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Melancholy is only a passing mood,
don't mistake it for wisdom



Saturniker Sebald

18. Mai 2010

W.G. Sebald, der seine Vornamen hasste und lieber Max heißen wollte, wurde heute vor 66 Jahren geboren. Er ist schon neun Jahre tot, bei einem Autounfall in England gestorben (wie Rolf Dieter Brinkmann), aber bei seinen Lesern ist er unvergessen. Es gibt auch schon einen weltweiten Sebald-Kult, und seine Anhänger, Fans und Jünger haben zum Teil sehr aufwendige Websites wie zum Beispiel diese. Man liebte ihn als Schriftsteller schon in Frankreich und England (und auch in den USA), bevor man ihn in Deutschland entdeckte. Wahrscheinlich lag das daran, dass er längst in England lebte und sich nicht an dem Tagesgeschäft des deutschen Literaturzirkus beteiligte.

Was nicht ganz richtig ist, er hat schon Stellung bezogen und lebende und tote Kollegen attackiert (wie Alfred Andersch und Jurek Becker), aber aus der sicheren Position von einer Lehrkanzel an der Universität Norwich. Sebalds Literaturkritik hat nichts mit Literatur zu tun, es ist eine moralische Kritik. Und die Moral, die hat der Winfried Georg Sebald aus dem Allgäu, der kein Deutscher mehr sein will, nun mal gepachtet. Die Moralkeule schwingt er genauso wie Reich-Ranicki. Weil er seinen Vater, den kleinen Berufssoldaten gehasst hat, weil er seinen germanischen Vornamen Winfried hasst, nimmt er jetzt das ganze Leid der Welt auf sich und schreibt über das, was er nicht aus eigener Erfahrung kennt. Dafür klaut er auch schon anderen ihre Biographie und schreibt sie in seine Werke, dieses postmoderne Recycling gilt jetzt als schick. Und wenn man das geschickter macht als Fräulein Hegemann mit Axolotl Roadkill, dann kann man damit berühmt werden, und die New York Times sagt, dass man den Nobelpreis kriegen sollte. Auf jeden Fall ist man so lange berühmt, wie alle von der neuen Postmoderne und der Intertextualität ganz besoffen sind. In der englischsprachigen Welt hat er nach Die Ausgewanderten jetzt den Titel the Holocaust writer, der die ganze Trauerarbeit auf sich nimmt, die Deutschland nicht hat leisten wollen. Ein Titel wie Holocaust writer ist in Amerika gut für das Geschäft, die Verkaufszahlen lagen in der englischsprachigen Welt immer über den deutschen.

Das alles gefällt mir nicht so sehr, aber es gibt einen Roman (falls das das richtige Wort ist) von Sebald, der mir gefallen hat, und das ist Die Ringe des Saturn: Eine englische Wallfahrt. In einer limitierten Bleisatzausgabe (und einem preisgünstigeren Nachdruck) 1995 bei Vito von Eichborn erschienen. Ich mag das Buch, weil mir vieles darin vertraut ist. Aber ich käme nicht auf die Idee, Sebald für den größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts zu halten. Sebald hat hier seinen Stil gefunden, und das ist jetzt ein ganz unverwechselbarer Sebald Stil, den man erkennen kann, so wie man das Saxophon von Don Byas von dem von Charley Parker unterscheiden kann.

Und so wandert er durch England und präsentiert uns alles, was ihm einfällt. Angelesenes, Durchdachtes, manchmal auch Erlebtes, vieles irgendwo abgeschrieben. Reisebericht, Autobiographie, eine Art Kompendium der Welt wie die Schriften von Sir Thomas Brown (den er natürlich zitiert). Immer wieder gibt es Detailaufnahmen, die Sebaldsche Zoombeschreibung zoomt an das kleinste Objekt. Aber mehr als aneinandergereihte Detailaufnahmen bringt Sebald stilistisch nicht zustande. Dazwischen eine Vielzahl von Abbildungen. Dies sind nicht Fontanes Wanderungen, dies ist der Höhepunkt der Postmoderne.

Eine Kulturgeschichte des Herings (die Bücherwissen bleibt, weil der Verfasser niemals auf einem Heringslogger war) steht neben einer Lebensskizze von Joseph Conrad. Und dazwischen finden sich schöne Landschaftsbeschreibungen und ein liebevoll gezeichnetes Portrait seines Freundes Michael Hamburger. Und überall eine untergehende, verfallende Welt. Das alles könnte von einem kauzigen Viktorianer geschrieben worden sein, Sebald ist jetzt schon sehr englisch geworden. Von der verleugneten Heimat im Allgäu ist auf dieser englischen Wallfahrt entlang der Ostküste Englands keine Spur mehr. Dass der Saturn, der Planet der Melancholiker, im Titel vorkommt, ist kein Zufall. Dies Buch hat nicht nur einen melancholischen Grundton, dieses Buch ist schwer depressiv. Aber das macht seine seltsame Qualität aus, und es ist diese depressive Trauer, die alles Essayistische zusammenhält und ihm einen Sinn zu geben scheint.

Melancholy is only a passing mood, don't mistake it for wisdom, hat Bertrand Russell gesagt, der auch an einem 18. Mai wie heute geboren wurde. Und der es nicht so mit der Depressivität hatte. Kritiker haben gesagt, dass der Saturniker Sebald so schriebe, als sei er schon tot. Über Lord Russell hat das niemand gesagt, der war bis ins hohe Alter (und er ist beinahe hundert geworden) quicklebendig und weltzugewandt.

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