Christian Mini-Kosmos





Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah.
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben.
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.




Kinder eines Genies



„Sein Leben war so chaotisch, dass er daran fast zugrunde gegangen wäre“

Vermutlich, meint Stephen Parker, muss man als Brecht-Forscher ein ruhiger und ausgeglichener Mensch sein, denn der Gegenstand liefert so viel in verschiedenste Richtung strahlende Energie, produktive wie destruktive Kräfte, dass man sich ihm nur im Modus der Selbstbeherrschung nähern sollte.

Bertolt Brecht war ein Mensch und Künstler der Extreme, sein Jugendfreund Caspar Neher hat ihn als „Hydratopyranthropos“, als „Wasser-Feuer-Mann“ bezeichnet. Stephen Parker - er hat 2018 eine Biografie Brechts veröffentlicht - ist Germanist an der Universität Manchester, spricht im Interview ganz ruhig und leise, sein vorherrschendes Gefühl ist Neugier.

WELT: Professor Parker, ist Ihnen Brecht eigentlich sympathisch?

Parker: Brecht ist vor allem widersprüchlich. Ich versuche, eine gewisse Empathie aufzubringen. Brecht war ein großer Künstler mit ganz offensichtlichen Schwächen.

WELT: Wenn Sie eine Zeitreise machen könnten, welchen Brecht würden Sie gern treffen? Den jungen, den der Zwanzigerjahre, den Exilanten, den späten?

Parker: Wenn ich etwas jünger wäre, würde ich unbedingt beim jungen Brecht in seinem Augsburger Freundeskreis mitmachen wollen. Unbedingt! Das „Baalische Weltgefühl“, von dem sein Freund Hanns Otto Münsterer gesprochen hat, das hätte man erleben müssen. Aber ich bin ja heute älter als je Brecht wurde. Also wäre ich lieber in Ost-Berlin an seiner Seite gewesen, um ihn besser verstehen zu können.

WELT: Erscheint Ihnen der ältere Brecht rätselhafter?

Parker: Nein, alles reicht sehr weit zurück. Die Verhaltensmuster, die er noch in der frühen DDR zum Vorschein bringt, kann man nur vor dem Hintergrund von früheren Erfahrungen erfassen. Vor allem dieses Oszillierende, Hin- und Herschwingende in seinem Verhalten. Schon ein Mitschüler hat Brecht als „vorlaut und zurückhaltend zugleich“ charakterisiert. Dieser Gegensatz hat sich im Laufe der Zeit verwandelt, etwa in seinen Taoismus, dem Wechselspiel von Handeln und Nichthandeln.

WELT: Seine langjährige Sekretärin und Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann, sein „Chief Girl“, formuliert einmal, Brecht habe „grobe“ Dinge gesagt, „doch sehr höflich“. War das eine Maske?

Parker: Das würde zu kurz greifen. Diese beiden Aspekte, das Vorlaute und das Reservierte, konnten als Maske eingesetzt werden. Aber sie waren beide Bestandteil seiner komplizierten Persönlichkeit.

WELT: Helmut Lethen hat in seinem Buch „Verhaltenslehren der Kälte“ den „coolen“ brechtschen Habitus als generationentypisch beschrieben: Eine ganze Generation, die traumatisiert aus dem Weltkrieg kommt, legt sich Panzerungen und Masken um ihre verwundeten Seelen, wie Brecht seine notorische Lederjacke.

Parker: Eine zentrale Erfahrung für Brecht. Er hat nicht an der Front gedient, war aber Sanitätssoldat und hat Schreckliches gesehen, Schwerverletzte, Amputationen. In einem späteren Brief an seinen Sohn Stefan stellt er die zentrale Frage: „Wie konnte man unempfindlich werden?“ Brecht hat früh die Erfahrung gemacht, dass man sich schützen muss. Er hatte eine sehr dünne Haut und musste sich eine dicke Haut zulegen. Um 1916 erfindet er sich neu, der im Krieg verwundete Caspar Neher spielt eine wichtige Rolle. Und von da an schreibt Brecht über wilde Abenteurer und harte Männer, die Prüfungen standhalten müssen.

