W.


Torschlusspanik
Archäologische Forschungen auf europäischem Terrain
Sebalds letztes Interview in deutscher Sprache

Am 14. Dezember 2001 fällt W.G. Sebald mit 57 einem Verkehrsunfall in der Näihe seines Wohnhauses im englischen Norwich zum Opfer. Damit verstummt eine der markantesten literarischen Stimmen seiner Generation. Sie hatte sich Zeit gelassen, ihren eigenen Ton zu finden. Dann aber spricht sie, in Büchern wie „Die Ausgewanderten“ (1992), „Die Ringe des Saturn“ (1995) und „Austerlitz“ (2001) umso eindringlicher von den Toten der Vergangenheit, von den Überresten und Zeugen der Geschichte, von Dingen und Orten ebenso wie von Menschen, Pflanzen und Tieren. Oft nehmen Sebalds Erzählungen die Gestalt von Epitaphen an.

SZ: Herr Sebald, Sie sind im Allgäu aufgewachsen, leben inzwischen aber schon über dreißig Jahre in England. Mit Ihrem erzählerischen Werk ist seit Ende der achtziger Jahre ein Fresko entstanden, auf dem sich die unheimlichen Verschlingungen des Vergangenen bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Hat dieses Leben im Ausland eigentlich Einfluss darauf gehabt, dass die Vergangenheit, und nicht zuletzt auch die deutsche mit ihren immer noch spürbaren Folgen, für Sie zum überragenden Motiv wurde?

Sebald: Die Tatsache, dass ich schon seit meinem einundzwanzigsten Jahr im Ausland lebe, hat sicher etwas mit meinem Interesse an der Vergangenheit zu tun; weil es von dem Augenblick an, in dem man sich expatriiert, eine ganz klar abgeschnittene Vergangenheit, ein früheres, anderes Leben gibt, auf das man immer wieder zurückschaut. Das zweite Element, das mein Interesse an der Vergangenheit ausgelöst hat, ist die spezifische Form meiner deutschen Vorgeschichte, die ich als Kind nicht wahrgenommen habe, auch als Heranwachsender kaum, und als sie mir dann ab dem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr nach und nach ins Bewusstsein gerückt ist, hat es sich erwiesen, dass diese Geschichte eine verschwiegene war und insofern so etwas wie ein Enigma darstellte.

Aus diesem Grunde habe ich mich im Laufe der Zeit dann immer mehr in diese Geschichte zurückgearbeitet und versucht, an den wenigen Dingen, die mir in konkreter Form überliefert worden sind, also zum Beispiel an diversen Photoalben von Farmilienmitgliedern, mir so etwas wie einen Reim zu machen auf das, was ich nicht selbst erlebt hatte und worüber mir auch nie etwas erzählt worden ist. Inzwischen bin ich auf dem Punkt, wo ich das Gefühl habe, dass diese Vergangenheit einen derartig großen Überhang darstellt, dass ich nie mit ihr fertig werden kann.

SZ: Wie ist es gekommen, dass Sie gerade in England geblieben sind - und wie haben diese englischen Jahre Ihr Verhältnis zu Deutschland beeinflusst?

Sebald: Nach Überwindung des anfänglichen Kulturschocks, der mich in England erfasste, weil ich keinerlei Vorstellung von der Art dieses Landes hatte und eine Stadt wie Manchester für jemanden, der aus der alpenländischen Provinz kam, schon eine gewisse Zumutung gewesen ist, war es so, dass mir sowohl Manchester als auch das ganze Land und die Personen, denen ich dort begegnet bin, die Nachbarn und die unmittelbaren Kollegen, sehr zugesagt haben. So dass ich mich dort zwar nicht zuhause gefühlt habe, aber wohltoleriert als Gast. Dieser Zustand hat sich bis heute nicht geändert. Ich betrachte mich immer noch als Gast in diesem Land und bilde mir nicht ein, dass ich jetzt sozusagen naturalisiert oder anständig assimiliert wäre. In dieser Art von provisorischer Existenz fühle ich mich einigermaßen gut aufgehoben. Zugleich ist es natürlich so, dass sich allein durch das Verfließen der Zeit - das sind jetzt immerhin etwa fünfunddreißig Jahre - Deutschland sehr weit von mir entfernt hat. Das heißt, dieses Land, das mir von Anfang an fremd gewesen ist, weil ich ja ganz am Rande dieses Landes aufgewachsen bin, ist mir auch in der Zwischenzeit nicht vertrauter geworden. Das Einzige, was mich bindet an dieses Land, ist die Tatsache, dass ich aus einer Familie stamme, die eine deutsche Familie ist und insofern an dieser deutschen Vorgeschichte mitgewirkt hat, die man nicht einfach ablegen kann. Und dann ist da die Sprache, die mir natürlich auch etwas bedeutet als eine Art von Floß, auf dem ich sitze in diesem mir auch nicht vertraut gewordenen englischen Ausland.

