel zuerkennen,
den er einmal dem Räuber gibt
und
der in Wahrheit ihm selber gebührt,
den nämlich eines Staatsschreibersohns.

Sieben Porträtfotografien
zeigen voneinander sehr verschiedene Menschen:

einen von stiller Sinnlichkeit
erfüllten Jüngling



einen, der mit verhaltener
Angst sich anschickt
einzutreten in
die Bürgerlichkeit

den irgendwie heldenmütig
und dunkel wirkenden
Schriftsteller in Berlin


einen siebenunddreißig-
jährigen mit wasserhell
glasigen Augen


den rauchenden und sehr
gefährlich aussehenden
Räuber

einen gebrochenen Mann



und den vollends
zerstörten und zugleich
geretteten Anstaltspatienten.

Bemerkenswert an diesen Porträts ist nicht nur ihre Unterschiedlichkeit, sondern auch die spürbare Inkongruenz in jedem einzelnen von ihnen, von der ich vermute, daß sie unter anderem herrührt von dem Widerspruch zwischen Walsers ganz und gar uneitlem, schweizerisch verhocktem Wesen und den anarchistischen, boheme- und dandyhaften Neigungen, die er zu Beginn seiner Laufbahn zur Schau stellte und später, so gut es ging, hinter einem soliden Äußeren verbarg.
Wer und was Robert Walser in Wahrheit gewesen ist, darüber vermag ich, trotz meinem sonderbar engen Verhältnis zu ihm, keine zuverlässige Auskunft zu geben.
Wir wissen, daß seine Kindheit überschattet war von der Gemütskrankheit der Mutter und den Jahr für Jahr schlechter gehenden Geschäften des Vaters, daß er sich zum Schauspieler ausbilden lassen wollte, daß er es als Commis auf keinem Posten lang ausgehalten hat und daß er von 1905 bis 1913 in Berlin gewesen ist. Doch was er dort außer dem Schreiben, das ihm damals leicht von der Hand ging, getrieben hat, davon haben wir kaum eine Ahnung. So wenig erzählt er uns von der deutschen Metropole, so wenig später vom Seeland und von seinem Leben in Biel und den Berner Verhältnissen, daß man von einer chronischen Erfahrungsarmut sprechen möchte. Dermaßen weit sind die uns aus Walsers Leben überlieferten Szenen auseinander, daß man von einer Geschichte oder von einer Biografie eigentlich nicht sprechen kann: eher, will mir scheinen, von einer Legende.
Ja, selbst nach Samoa wäre er beinahe gekommen, denn Walther Rathenau, den er, wenn man dem Räuberroman in diesem Punkt glauben kann, eines Tages auf dem Potsdamer Platz in Berlin inmitten eines unaufhörlichen Menschen- und Wagenverkehrs ganz zufällig kennengelernt hatte, wollte ihm offenbar dort, auf dem von den Deutschen >Die Perle der Südsee< genannten Inselterritorium, einen leichten Posten bei der kolonialen Verwaltung verschaffen. Wir wissen nicht, weshalb Walser dieses in mancher Hinsicht verlockende Angebot ausschlug.



In einer Zeit, in der eine zahlreiche Nachkommenschaft noch die Regel gewesen ist - Adolf Walser, der Vater, entstammte einer fünfzehnköpfigen Familie - hat sonderbarerweise keines der acht Geschwister der nächsten Generation ein Kind in die Welt gesetzt, und von den gewissermaßen miteinander aussterbenden Walsern hat vielleicht keiner die für eine erfolgreiche Prokreation erforderlichen Voraussetzungen weniger erfüllt als der, wie man in seinem Fall wohl mit Fug sagen kann, immer jungfräulich gebliebene Robert.






Werke

War es eine Dame namens Wanda oder ein Wanderbursche, das Fräulein Elena oder das Fräulein Edith, ein Kastellan, ein Kammerdiener oder der Idiot von Dostojewski, ein Theaterbrand, eine Ovation, die Schlacht bei Sempach, eine Ohrfeige oder die Rückkehr des verlorenen Sohns, eine steinerne Urne, ein Reisekorb, eine Taschenuhr oder ein Kieselstein?