WELT: Aber es ist ja nicht nur Projektion. Er hat ja selbst diesen Machismo im Privaten auch gelebt.

Parker: Das sitzt bei ihm tief im Fleisch. Für Brecht spielt auch der Tod der Mutter 1920 eine zentrale Rolle. Unmittelbar danach ist er sehr aggressiv geworden, hat seinen alten Freundeskreis zerschlagen. Er war ein angry young man, in der Zeit vom Kriegsende bis etwa 1923/24, wo es dann nicht mehr so weiterging. Er musste eine neue Gemütslage finden. Dazu gehörte auch die Vertiefung in chinesische und antike Philosophie, die Beschäftigung mit Montaigne und Hegel. Ataraxie, Gelassenheit, wird immer wichtiger, erst recht dann später in der Emigrationszeit.

WELT: Brecht und Gelassenheit?

Parker: Für einen sozialen Umgang überhaupt war das notwendig. Er litt früh unter Chorea minor, zwanghaftem Zittern und Zuckungen. Wenn er öffentlich in Erscheinung treten wollte, musste er Mittel finden, um das zu lindern. Diese Krankheit hat ihn sein Leben lang begleitet.

WELT: In einer Biografie geht es immer um Kontinuität und Bruch. Oberflächlich gesehen gibt es bei Brecht viele Brüche, radikale Kehrtwendungen in ästhetischen und politischen Konzepten. Sie betonen aber eher tiefer liegende Kontinuitäten, und hier spielen seine Krankheiten, das Bewusstsein seiner fragilen Körperlichkeit eine zentrale Rolle.

Parker: Eine große Frage der Brecht-Forschung lautet, warum sich Mitte der Zwanzigerjahre auf einmal alles ändert. Traditionell hat man dafür seine Entdeckung des Kommunismus verantwortlich gemacht. Aber das kam erst danach. Brecht selbst spricht im Sommer 1925 von der notwendigen „Regelung der Appetite“. Er hat eingesehen, dass er sehr früh sterben würde, wenn er sein Leben nicht ändern würde. Das war so chaotisch geworden, dass er daran fast zugrunde gegangen wäre. Das betraf seinen Alltag, seinen Lebenswandel, inklusive seiner ganzen Affären.

WELT: Er stellte seinen Tagesablauf um, steht früh auf, setzt sich an den Schreibtisch, verzichtet auf Alkohol. Sein turbulentes Beziehungsleben ändert sich nicht.

Parker: Er kann sich nicht zähmen. Lion Feuchtwanger hat das gut erkannt in einem Brief an Arnold Zweig nach Brechts Tod: „Auch hätte er es nie ertragen, so ruhig und vorsichtig zu leben, wie man es ihm sehr früh schon empfohlen hatte.“ Er hat es immer wieder versucht, einiges erreicht, aber sich richtig zu mäßigen, das war ihm nicht gegeben.

WELT: In diesem Zusammenhang zitieren Sie Elias Canettis wunderbare Einschätzung Brechts, der hungrig und asketisch zugleich wirkte: „Der Hunger konnte auch als Fasten erscheinen, als enthalte er sich mit Absicht der Dinge, die Gegenstand seiner Gier waren.“

Parker: Da hat Canetti etwas sehr genau gesehen.

WELT: Vielleicht weil Canetti selbst so ein notorischer Frauenverbraucher war. Was Brecht sich erlaubt, etwa mit seiner Jugendliebe Paula Banholzer („Bi“) oder – gleichzeitig – mit seiner ersten Frau Marianne Zoff, ist einfach unfassbar. Woher kommt das?

Parker: Brechts Vater und auch der Bruder waren immer Frauenhelden gewesen, da musste Brecht mithalten. Man kann auch von einer allgemeinen Krise der Männlichkeit sprechen. Der Machismo ist auch eine Gegenreaktion auf die sichtbare Schwäche. Vor dem Hintergrund der Krankheit und des Todes musste der Mann sich behaupten. Brechts Verhalten war sehr altmodisch, aber nicht untypisch.