SZ: Sie befinden sich fast in der Lage eines Emigranten, der seine Prosa weiter auf deutsch schreibt. Aber verändert sich nicht auch das geschriebene Deutsch, wenn man - wie Sie - solange außerhalb eines deutschen Sprachalltags lebt?

Sebald: Es wäre naiv, sich vorzustellen, dass man sich mit einundzwanzig aus dem gelebten Umkreis seiner Muttersprache entfernt, ohne dass das einen Einfluss hätte auf das eigene Sprachverhalten. Es ist in meinem Fall nicht ganz einfach, das zu urnreißen. Ich bin nicht im Zentrum Deutschlands aufgewachsen, also nicht in Kassel oder Hannover, sondern in einer Randzone, in der ein Dialekt gesprochen wurde, der fast so extrem war wie das Schweizerdeutsche. Das heißt, dass für mich das Hochdeutsche von Anfang an eine Fremdsprache gewesen ist, die ich mir aneignen musste in meiner späteren Kindheit. So kam ich nür selbst beim Eintritt in die Universität vor wie ein Amhares vom Lande, der nicht genau weiß, wie man das Deutsche spricht oder schreibt. Und kaum hatte ich angefangen, das richtig zu lernen, war ich auch schon wieder im französisch- oder englischsprachigen Bereich. Daher kommt es wohl, dass das Deutsch, dessen ich mich bediene, wenn ich schreibe, den Charakter fast einer Kunstsprache zu haben scheint, was vielen Kritikern aufgefallen ist, die das dann mit etwas eigenartigen Termini wie „altmeisterlich“ in den Griff zu bekommen versuchen. SZ: Sie haben relativ spät begonnen, literarische Werke zu schreiben. Sie waren Mitte vierzig, als 1988 zuerst das Elementargedicht Nach der Natur und zwei Jahre später das Prosabuch Schwindel.Gefühle erschienen. Was hat Sie von der Wissenschaft zur Literatur geführt?

Sebald: Das Wissenschaftsideal, mit dem wir alle aufgewachsen sind, ist ja eine sehr abstrakte Sache gewesen. Wir wissen alle, dass wir in unseren Universitätsarbeiten nie „Ich“ schreiben durften, das wurde uns von Anfang an eingebleut, dass das die falsche Annäherung an die Gegenstände des Studiums sei. Alles Subjektive musste aus der Wissenschaft heraus, und die Wissenschaft in dieser Abstraktionsform ist natürlich so etwas wie eine sich immer weiter fortwälzende Akkumulation von Fach- und Fachwissen. Nun ist diese Form der Materialsammlung natürlich nicht vollkommen unnütz, aber ich glaube, sie wird für uns produktiv erst in dem Augenblick, in dem wir unsere subjektive Erfahrung hineindenken in das von uns erforschte Umfeld. Anders geht es nicht. Und das waren ja auch Gedanken, die Adorno sehr einschneidend verfolgt hat. Einerseits forderte er so etwas wie einen materialistischen Diskurs, den der deutsche Idealismus und seine N achgeborenen aber nicht hochkommen ließen; und andererseits die Interpolation einer radikal subjektven Erfahrung in diesen Diskurs: der eigenen Psychologie, der eigenen Trauer, der eigenen Hoffnungen, der eigenen Lust und so weiter. SZ: Hatte es für Sie eigentlich schon vorher in der Literaturso etwas wie Wegweiser oder sogar Vorbilder gegeben, durch die Sie dann langsam Ihren ganz eigenen Formen des Erzählens näher gekommen sind? Es hat ja in der deutschen Nachkriegsliteratur durchaus eine Reihe von recht unterschiedlichen Versuchen gegeben, sich auch mit dem für Sie zentralen Komplex der verschwiegenen Vergangenheit zu beschäftigen.