Als in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das alte Ottomanische Reich unter den Angriffen der Reformpartei zusammenbricht und die mit einem Auge auf Deutschland als Schutzmacht schielende moderne Türkei sich konstituiert, ist Walser so ziemlich der einzige, der diesem Ereignis mit Skepsis begegnet. In dem Prosastück Der Abschied läßt er den gestürzten Sultan, der die Verfehlungen seines Regimes keineswegs leugnet, Zweifel anmelden an dem, was nun angeblich gewonnen ist. Freilich, sagt er, wird es jetzt in der Türkei, in der immer Mißwirtschaft geherrscht hat, tüchtige Leute geben, »aber unsere Gärten werden welken, unsere Moscheen werden bald überflüssig sein ... (und) durch die Wüste, wo der Klang meines Namens die Hyänen zu Respekt zwang, werden Eisenbahnen fahren. Die Türken werden Mützen aufsetzen und wie Deutsche aussehen.


Kleist in Thun, in dem die Rede ist von den Qualen eines an sich und seinem Handwerk verzweifelnden Menschen und von der rauschhaft schönen Landschaft ringsum. Kleist sitzt auf einer Kirchhofmauer. Es ist alles ganz feucht und zugleich schwül. Er öffnet das Kleid, um die Brust frei zu haben. Unten, wie von einer mächtigen Gotteshand in die Tiefe geworfen, liegt der gelblich und rötlich beleuchtete See. Die Alpen sind lebendig geworden und tauchen ihre Stirnen unter fabelhaften Bewegungen ins Wasser.


daß Walser einmal im Sommer seinen Bruder auf Rügen in zerlöcherten und geflickten Hosen besuchte, obwohl ihm dieser gerade zuvor erst einen neuen Anzug geschenkt hatte, und zitiert in diesem Zusammenhang eine Passage aus den Geschwistern Tanner, in der Simon von seiner Schwester folgende Vorhaltung gemacht wird: Sieh dir doch einmal wieder deine Hosen an: Unten zerfetzt! Allerdings, ich weiß schon: es sind nur Hosen, aber Hosen sollen ebensogut in Stand gesetzt sein wie Seelen, denn es zeugt doch von Nachlässigkeit, zerrissene und zerfetzte Hosen zu tragen, und die Nachlässigkeit kommt aus der Seele. Du muß also eine zerfetzte Seele haben.


Darum hielt er nichts von den großen Tönen, mit denen damals die von ihm sogenannten »Dilettanten der äußersten Linken« die Revolution in der Kunst inszenierten. Er ist kein expressionistischer Visionär, der den Weltuntergang prophezeit, sondern, wie es in der Einleitung zu den Aufsätzen Fritz Kochers heißt, ein Hellseher im Kleinen.





Bleistiftgebiet

Die Mikrogramme sind, als eine ingeniöse Form fortgesetzten Schreibens, Kassiber eines in die Illegalität Abgedrängten und Dokumente einer wahren inneren Emigration.
Aber das Bleistift- und Zettelsystem ist auch ein in der Geschichte der Literatur einmaliges Verteidigungs- und Befestigungswerk, in welchem die kleinsten und unschuldigsten Dinge gerettet werden sollten vor dem Untergang in der damals heraufziehenden großen Zeit. Der in seinem unzugänglichen Bau verschanzte Robert Walser kommt mir vor wie der Korse Casella, der 1768 in einem Turm auf dem Kap dem französischen Invasionskontingent eine ganze Garnison vortäuschte, indem er, von einem Stock zum anderen rennend, einmal bei dieser, einmal bei jener Schießscharte hinausfeuerte. Bezeichnenderweise schien es Walser nach seinem Eintritt in das Asyl Waldau, als säße er draußen vor der Stadt auf einem Vorwerk, und vielleicht schreibt er deshalb von dort aus an das Fräulein Breitbach, daß er, obwohl die Schlacht längst verloren ist, ab und an kleinere Arbeiten noch »in einige Blätter ihres Vaterlandes lanciere«, ganz so als handelte es sich bei diesen um Sprengsätze und Bomben.
Seine Szenen halten nur einen Lidschlag lang, und auch den menschlichen Figuren in seinem Werk ist nur die geringste Lebensdauer vergönnt. Hunderte von ihnen bevölkern allein das Bleistiftgebiet - Tänzerinnen und Sänger, Tragiker und Komödianten, Bardamen und Hauslehrer, Prinzipale und Prokuristen, Nubier und Moskowiter, Tagelöhner und Millionäre, die Tanten Roka und Moka und andere Komparsen mehr. Im Augenblick ihres Auftritts sind sie von wunderbarer Gegenwärtigkeit, doch sowie man sie wirklich anschauen will, sind sie entschwunden.