Richard Kämmerlings "Welt" vom 9.7.2018

1. Frank (1919-1913) Mutter: Paula Banholzer

1917: Er 19, sie 16. Er nennt sie „Bi“ oder „Bittersweet“ - aus Paul Claudels Drama "Der Tausch". Die Augsburger Schülerin ist eine seiner unzähligen Liebesbeziehungen (was die einen mit der biologischen Veranlagung des Mannes erklären, die anderen als laxe Sexualmoral verurteilen), ein Jahr später ist sie schwanger. Das Paar will heiraten, aber ihr Vater, angesehener Arzt, ist mit dem Schwiegersohn, Angehöriger des Arbeiter- und Soldatenrats, der sich gern als Bürgerschreck inszeniert, nicht einverstanden. Um den Skandal einer unehelichen Geburt möglichst klein zu halten, schickt er die Tochter ins Allgäu. Dort kommt der Sohn 1919 zur Welt und in Russland 1943 als Obergefreiter um.
Frank Banholzer, so heißt er, ist das erste Kind Bert Brechts. Traurige Kindheit, einsame Jugend, schlimmer Tod.
Zwar bleibt Mutter Paula das erste Jahr bei ihm, wo Vater Bert sie immer mal wieder besucht. Aus Augsburg und München schreibt er Briefe, er freue sich auf sein erstes Kind.

Die Taufe feiert man dort im Wirtshaus, der Sohn wird nach dem hochverehrtem Wedekind Frank genannt. Die Spuren der „Kimratshofener Episode“ im Werk Brechts sind verwischt. Im Herbst 1919 entstehen zwar die Einakter „Die Hochzeit“ und „Er treibt einen Teufel aus“, er verfasst Kindergedichte, die Caspar Neher (der später berühmte Bühnenbildner) illustriert, die Originale sind verloren.
Paula folgt Brecht nach München, wo aber die Liebe rasch abkühlt. 1922 heiratet er Marianne, zieht jedoch kurz danach mit Helene nach Berlin. Paula heiratet 1924 einen Augsburger Kaufmann, der nicht bereit ist, Paulas voreheliches Kind aufzunehmen. Als Brecht, nunmehr mit Marianne Zoff verheiratet, von Banholzers Heiratsabsichten erfährt, schickt er Helene Weigel nach Augsburg, um „Bi“ nach Berlin zu holen, die aber nicht kommt.

Franks Passionsgeschichte beginnt.
Paula darf ihren Sohn nicht zu sich nehmen, er bleibt zunächst in Kimratshofen im Haus der Hebamme, bei der Frank geboren ist. Dann finden sich andere Pflegeeltern, seine Mutter hat zwischenzeitlich in München Arbeit gefunden. Sie verbringt mit Brecht im Künstlermilieu glückliche Zeiten, wird abermals schwanger, kann sich jedoch im November 1920 „selbst behelfen“ - so nennt Brecht die Abtreibung.
Während seiner Beziehung zu Paula hat er weitere Leibschaften: die Augsburgerin Maria Amman, die Münchner Studentin Hedda Kuhn und Marianne Zoff, spätere erste Ehefrau.
Frank wächst in seine unruhige Kindheit hinein, geprägt durch häufige Wechsel der Orte und Bezugspersonen. In Kimratshofen wohnen die Pflegeeltern, Marianne in München, ihre Eltern in Wien, Brechts verwitweter Vater in Augsburg, Helenes Eltern und ihre Schwester auch in Wien und weitere Pflegeeltern in Friedberg bei Augsburg.

Nirgends ist Frank auf Dauer zu Hause und oft krank. Seinen Vater sieht er kaum. Jedenfalls aber schickt dieser Briefe, bescheidene Geschenke zu Festtagen, hin und wieder Geld. Über Franks Entwicklung geben ihm Paula und sein Vater Bericht.
1926 verurteilt das Amtsgericht Charlottenburg Bert Brecht, für seinen Sohn 9 Jahre lang Unterhalt von 480 Mark zu zahlen. Als Paula Brecht 1935 um finnazielle Unterstützung für Franks Berufsausbildung bittet, lehnt Brecht das ab, sagt aber monatlich 50 Mark zu.