Sebald: Für mich begann die reflektiertere Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit mit der Lektüre von Peter Weiss. Bis dahin hatte ich, wie alle Heranwachsenden, die in sich so etwas wie ein literarisches Interesse verspüren, die sogenannten deutschen Nachkriegsautoren gelesen, also Andersch und Böll und Schmidt und was es da so alles gibt. Das hatte ich für die neue deutsche Literatur gehalten und rechnete damit, dass mir dort erzählt wird, was ich wissen muss über das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Ich hatte allerdings damals schon beim Lesen das Gefühl, dass angesichts der großen Katastrophen, die sich abgespielt haben, sehr wenig in diesen Büchern drinsteht, dass sie so etwas wie ein umsichtig verwaltetes Erfahrungsdefizit repräsentiert haben. Als ich die ersten Bücher von Peter Weiss las, also vor allem seine Autobiographie, „Abschied von den Eltern“ und „Fluchtpunkt“, dann natürlich das Auschwitz-Stück „Die Ermittlung“, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass hier bestimmte Tore aufgemacht worden sind und dass ich die Dinge in dieser schwarzweißen Struktur, die Peter Weiss seiner Prosa gab, sehr viel deutlicher sehen konnte als in all den Büchern zuvor. Ich begrff relativ schnell, dass das etwas zu tun hatte mit der gesellschaftlichen Provenienz des Peter Weiss, dass er aus einer deutsch-jüdischen Familie kam, dass er also über diese Dinge schrieb aus einer anderen Perspektive, dass er, wie er ja selbst sagt, zu den Verfolgern hätte zählen können, aber in der Realität dann ein Opfer gewesen ist, ein Opfer der Verfolgung, und dass er sich die Schuldfrage gestellt hat, die die deutschen Autoren ausihrem offenbar guten Gewissen heraus nicht glaubten, sich stellen zu müssen.

Bei dieser Lektüre, die mich dann zu Jean Améry führte, zu Paul Celan und zu vielen anderen, habe ich gemerkt, dass - wenn es so was gibt wie eine approximative Wahrheit über diese Vergangenheit - sie eher zu finden ist in den Schriften dieser Autoren als in denen der nicht-jüdischen deutschen Schriftsteller. Das hat sich auch überschnitten mit meiner sich inzwischen entwickelnden englischen Erfahrung. Manchester ist eine Stadt, in der es sehr viele jüdische Exilierte gibt, in bestimmten Stadtteilen. Leute, die aus jeder deutschen Stadt kamen, ob das jetzt Dortmund oder Bochum oder Kufstein oder München war. Ich begriff dann, dass man, um hinter diese Dinge zu kommen, sich mit den Lebensgeschichten dieser Personen beschäftigen muss. Aber dieses Begreifen war ein sehr langsam sich entwickelnder Prozess, es hat fast zwanzig Jahre gedauert, bis ich den Mut aufbrachte, mit diesen Personen zu reden. Das ist ja nicht einfach, weil man von Anfang an weiß, dass man möglicherweise von einer Taktlosigkeit in die andere sich begibt und man sehr vorsichtig umgehen muss mit dem Versuch, diese Lebensgeschichten zu erhellen.

SZ: Mir sind die Wanderungen und Reisen Ihrer Erzähler etwa in den „Ausgewanderten“, den „Ringen des Saturn“ oder in „Austerlitz“stets wie archäologische Forschungen auf einem europäischen Terrain erschienen, das immer wieder uon Katastrophen heimgesucht und verwüstet wurde. Und dabei stößt man ja in erster Linie auf Trümmer. Sebald: Das Stichwort „Archäologie“, das Sie gegeben haben, ist bei Peter Weiss von sehr zentraler Bedeutung. Es gibt diese wunderbare Collage, in „Abschied von den Eltern“ glaube ich, wo ein Kind mit einem kleinen Eimer und einem kleinen Strandspaten sozusagen herum- gräbt im Vorfeld der Kulissen der bürger- lichen Ära.



Die selbe Annäherung an die Vergangenheit gibt es bei Enzensberger, und es gibt sie noch sehr viel deutlicher bei Alexander Kluge, der für mich immer ein vorbildhafter Autor gewesen ist, dessen Arbeiten über die deutsche Vergangenheit ich sehr, sehr hoch schätze und die meines Erachtens die einzige Linie aufzeigen einer legitimen intellektuellen Auseinandersetzung mit dieser deutschen Vergangenheit.


