Musik





Gustav Mahler
Lieder eines fahrenden Gesellen




Ich kam mir vor, mit dem Hut in der Hand und dem Rucksack über der Schulter, wie ein fahrender Geselle aus dem vergangenen Jahrhundert, so fehl am Platz. Ja, das ist doch genau das, was Sie sein wollen. Oder?
SEBALD: Freilich, aber es hat eben immer etwas Ambivalentes. Alles, was dann auf der nächsten Seite folgt, können Sie bei Gustav Mahler nachlesen, in den Liedern eines fahrenden Gesellen - dort sind die ganzen Bezugspunkte, das Mädchen mit den blauen Augen usw. Das ist eine dieser tausend versteckten Parallelen.

Zwei Stunden zirka nach meiner wunderbaren Befreiung aus dem Heidelabyrinth erreichte ich endlich die Ortschaft Middleton, in der ich den seit nahezu zwanzig Jahren dort lebenden Schriftsteller Michael Hamburger aufsuchen wollte. Es war gegen vier Uhr. Weder auf der Dorfstraße noch in den Gärten war jemand zu sehen, die Häuser machten einen abweisenden Eindruck, und ich kam mir vor, mit dem Hut in der Hand und dem Rucksack über der Schulter, wie ein fahrender Geselle aus einem vergangenen Jahrhundert, so fehl am Platz, daß es mich gar nicht gewundert hätte, wenn auf einmal eine Schar Gassenbuben hinter mir hergesprungen oder einer der Hausbesitzer von Middleton über seine Schwelle getreten wäre, um mir ein »Schau, daß du weiterkommst!« zuzurufen. Schließlich zieht jeder Fußreisende, auch heute noch, ja gerade heute und vor allem, wenn er nicht dem gängigen Bild des Freizeitwanderers entspricht, sogleich den Verdacht der Ortsansässigen auf sich. Wahrscheinlich sah mich deshalb das Mädchen in dem Dorfladen mit ihren blauen Augen so entgeistert an. Die Türschelle war längst verklungen, und ich hatte schon eine Zeitlang in der kleinen, bis an die Decke mit Konservendosen und sonstiger unverderblicher Ware angeräumten Greißlerei gestanden, da trat sie aus dem vom Licht eines Fernsehers durchzitterten Nebenraum hervor und staunte mich mit halboffenem Mund einfach nur an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Nachdem sie ein wenig sich gefangen hatte, maß sie mich mit einem mißbilligenden Blick, der zuletzt an meinem staubigen Schuhwerk hängenblieb, und als ich ihr einen guten Nachmittag wünschte, starrte sie mir wieder völlig fassungslos ins Gesicht. Es ist mir mehrfach schon aufgefallen, daß den Leuten auf dem Land beim Anblick eines Ausländers der Schreck in die Glieder fährt und daß sie ihn, selbst wenn er ihre Sprache gut beherrscht, zumeist nur schwer und manchmal überhaupt nicht verstehen. Auch das Mädchen in dem Dorfladen von Middleton hat auf meine Bitte um ein Mineralwasser nur mit verständnislosem Kopfschütteln reagiert. Verkauft hat sie mir schließlich eine Dose eiskaltes Cherry-Coke, die ich, ehe ich die letzten paar hundert Meter bis zum Haus Michaels zurücklegte, an die Kirchhofsmauer gelehnt, wie einen Schierlingsbecher mit einem langen Zug leerte.



Der Nachmittag begann sich zu neigen, als ich das in den Marschwiesen am Ortsrand von Middleton gelegene Haus Michaels erreichte. Ich war dankbar, mich in dem stillen Garten ausruhen zu können von den Irrgängen auf der Heide, die mir jetzt, da ich von ihnen erzählte, unwillkürlich den Charakter des bloß Erfundenen anzunehmen schienen. Michael hatte einen Topf Tee herausgebracht, aus dem ab und zu ein Wölkchen aufstieg wie aus einer Spielzeugdampfmaschine. Sonst rührte sich nichts, nicht einmal die grauen Blätter der in dem Wiesengrund jenseits des Gartens stehenden Weiden. Wir unterhielten uns über den leeren und lautlosen Monat August.

For weeks, sagte Michael, there is not a bird to be seen. It is as if everything was somehow hollowed out. Alles ist kurz vor dem Niedersinken, nur das Unkraut wächst weiter, die Ackerwinden erwürgen die Sträucher, die gelben Wurzeln der Brennesseln kriechen unter der Erde fort, die Klettenstauden überragen einen um Haupteslänge, die Braunfäule und die Milben breiten sich aus, und sogar das Papier, auf dem man mühselig Wörter und Sätze aneinanderreiht, fühlt sich an, als sei es vom Meltau überzogen. Tage- und wochenlang zermartert man sich vergebens den Kopf, wüßte, wenn man danach befragt würde, nicht, ob man weiterschreibt aus Gewohnheit oder aus Geltungssucht, oder weil man nichts anderes gelernt hat, oder aus Verwunderung über das Leben, aus Wahrheitsliebe, aus Verzweiflung oder Empörung, ebensowenig wie man zu sagen vermöchte, ob man durch das Schreiben klüger oder verrückter wird. Vielleicht verliert ein jeder von uns den Überblick genau in dem Maß, in dem er fortbaut am eigenen Werk, und vielleicht neigen wir aus diesem Grund dazu, die zunehmende Komplexität unserer Geisteskonstruktionen zu verwechseln mit einem Fortschritt an Erkenntnis, während wir zugleich schon ahnen, daß wir die Unwägbarkeiten, die in Wahrheit unsere Laufbahn bestimmen, nie werden begreifen können.