Briefzitate
1935 nach Dänemark: "Lieber Papa, liebe Tante Helli! Hörte von dem Unglück, dass Ihr aus Deutschland verbannt wurdet, und hoffe, dass es hier bald anders wird und Ihr zurückkommen könnt."
Kommt in diesen kindlich-naiven Worten des 16jährigen Schmerz zum Ausdruck? Frank will sich für 50 Mark bedanken, die Brecht ihm für den Kauf eines Anzuges schickte, damit er sich um eine Lehrstelle bewerben kann. Darin erschöpft sich die ganze Unterstützung, die er vom Vater erwarten kann.
Ende 1936: "Aber am meisten hat es mir Freude gemacht, dass ich von Dir einen Brief erhalten habe. Zeigt es mir doch, dass Du auch zuweilen an mich denkst!" - ein Dankesbrief fürs Weihnachtsgeschenk, über das er sich sehr gefreut habe. Unterdrückter Hilferuf in der anschließenden Frage nach dem Befinden von Steffen und Barbara, den zwei Kindern Vaters mit Helene? Etwa der geheime Wunsch, selbst zur Familie zu gehören?
Franks Schulzeugnisse sind schlecht. Sein Berufswunsch Dentist ist zu teuer.

Zwei Jahre ist er in Friedberg gemeldet. Dann Reichsarbeitsdienst, ab Oktober 1939 Wehrdienst im Bodenpersonal der Luftwaffe, bis 1943 in der Nähe von Paris.
Um seine tatsächliche Herkunft zu verschleiern, gibt er als Vater "Bert Banholzer" an, und auch den Vornamen der Mutter verfälscht er von Paula in Berta. Die Vorgesetzten beurteilen ihn - 1,67 Meter groß, schlank, leichte Brille - als Soldaten ohne Ehrgeiz, ohne sonderliche körperliche und geistige Fähigkeiten. Tarnung?
Oft genug wurde er ausgegrenzt, nun grenzt er sich selber aus.

Anfang September 1943 Versetzung an die Ostfront. Am 13. November 1943 stirbt er bei einem Sprengstoffanschlag auf das Wehrmachtskino in Porchow. Sein Vater weiß vom Militärdienst des Sohnes. Von dessen Tod erfährt er wohl erst nach dem Krieg. 1949 geht Brecht nach Ostberlin und es heißt, er habe daran gedacht, Paula dorthin zu holen, von der Helene Weigel sagt, es sei die einzige Frau gewesen, die Brecht wirklich geliebt habe.
Bert Brecht stirbt 1956 mit 58, Paula 1989 mit 87.





2. Hanne (1923-2009) Mutter: Marianne Zoff

1923: Hanne wird geboren, die Ehe ihrer Eltern Marianne Zoff und Bert Brecht 1927 geschieden, Marianne heiratet Theo Lingen.
Hanne wird Tänzerin und Schauspielerin, arbeitet in Salzburg, heiratet 1948 den Berliner Arzt Joachim Hiob.
Ende 1920 hat Marianne Bert Brecht am Stadttheater Augsburg kennengelernt. Nach einer Aufführung kommt er in ihre Garderobe, macht ihr Komplimente und bietet sich als Liebhaber an; sie lässt sich darauf ein, obwohl beide zu dieser Zeit mit anderen Partnern (Paula und Oskar) liiert sind. Marianne ist seit 1917 in einer losen Verbindung mit dem wesentlich älteren, gut situierten, „halbjüdischen“ Münchner Verleger und Geschäftsmann Oskar Camillus Recht liiert, von dem sie sich finanziell aushalten lässt. Ein Kind, das sie von Recht erwartete, ließ sie abtreiben. Marianne führt ihre Liebesbeziehungen zu Recht und Brecht (recht so!) parallel fort - sie schwankt zwischen ihren Liebhabern; einen Heiratsantrag Rechts lehnt sie Anfang 1921 zunächst ab, Ende April 1921 will sie ihn dann schließlich doch heiraten. Mehrfach kommt es zu Auseinandersetzungen, Eifersuchtsszenen und Aussprachen zwischen den Männern. Ostern 1921 verprügelt Recht seine Geliebte schwer, nachdem sie ihm gestanden hat, dass sie ihre Beziehung zu Brecht nicht aufgegeben habe. 1921 wird Marianne von Brecht schwanger, verliert das Kind jedoch bei einem Abgang.