SZ: Ich möchte auf eine Konstellation zu sprechen kommen, die Sie von den in Deutschland gewohnten „Vergangenheitsdiskursen “ unterscheidet. Sie verfolgen die Spuren des Nationalsozialismus, des Ersten Weltkriegs oder anderer historischer Zeiten zwar in Europa und oft sogar bis über die Ränder Europas hinaus, aber Deutschland selbst bleibt so etwas wie ein toter Winkel in Ihrem Erzählen.

Sobald: Die Tatsache, dass die Wege oft an Deutschland vorbeiführen, hat vielleicht damit zu tun, dass diese Spuren der Geschichte, die sich der Landschaft und den Städtebildern eingeschrieben haben, in Deutschland am wenigsten sichtbar sind, und dass die Zerstörung, die sich in diesem Land, in Deutschland, vollzogen hat in der zweiten Hälfte des 2. Weltkriegs, in all dem, was sie angerichtet hat, fast vollkommen beseitigt worden ist hier. Wer heute durch Deutschland fährt, der sieht so gut wie gar nichts mehr von dem, was während den 40er Jahren geschehen ist. Das ist möglicherweise eine extreme Reaktion auf eine extreme Katastrophe gewesen, das heißt, dass für uns Deutsche nach diesem zweiten Krieg nichts so wichtig und dringend gewesen ist, als all das zu beseitigen von Grund auf, und nicht nur einmal zu überbauen, sondern zwei oder drei oder vier Mal, weil was in den 50er Jahren gebaut wurde, in den 60er Jahren ja schon nicht mehr gut genug war und man nie darin erinnert werden wollte, was sich hier abgespielt hat. Das heißt, wenn man Geschichte lesen will in der Landschaft und in Städtebildern, dann muss man sich zunächst umtun in anderen Ländern, eben in Belgien, eben in Nordlrankreich, möglicheiweise auch in England, aber auch in ganz entlegenen Orten im mediterranen Raum beispielsweise. Diese Beseitigung der Vergangenheit scheint mir als sozialpsychologisches Konstituens der deutschen Bevölkerung eine entscheidende Rolle gespielt zu haben in diesen Nachkriegsjahrzehnten. SZ: Aber immerhin hat es in der Nachkriegszeit auch recht verschiedene Phasen des deutschen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit gegeben. Nach dem großen Schweigen in den 50er und 60er Jahren gibt es seit 1989 die großen, fast monumentalen symbolischen Gesten, wie man sie etwa in den Entwürfen zum Holocaust-Denkmal in Berlin sehen kann, begleitet aber auch von untergründigen Stimmungen und manchmal auch lauten Stimmen, sich von der Fixierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit zu lösen.

Sebald: Ja, es gab natürlich, in den letzten zwölf Jahren ungefähr, eine Strömung einerseits und eine Gegenströmung andererseits. Es ist richtig, dass die offizielle in dreifachen Anführungszeichen - „Bewältigung der Vergangenheit“ solche monumentale oder museale Formen angenommen hat in dieser Zeit, die häufig etwas sehr Peinliches haben. Andererseits gab es zum ersten Mal eine sehr konkrete Auseinandersetzung mit l bestimmten Formen der Vergangenheit - ich denke da an die berühmte Wehrmachtsausstellung, die doch eine ganz neue Dimension in die Diskussion gebracht hat.

Für mich bedeutet das einfach, dass diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht einfach abgebrochen werden kann, indem wie Martin Walser sagt: wir haben uns jetzt dreißig oder vierzig Jahre damit geplagt, jetzt haben wir unser Soll erfüllt und lassen das einmal und versuchen uns mit anderen Dingen zu beschäftigen. Das erscheint mir als eine Absurdität. Unter dieser Prämisse wäre es vollkommen unmöglich, sich irgendwelche Gedanken zu machen über den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 oder was mein Großvater an der Siegfriedlinie erlebt hat im Ersten Weltkrieg. Was in der Vergangenheit liegt, liegt alles in der gleichen Entfernung zu unserer Existenz heute.

SZ: Das ist ein gutes Stichwort, um noch einmal auf eine Eigentümlichkeit Ihrer literarischen Archäologien zurückzukommen. Weder ist Ihr Blick auf die Katastrophengeschichte nur auf eine einzige Epoche beschränkt, noch auf einen einzigen geographischen Raum. Manchmal sieht es fast so aus, als würden Sie an einer Art Universalgeschichte der Katastrophen schreiben, wobei Sie ihre Spuren sogar in der Natur, der inneren und äußeren Natur, also sozusagen in der Naturgeschichte suchen.