Der Räuber

Vielmehr ist gerade der Räuberroman Walsers gescheitestes und gewagtestes Werk, ein Selbstbildnis und eine Selbstuntersuchung von absoluter Unbestechlichkeit, in welcher sowohl der Verfasser der Kankengeschichte als auch deren Subjekt die Stelle des Autors einnehmen.
Dazu stimmt es, daß Walser hier in diesem posthumen, sozusagen schon aus dem Jenseits geschriebenen Roman Einsichten in seine besondere seelische Verfassung und in das Wesen der Geistesverwirrung überhaupt zuwachsen, wie man ihnen, soweit ich sehe, sonst in der Literatur nirgends begegnet. Mit einem
sang froid sondergleichen gibt er Rechenschaft über den mutmaßlichen Ursprung seines Leidens in einer fast nur aus lauter kleinen Vernachlässigungen bestehenden Erziehung, darüber, wie er, als fünfzigjähriger Mann, immer noch das Kind und den Knaben in sich spüre, über das Mädchen, das er gerne gewesen wäre, über die Genugtuung, die ihm das Tragen einer Schürze verschafft, über die fetischistischen Neigungen des Löffeliliebkosers, über den Verfolgungswahn, das Gefühl der Einkreisung und Umzingeltheit, über das an Joseph K. im Processroman erinnernde Sichinteressantfinden im Zustand des Beobachtetseins und über die aus der sexuellen Verkümmerung, wie er wirklich schreibt, entstehende Gefahr der Vertrottelung. Mit seismographischer Präzision registriert er die geringsten Erschütterungen am Rand seines Bewußtseins, verzeichnet Verwerfungen und Kräuselungen in seinen Gedanken und Emotionen, von denen die psychiatrische Wissenschaft selbst heute kaum etwas sich träumen läßt. Von den therapeutischen Angeboten, die der Gemütsarzt dem Räuber macht, hält der Erzähler nicht viel, noch weniger von dem Allheilmittel des Glaubens, den er eine »sehr einfache und billige Seelenzuständlichkeit« nennt.



Er fuhr selten und war meist zu Fuß unterwegs.
In den 1970er wiederentdeckt, Mikorgramme entziffert.
Geboren in Biel und gestorben nahe Herisau, aus einer kinderreichen Familie stammend, zweisprachig aufgewachsen, Banklehre 1892 - 1895, Mutter stirbt 1984, er geht nach Stuttgart zu seinem Bruder Karl. Wandert zurück in die Schweiz, Büroangestellter, Schreibkraft. 1898 erste Gedichte veröffentlicht. Thun, Solothurn, Winterthur, München, 1903 Rekrutenschule, "Gehülfe" eines Ingenieurs und Erfinders Zürich. 1905 Berlin, Ausbildung zum Diener.
"Geschwister Tanner", "Der Gehülfe", "Jakob von Gunten" veröffentlicht. 1913 zurück in die Schweiz, 1914 stirbt Vater. Beginn langer Fußtouren, oft auch Nacht- und Gewaltmärsche.
Militärdienst, 1916 stirbt Bruder Ernst, 1919 nimmt sich Bruder Hermann das Leben. 1921 Bern, Bibliothekar.
"Mikrogramme" (winzige, schwer zu entziffernde Bleistiftschrift-Texte), 1929 Angstzustände und Halluzinationen, geistiger Zusammenbruch, Heilanstalt Waldau bei Bern. 1933 - gegen seinen Willen - in Heil- und Pflegeanstalt Herisau versetzt.
1943 stirbt Bruder Karl, 1944 Schwester Lisa.
Am ersten Weihnachtsfeiertag Herzschlag bei Wanderung durch ein Schneefeld.