1921 söhnen sich Marianne und Brecht aus: Liebesurlaub in München, Possenhofen und Tutzing am Starnberger See. 1922 ist Marianne ein zweites Mal schwanger, sie heiraten in München, damit das Kind nicht unehelich zur Welt kommt, Hanne kommt auf die Welt und wird auf Wunsch Brechts katholisch getauft. Die Ehe aber zerrüttet sich zusehends, Brecht lernt Helene Weigel kennen, die er Anfang 1924 schwängert.
Ende 1925 lernt Marianne den 10 Jahre jüngeren Theo Lingen kennen, der sich ab da auch um Tochter Hanne kümmert. Als Brecht dies erfährt, droht er eifersüchtig mit Aufkündigung aller finanziellen Zahlungen und versucht mehrfach, die Tochter Hanne zu Mariannes Eltern nach Baden bei Wien zu bringen, um sie dem Einfluss Lingens zu entziehen. Ende März 1926 droht Marianne mit einer Klage, sollten Geldzahlungen weiterhin ausbleiben, worauf Brecht schließlich die Scheidung einreicht. Im Scheidungsurteil führen die Richter aus, beide Parteien trügen Schuld an der Scheidung. 1928 heiratete Marianne Theo Lingen.
Tochter Hanne wächst bei Marianne und Theo Lingen auf. 1935 stimmt Brecht ihrer Adoption durch Theo Lingen zu. Die Popularität Lingens, der seit dem Beginn der Naziherrschaft hauptsächlich komische Rollen spielt, was Joseph Goebbels gefällt, schützt Marianne, - gemäß den geltenden Rassengesetzen als „Halbjüdin“ (Mischling 1. Grades) - und ihre Töchter Hanne und Ursula vor einer Verfolgung durch die Nazis.
Nach Rückkehr aus dem Exil nimmt Brecht zu Marianne brieflich Kontakt auf, der bis zu Brechts zu seinem Tod im Hinblick auf Familien- und Erbangelegenheiten (Erhaltung des väterlichen Landhauses in Utting am Ammersee für die gemeinsame Tochter Hanne) anhält.
In der Uraufführung von Brechts heiliger Johanna der Schlachthöfe spielt Hanne Hiob 1959 unter Gustaf Gründgens in Hamburg die Titelrolle der Johanna. Neben unzählingen Engagements am Theater spielt sie auch in Filmen und Fernsehspielen mit. 1976 beendet sie ihre Bühnenlaufbahn, ist aber noch aktiv bei Brechtlesungen und Straßentheaterprojekten. Sie stirbt 2009.





3. Stefan (1924-2009) Mutter: Helene Weigel

1924: Helene Weigel bringt Sohn Stefan zur Welt, der nach dem 2. Weltkrieg nicht mit seiner Familie aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückkehrt, sondern an der University of California und der Harvard University studiert und in Philsophie promoviert.

1944 eingezogen, aber nicht mehr in den Krieg geschickt.
Er arbeitet an der Pariser École pratique des hautes études, dann als Dozent an der University of Miami. Seit den 1960ern schreibt Brecht zahlreiche Bücher und Gedichtbände. In New York ist er Kritiker und Historiker des Avantgarde-Theaters. Gedichte schreibt er sein ganzes Leben, 1975 veröffentlicht er sein erstes Buch "Poems".
Stefan Brecht schrieb über es und trat im neuen revolutionären Theater auf, das in den 1960er und frühen 70er Jahren in New York explodiert. Er schreibt Serien über 'The Original Theater of the City of New York'. 2001 zerstört seine Parkinsonerkrankung die Fähigkeit zu schreiben und zu sprechen.
Seine Ziel ist, für später in stark veränderten Zeiten Lebenden so viel wie möglich ein Gefühl dafür zu bewahren, wie es in den 60er und 70er Jahren in New York war. Sein Schreiben reicht von detaillierten Vor-Ort-Beschreibungen über Analysen bis hin zu Dokumentationen der Szene, aus der das radikal Neue hervorging.