Wochenlang trug ich das Magazin mit mir herum,
überlas den Artikel, der in mir, wie ich spürte,
ein Verlies aufgetan hatte, immer wieder von neuem,
studierte das dunkle Auge Aurachs,
das aus der Fotografie ins Abseits blickte.




Sebald: Letzten Endes handelt es sich um so etwas wie eine Beschreibung der Aberration einer Species. Man kann - und das ist unter anderem eine der ldeen gewesen hinter der Strukturierung in den „Ringen des Saturn“ - in konzentrischen Kreisen immer weiter nach außen gehen, und die äußeren Kreise determinieren immer die inneren. Das heißt: man kann sich Gedanken machen über den eigenen psychischen Haushalt, wie dieser determiniert wurde von der eigenen Familiengeschichte, diese von der Geschichte der kleinbürgerlichen Klasse in den 20er und 30er Jahren in Deutschland, wie das wieder umrissen wird von den ökonomischen Bedingungen dieser Jahre, wie die ökonomischen Bedingungen sich herausentwickelt haben aus der Geschichte der Industrialisierung in Deutschland und in Europa - und so fort bis in den Kreis, wo die Naturgeschichte und die Geschichte der menschlichen Species ineinander changieren.
Mit diesen Dingen leben wir, es ist also nicht illusorisch, sich auch über die weiter außen gelegenen Kreise Gedanken zu machen. Wenn man zum Beispiel in den letzten Monaten erlebt hat, dass in England unter den grauenhaftesten Umständen Hekatomben von Rindern - ich glaube, es sind jetzt drei Millionen Tiere - hingerichtet wurden, weil es hieß, dass der Markt nicht mit Rindern fertig werden kann, die von einer irgendwann einmal relativ harmlosen Krankheit infiziert waren, dann kann man sehen, wie diese Dinge fortwährend unser Leben bestimmen.

Ich sehe die von den Deutschen angerichtete Katastrophe, grauenvoll wie sie war, durchaus nicht als ein Unikum an - sie hat sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit herausentwickelt aus der europäischen Geschichte und sich dann, aus diesem Grunde auch, hineingefressen in die europäische Geschichte. Deshalb sind die Spuren dieser Katastrophe in ganz Europa ablesbar, ob sie nun im Norden von Schottland sind, oder auf Korsika oder auf Korfu. Was dahinter stand, war der von der Machtpolitik spätestens seit Napoleon immer wieder verfolgte Traum, aus diesem sehr unordentlichen Kontinent Europa etwas viel Ordentlicheres, Geregeltes, Durchorganisiertes, Machtvolles zu machen.



Die aus blitzendem rotsfreien Stahl
gefertigte Apparatur glich einem
Miniaturkraftwerk

Und es ist natürlich eine besonders bizarre Ironie der Geschichte, dass die Deutscheri, Jahrhundertelang, seit dem Dreißig]ahrigen Krieg zumindest, die zurückgebliebene Nation in Europa waren, dann Ende des 19. Jahrhunderts diese Machtträume sich angeeignet haben und im Verfolg dieser Machtträume in all diese Gassen gekommen sind, in die eigentlich niemand hinein wollte.

SZ: Es gibt in Ihren Büchern einen durchgehenden Motivstrang, der noch gar nicht so richtig beachtet worden ist: den europaischen Kolonialismus mit seinen bis heute sichtbaren Spuren. Das spielt in der deutschen Geschichte nun gerade keine so große Rolle, aber sehr wohl in der sonstigen europäischen Geschichte, etwa in der englischen, holländischen oder belgischen.

Sebald: Die Kolonialgeschichte ist in Deutschland natürlich nie ein besonderes Thema gewesen aus dem einfachen Grunde, dass die Deutschen eben sehr wenige Kolonien hatten und sehr eigenartige Kolonien wie Deutsch-Südwestafrika und und die Hälfte von Tahiti. Das ist ja bekanntlich der Grund des deutschen Minderwertigkeitskomplexes, dass man keine überseeischen Territorien hatte, aus denen man Kaffee und andere Kolonialwaren herbeischaffen konnte - und übrigens auch keine Kolonien, in die man Strafgefangene hätte verschicken können.

Andererseits sind in der Kolonialzeit kollektive Verhaltensweisen geprägt und eingeprägt worden, die die Bevölkerung präpariert haben auf das, was dann im 20. Jahrhundert geschah. Also die rassistische Perspektive auf andere - wie es hieß: minderwertige - Völker, mit denen man auf eine bestimmte Art und Weise umgehen muss.

