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es heißt

daß Napoleon
farbenblind war
& Blut für ihn
so grün wie
Gras



FYN 1






It is said

Napoleon was
colourblind
& could not
tell red
from green


Tess Jaray








»Licht!« befahl der Kaiser. Er erhob sich schnell. Er trat vor den Spiegel, ordnete die Haare und rief: »Meine Uniform! Meinen Degen! Meinen Hut!«Der Diener kleidete ihn um. Er stand da, vor dem Spiegel, betrachtete unentwegt sein Gesicht, hob willenlos den Fuß und das Bein, sah zu, wie man ihn verwandelte. Die weißen Hosen, frisch mit Kreide eingerieben, leuchteten ihm fast schallend entgegen, die Stiefel blinkten, sie selbst schwarze Spiegel. Die Schärpe schimmerte. Der Griff des Degens funkelte. »Ist der Rock eigentlich blau?« fragte er. Er hatte niemals die Farben genau unterschieden, er dachte in diesem Augenblick eigentlich gar nicht an den Rock und an dessen Farbe, sondern daran, daß ihm manchmal dünkte, Rot sei nicht vom Grün verschieden. An einem Tage, er wußte nicht mehr genau, wann und wo, hatte er das Blut aus der Wunde eines Toten über das grüne Gras der Wiese fließen sehen, und es hatte ihm geschienen, das Blut des Menschen hätte die Farbe des Grases angenommen. Und er war erschrocken gewesen. Er hatte dieses lächerliche Ereignis längst vergessen, jetzt fiel es ihm wieder ein, da er den Rock anzog. »Blau?« fragte er. »Der Rock Eurer Majestät ist grün«, sagte der Diener. Der Kaiser sah genauer in den Spiegel. Ein paar Sekunden lang, während er sich gründlich im Spiegel betrachtete, kam es ihm vor, als lebte er gar nicht wirklich, als wäre alles gespielt, heute und immer. So, er hatte es oft beobachtet, pflegte sein Freund, der Schauspieler Talma, in den Spiegel zu sehen, vor einer seiner großen Szenen. Der wirkliche Kaiser Napoleon war verborgen, tief drinnen, im letzten Winkel seines Herzens, der wirkliche Kaiser kam niemals zum Vorschein. Alles auf Erden war Spiel und sinnloser Schauplatz, und er selbst, der Kaiser Napoleon, spielte jetzt die Rolle des Kaisers Napoleon, der sich in die Hände der Feinde begibt. Deshalb hat er die zivilen Kleider abgelegt und die Uniform angezogen; genauso, wie er auf den vielhunderttausend Bildern gezeigt ist, die ihn in der ganzen Welt darstellen, will er sich zum Feind begeben. »Zwischen Grün und Blau«, sagte der Kaiser, als spräche er zu seinem Spiegelbild, »habe ich niemals genau unterscheiden können.« – Dem Diener schauderte. Er hatte niemals den Kaiser so sprechen hören. »Und einmal«, fuhr der Kaiser fort, »habe ich auch gedacht, das Blut der Menschen sei gar nicht rot.« »Jawohl, Majestät!« sagte der Diener verlegen und schaudernd.

Joseph Roth Die hundert Tage

Siehe auch Campo Santo S. 17