Abgeschlossen hat er die Titel: "Queer Theatre", mit Schwerpukt auf Jack Smith und Charles Ludlams Ridiculous Theatrical Company, dann "The Theatre of Visons": Robert Wilson, der gemeinsam mit Byrd Hoffman die Spektakel „Nothing happens" der '69er und '70er Jahre produziert; und "Bread and Puppet Theatre" mit lebendigen Berichten über das Protesttheater in den '60's streets und die ersten Zirkusse in Vermont. Sein Bericht über Richard Foremans Ontological Hysteric Theatre erscheint 2010.
Dazu kommen Gedichte und "Eighth Avenue Poems" zusammen mit einem Fotobuch "of the street pavements, 8th Avenue."
Aus einem Nachruf in der New York Times:
"Wir lernten Stefan erst in den letzten Jahren kennen, als er schon an Parkinson litt, und wir wünschten, wir hätten ihn schon gekannt. Obwohl er manchmal als Misanthrop rüberkam, hatte Stefan ein Herz aus Gold. Stefan war nie Bewohner des Chelsea Hotels, aber er hatte hier über zwei Jahrzehnte ein Studio und hat im Laufe der Jahre hier viele Freunde gefunden. Er reiste täglich zwischen dem Chelsea und seiner Wohnung in Greenwich Village hin und her, fotografierte den Bürgersteig und hielt die Stimmung der Nachbarschaft in seinen Gedichten fest, die die Unterschicht von Chelsea abbilden, ohne sie im geringsten zu romantisieren. Ich habe zwei von Stefans Büchern gesichtet und dabei ihn und seine charmante Frau Rena Gill kennengelernt. Im April 2007 versammelten sich Stefans viele Freunde in der Markuskirche in der Bowery, um die Veröffentlichung seiner beiden Bücher zu feiern und sich an Stefans langes Leben und seine berühmte Karriere im Theater zu erinnern. Wir sind alle traurig über seinen Tod."
Mit dem Tod der Mutter 1971 treten Stefan und seine Geschwister Barbara Brecht-Schall und Hanne Hiob in die Rechte am Erbe ihres Vaters ein. Er ist Erbenbevollmächtigter und kümmert sich insbesondere um die Rechtewahrnehmung im englischsprachigen Raum. Stefan Brecht hat mit der Kostümbildnerin Mary McDonough die Kinder Sarah und Sebastian.
Er stirbt 2009.




4. Barbara (1930-2015) Mutter: Helene Weigel

1930: Das vierte Kind Brechts kommt auf die Welt - Barbara.

Seit 1961 mit dem Schauspieler Ekkehard Schall verheiratet trägt sie den Namen Brecht-Schall, wird Schauspielerin, seit den 1950er Jahren gehört sie dem Berliner Ensemble an. Als Inhaberin aller Rechte an den Brecht-Stücken hat sie häufig Streit über das Urheberrecht. Regisseure und Intendaten kritisierten ihre restriktive Vergabepraxis von Aufführungsrechten, Barbara Schall legt besonderen Wert auf eine von ihr als originalgetreu bewertete Wiedergabe. Nach dem Tod Heiner Müllers erwirbt sie dessen Anteile am Berliner Ensemble.

Barbara Brecht-Schall bewohnt mit ihrem Mann bis zu seinem Tod das Gartenhaus ihres Vaters am Scharmützelsee in Buckow. Das angrenzende Wohnhaus von Brecht/Weigel verkauft sie 1975 an die DDR, die dort 1977 ein Museum errichtet.
Sie stirbt 2015 im Alter von 84 Jahren.