Begleitet einen der Schatten Hölderlins ein Leben lang, weil man zwei Tage nach ihm Geburtstag hat? Ist man deshalb immer wieder versucht, die Vernunft abzulegen wie einen alten Mantel, Briefe und Gedichte unterthänigst zu zeichnen als Scardanelli und die unliebsamen Gäste, die einen anschauen kommen, sich mit Anreden wie Euer Hoheit und Majestät vom Leib zu halten? Beginnt man mit fünfzehn oder sechzehn Elegien zu übersetzen, weil man vertrieben worden ist aus seinem Heimatland?


1. Wenn mein Schatz Hochzeit macht



Wenn mein Schatz Hochzeit macht,
Fröhliche Hochzeit macht,
Hab' ich meinen traurigen Tag!
Geh' ich in mein Kämmerlein,
Dunkles Kämmerlein,
Weine, wein' um meinen Schatz,
Um meinen lieben Schatz!
Blümlein blau! Blümlein blau!
Verdorre nicht! Verdorre nicht!
Vöglein süß, Vöglein süß,
Du singst auf grüner Heide.
Ach, wie ist die Welt so schön!
Ziküth! Ziküth!
Singet nicht! Blühet nicht!
Lenz ist ja vorbei!
Alles Singen ist nun aus.
Des Abends, wenn ich schlafen geh',
Denk' ich an mein Leide.
An mein Leide!




2. Ging heut morgen übers Feld



Ging heut morgen übers Feld,
Tau noch auf den Gräsern hing;
Sprach zu mir der lust'ge Fink:
,,Ei du! Gelt? Guten Morgen! Ei gelt?
Du! Wird's nicht eine schöne Welt?
Zink! Zink! Schön und flink!
Wie mir doch die Welt gefällt!
Auch die Glockenblum' am Feld
Hat mir lustig, guter Ding',
Mit den Glöckchen, klinge, kling.
Ihren Morgengruss geschellt:
,,Wird's nicht eine schöne Welt?
Kling, kling! Schönes Ding!
Wie mir doch die Welt gefällt!
Heia!
Und da fing im Sonnenschein
Gleich die Welt zu funkeln an;
Alles Ton und Farbe gewann
Im Sonnenschein!
Blum' und Vogel, gross und klein!
,,Guten Tag, ist's nicht eine schöne Welt?
Ei du, gelt? Schöne Welt?
Nun fängt auch mein Glück wohl an?
Nein, nein, das, ich mein',
Mir nimmer blühen kann!




3. Ich hab' ein glühend Messer



Ich hab' ein glühend Messer,
Ein Messer in meiner Brust,
O weh! Das schneid't so tief
In jede Freud' und jede Lust.
Ach, was ist das für ein böser Gast!
Nimmer hält er Ruh',
Nimmer hält er Rast,
Nicht bei Tag, noch bei Nacht,
Wenn ich schlief.
O Weh!
Wenn ich in den Himmel seh',
Seh' ich zwei blaue Augen stehn.
O Weh! Wenn ich im gelben Felde geh',
Seh' ich von fern das blonde Haar
Im Winde wehn.
O Weh!
Wenn ich aus dem Traum auffahr'
Und höre klingen ihr silbern' Lachen,
O Weh!
Ich wollt', ich läg auf der schwarzen Bahr',
Könnt' nimmer die Augen aufmachen!




4. Die zwei blauen Augen von meinem Schatz



Die zwei blauen Augen von meinem Schatz,
Die haben mich in die weite Welt geschickt.
Da musst ich Abschied nehmen.
Vom allerliebsten Platz!
O Augen blau, warum habt ihr mich angeblickt?

Nun hab' ich ewig Leid und Grämen.
Ich bin ausgegangen in stiller Nacht
Wohl über die dunkle Heide.
Hat mir niemand Ade gesagt.
Ade! Mein Gesell' war Lieb' und Leide!

Auf der Strasse steht ein Lindenbaum,
Da hab' ich zum ersten Mal im Schlaf geruht!
Unter dem Lindenbaum, der hat
Seine Blüten über mich geschneit,
Da wusst' ich nicht, wie das Leben tut,
War alles, alles wieder gut!
Alles! Alles, Lieb und Leid
Und Welt und Traum!


Gustav Mahler ist 1883-85 in Kassel Chorleiter und Kapellmeister.
Er verliebt sich - unerwidert - leidenschaftlich in die Sopranistin Johanna Richter. In dieser Zeit entstehen die Lieder, Mahler vertont vier seiner Liebesgedichte für Johanna. Sie sind die Gedanken eines Gesellen, der auf seiner Wanderschaft versucht, seine Unglück zu verarbeiten: zwei Welten, die reale (unerfüllte) und die Traumwelt (Erfüllung) ...