Es ist ja auch bekannt, dass der größte Feldherr aller Zeiten, der Führer des dritten deutschen Reiches, fasziniert gewesen ist von der Art, in der die englischen Übermenschen einen ganzen Subkontinent mit ein paar Zehntausend dort hingeschickten Militärs verwalten konnten. Die Kolonialgeschichte ist lange Zeit unbeachtet geblieben, auch die französische, auch die Engländer haben sich mit ihrer Kolonialgeschichte nie sehr genau auseinandergesetzt. Das alles ist die andere Seite der Nationalgeschichte. Der Kolonialismus hat sich über zwei, drei Jahrhunderte hinweg entwickelt und ist - wie man ja in England sehr deutlich sehen kann - die Quelle eines fast unerschöpflichen Reichtums gewesen. Die ganze Börsenwirtschaft hat sich eigentlich aus der Kolonialisierung heraus entwickelt, die Rohstoffbörsen und all die lnstitutionrn, in denen Geld im großen Ausmaß gemacht wordon ist.


SZ: Bei Ihren Erkundungen der europäischen Katastrophenlandschaften spielt das Reisen eine ziemlich große Rolle. Wie etwa in „Austerlitz“ das Reisen mit der Eisenbahn kreuz und quer durch Europa, aber vor allem auch, wie in den „Ringen des Saturn“, das Wandern durch Landschaften vergessener Geschichte, also eine sehr verlangsamte Be- wegungsform, die noch immer etwas vom 19. Jahrhundert an sich hat.

Sebald: Das Herumgehen zu Fuß in der Landschaft ist eine Form der Aneignung der Vergangenheit, die es einem am ehesten ermöglicht, etwas zu sehen. Ganz gleich, wie man sonst reist, mit dem Flugzeug oder dem Auto, es geht einfach zu schnell, und für mich jedenfalls ist es unabdingbar, wenn ich etwas über den Ersten Weltkrieg schreiben möchte, dass ich mich ein oder zwei Monate lang in dem Territorium aufhalte, wo die Hindenburglinie verlaufen ist, also in dieser nordfranzösischen Gegend, die auch heu- te noch sehr zurückgeblieben ist. Wenn man diese Linien entlanggeht, sieht man tatsächlich, wie weit die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht. Wenn man mit einem kleinen Flugzeug hinüberfliegt, sieht man noch in den Ackerfeldern die Verfärbungen, die durch die ehemaligen Grabensysteme entstanden sind. Wenn man auf den Hartmannswiler Kopf in den Südvogesen hinaufsteigt, sieht man noch die Eisenstücke, die in diesem wahnwitzig umkämpften Gipfel drinstecken, als sei es gestern gewesen. Man sieht in der Art, wie die Wälder dort aufgewachsen sind, noch genau, was sich damals dort abgespielt haben muss.

SZ: Ihre langsame Annäherung an Orte und Geschichten hat noch etwas vom klassischen Erzähler. Vielleicht ist ja auch Ihre Sprache, das retardierende Tempo Ihrer Sprache mit ihrem eigenen Rhythmus etwas, was dem, worüber wir gesprochen haben, nämlich die Archäologie europäischer Katastrophenlandschaften, noch am ehesten entspricht. Dieser Art von Katastrophenwelt kann man vielleicht nicht mit der von ihr selbst erzeugten Sprache gerecht werden. Und auf diese Weise kommen bei Ihnen möglicherweise das Wandern, die Sprache und der scharfe Blick auf die Gegenwärtigkeit des Vergangenen überein.
Sebald: Dem könnte ich zustimmen, dass die Annäherung an diese komplizierten Dinge sicher nur eine langsame sein kann. Das Projekt, mit dem ich mich jetzt zu beschäftigen beginne, ist eines, das ich sicher fünf Jahre im Kopf haben muss, bevor etwas halbwegs Vernünftiges dabei herauskommt. Indem ich in es hineingehe, merke ich, wie uferlos es ist, und dass man dem überhaupt nur auf eine Weise gerecht werden kann, die sich langsam entwickelt. Das Problem ist natürlich, dass man, wenn man sich bereits dem sechzigsten Lebensjahr nähert, mit Projekten, die sich über drei, vier, fünf oder sechs Jahre entwickeln sollen, seine Schwierigkeiten hat. Da bricht dann leicht die Panik aus.

Uwe Pralle in Süddt. Zeitung 22./23.Dez 2001