Matthias Matussek schildert eine "Tortenschlacht" aus dem Jahr 1997:
"Sie darf entscheiden, wer ihren Papa inszeniert:
Brecht-Tochter Barbara Schall ist zur Zielscheibe von Theatermachern geworden, denen zum Erbe des deutschen Jahrhundertdichters nur noch Gezeter einfällt.
Ungeheuer ist viel, doch nichts ist dem Feuilleton ungeheurer als diese Frau, die - wie erwartet - schwere Geschütze auffährt. An diesem Morgen ist es Kirschrolle, ein cremiges süßes Ding und auf alle Fälle ein sauberer K. o. schon in der ersten Runde. "Na, schmeckt''s?" fragt Barbara Schall.
Sie trägt ihre grauen Haare kurz, mit einem Rattenschwanz, der sich über ihren Nacken schlängelt. Dickbäuchige Buddha-Statuen lächeln vom Fenstersims herüber, venezianische Mohren reichen ungerührt Glasperlenkram auf Samtkissen, schwere Putten stürzen von der Zimmerdecke, und alle glotzen anerkennend auf die Cremetorte. So was macht ihr keiner nach.
Den Rest aber auch nicht. Barbara Schall, 66, ist Hausfrau und Unternehmerin. Ihre Branche? Nicht Stahl, sondern Brecht. Sie ist die Tochter des Dichters und auf prächtige Art unwürdig und unsentimental wie er.

"Ach", dichtete der Vater einst, "was soll des roten Mondes Anblick
Auf dem Wasser, wenn der Zaster fehlt?"

Ihre rosa Badewanne hat Pool-Größe. Sie sammelt Flohmarktbroschen und Badekannen, sie liegt Commander James Kirk aus der "Star Trek"-Serie zu Füßen, sie schenkt ihrem Mann Bibeln, und zur Weihnachtszeit verschickt sie selbstgebackene Christstollen und hört Heintje.
Zwischendurch telefoniert sie mit Kenneth Branagh und liest Vertragstexte von Suhrkamp.
Hier gehts weiter



Nachwort: Brecht und die Frauen

Mit dem Thema beschäftigen sich neuerdings nicht nur Germanisten, auch Genderforscher haben hier ihr Betätigungsfeld.
Und Boulevard-Blättern bietet sich das unerschöpfliche Thema geradezu an.
Die erste - und wohl wichtigste - Frau im Leben Brechts, Paula Banholzer beschreibt ihre Beziehung zu Brecht später so:
"Ich war sein persönliches Eigentum, und er ließ mich das durchaus fühlen."
Wahrscheinlich hätten viele Frauen, mit denen Brecht verbunden war, diesen Satz unterschreiben können. Obwohl sich später Helene Weigel nicht anders fühlte, wollte sie neben Brecht begraben werden.
Zwar wollte Brecht seine Jugendliebe Paula schon früh heiraten, doch konnte er schon ihr nicht treu bleiben, hatte neben dem unehelichen Kind mit ihr schon bald zwei weitere Kinder mit zwei weiteren Frauen.
Sein Kommentar:
"Lass sie doch wachsen, die jungen Brechts!" Der egozentrische Satz macht deutlich, dass Herr Brecht in seinen Kindern etwas völlig Natürliches sah, das keinen Bezug zu moralischen Fragen beinhaltete.
1922 heiratet Brecht Marianne Zoff, beginnt aber schon kurz darauf eine Beziehung zu Helene Weigel, lässt sich nach zwei Ehejahren von Marianne scheiden, um 1929 Helene Weigel zu heiraten, seine langjährige Geliebte. Sie ist ihm bis zu seinem Tod als Frau verbunden, litt aber sowohl unter Brechts Untreue wie auch unter seinem übersteigerten Selbstbewusstsein.
Warum konnte er keiner Frau treu sein? Eine Antwort ist wohl Brechts Einstellung zur Sexualität, die von Bindungen gelöst zu sehen sei. Dazu kommt, dass er seine Geliebten künstlerisch "ausgebeutet" hat, wie seine Beziehungen zu Margarethe Steffin, Ruth Berlau oder Elisabeth Hauptmann zeigen. Neben sexuellen Beziehungen waren die Beziehungen meist Arbeitsbeziehungen, die ihm das kreative Milieu brachten, in dem er etwas schaffen konnte.
Der Anteil der meisten Frauen im Leben Brechts geht eben über das Dasein einer Muse hinaus. Sie arbeiteten mit ihm und für ihn. Manche waren ihm regelrecht hörig. Den Anteil seiner Geliebten an seinem Werk im Einzelnen klären zu wollen ist kaum möglich. Die Ideen anderer zu übernehmen gehörte für Brecht immer zu seinem Schaffensprozess, er nutzte bewusst Gruppenarbeit, um sein Werk voranzutreiben. Und dabei ist sicher, dass sein eigener Anteil nicht immer der entscheidende war.




Eine Enkelin - Johanna Schall - schreibt 2012 in der "Welt" über das vorbildliche Liebesleben ihrer Großeltern:

Großväter und Großmütter haben in den Augen ihrer Enkel kein Liebesleben, überhaupt kein eigenes Leben, sie sind hauptberuflich alte, zur Familie gehörige Leute, die man mag oder nicht, die schon immer alt waren und sich um einen kümmern. Und dann lese ich, die Enkelin, dieses Postskriptum in einem Brief aus dem Jahr 1946 von meinem Großvater an meine Großmutter:

Ich küsse Dich vorsichtig und
unvorsichtig, sorgfältig und
flüchtig, schnell und langsam,
Heli.

Frau Helene Weigl und Herr Eugen Berthold Friedrich Brecht lernen sich 1923 bei der Arbeit an „Trommeln in der Nacht“ am Deutschen Theater in Berlin kennen. Sie, eine Wiener Jüdin, die gerade beginnt, sich als Schauspielerin einen Namen zu machen, und er, ein schwäbischer Dichter mit enormem Talent und ebenso großen Ambitionen. Sie und er schreiben einander über die Jahre immer wieder, voneinander getrennt durch Arbeit und Arbeitssuche, Hunderte, meist kurze Briefe. Wobei von ihren leider nur wenige erhalten geblieben sind. Übermäßig viele Umzüge und einige undurchsichtige Geschehnisse haben ihre Zahl stark dezimiert.
Und doch entsteht beim Lesen das Bild einer intensiven Beziehung zwischen zwei interessierten, tief miteinander verbundenen Leuten. Und beide waren eigenwillige Dickköpfe, eine Eigenschaft, die meiner ganzen Familie eigen zu sein scheint. Jetzt hat Erdmut Wizisla den erhaltenen Briefwechsel zwischen 1923 und 1956 mit beeindruckend detaillierten Kommentaren herausgegeben.

Dies ist der erste Brief, Ende Dezember 1923 schreibt Brecht an Weigel:

1
Zweite Hälfte Dezember
starke Langeweile
90% Nikotin
10% Grammophon
offensichtlicher Mangel
an Bädern
Jahresende:
Auf nach Mahagonny
bevorzugt!

2
HW
zu deutsch:
Havary

Zum Zeitpunkt der „Havary“ ist Bertolt, wie er sich jetzt nennt, wohl weil es härter klingt, frischverheiratet und bereits Vater zweier Kinder.
Hier gehts weiter:





Zoff Weigel

„Menschenfresser“ nannte ihn Lion Feuchtwanger.
Ein Urteil, das sich durch Brechts Leben zieht.
So viel Scherben Brecht durch seine zahllosen,
oft willkürlich anmutenden Affären auch hinterlassen hat,
so viel er seinen künstlerischen Mitstreitern
durch seinen Perfektionismus
auch abverlangte: Am Ende bleibt seine Kunst.
Er nahm in Anspruch, aber er hat auch enorm viel gegeben.

Kommentar in Youtube zum Breloer-Film:
Brecht hat sich selten gewaschen, stank unter seine Lederkutte wie die Sau!
- die Weiber, die mit dem hässlichen, stinkenden Vogel ins Bett gegangen sind,
müssen pervers gewesen sein.
Max Frisch hat ihm die von ihm konzipierten schönen
Arbeiterwohnungen gezeigt, Brecht hat es nicht interessiert,
es entsprach nicht seinen Vorstellungen vom anständigen Arbeiterelend,
das Begräbnis seiner Mutter hat er verlassen, die Kollegen in Moskau verraten;
Liebesbrief an Stalin geschrieben usw. Genialer Regisseur, Menschenausbeuter,
cleverer Urheberrechtsverletzer, Plagiateur.
Um es mit Marcel R. Ranicki zu sagen: Brecht war kein Brechtianer.