... et iam summa procul villarum culmina fumant DIE DUNCKLE NACHT FAHRT AUS
I
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Auf einer andern Photographie, von der ich einen größeren Abzug besitze, ein Schwan und sein Spiegel- bild auf der schwarzen Fläche des Wassers, ein völliges Gleichnis des Friedens. Um den Teich die botanische Anlage befindet sich meines Wissens am Ufer der Regnitz in Bamberg, und ich glaub, es führt heute eine Straße durch sie hindurch. Das Ganze macht zunächst einen irgendwie undeutschen Eindruck, die Ulmen, Rüstern und dichtgrünen Koniferen im Hintergrund, das kleine Pagodengebäude, der feine geharkte Kies, die Hortensien, Schilflilien, Aloen, der Straußfederfarn und der riesenblättrige Zierrhabarber. Erstaunlich für mich auch die Personen, die zu sehen sind auf dem Bild. Die Mutter mit einem offenen Mantel, von einer Unbeschwertheit, die ihr später abhanden kam; der Vater, ein wenig abseits, die Hände in den Taschen, auch er, scheint es, sorglos. Man schreibt den 26. August 1943. Am 27. Abreise des Vaters nach Dresden, von dessen Schönheit seinem Gedächtnis, wie er auf meine Fragen bemerkt, nichts in Erinnerung geblieben ist. In der Nacht auf den 28. flogen 582 Maschinen einen Angriff auf Nürnberg. Die Mutter, die am anderen Morgen nachhause ins Allgäu zurückfahren wollte, ist mit der Bahn bloß bis nach Fürth gekommen. ![]() |
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Von dort aus sah sie Nürnberg in Flammen stehn, weiß aber heut nicht mehr, wie die brennende Stadt aussah und was für Gefühle sie bei ihrem Anblick bewegten. Sie sei, so erzählte sie neulich, von Fürth aus am selben Tag noch nach Windsheim zu einer Bekannten gefahren, wo sie das Schlimmste abgewartet und gemerkt habe, daß sie schwanger geworden sei. Was die brennende Stadt betrifft, so hängt im kunsthistorischen Museum in Wien ein Bild Altdorfers, auf dem Lot dargestellt ist mit seinen Töchtern. Am Horizont lodert ein furchtbares Feuer, das eine große Stadt verdirbt. Rauch steigt auf aus der Gegend, an den Himmel schlagen die Flammen, und im blutroten Widerschein sieht man die dunklen Fassaden der Häuser. Im Mittelgrund ist ein Stück grüne idyllische Landschaft, und dem Beschauer zunächst wird das neue Geschlecht der Moabiter gezeugt. Als ich dieses Gemälde im vorvergangenen Jahr zum erstenmal sah, war es mir, seltsamerweise, als hätte ich all das zuvor schon einmal gesehen, und wenig später hätte ich bei einem Gang über die Friedensbrücke fast den Verstand verloren. |
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In einem chinesischen Grillenkäfig hielten wir eine Zeitlang das Glück eingesperrt. Die Paradiesäpfel wuchsen prächtig, es lag eine Menge Gold auf der Tenne, und du sagtest, über den Bräutigam müsse man wachen wie über einen Gelehrten bei Nacht. Es war öfter Carneval für die Kinder. Lämmerwölkchen standen am Himmel. Die Freunde kamen verkleidet als Ormuzd und Ahriman. Doch dann war da unversehens diese Sache mit dem eleganten Herrn in der Oper, und ich fand eine Blindschleiche im Hühnerhaus. Eine Krähe verlor im Flug eine weiße Feder, der Pfarrer, ein hinkender Bote im schwarzen Überzieher, erschien am Neujahrsmorgen allein auf der weiten verschneiten Flur. ![]() Seither wappnen wir uns mit Geduld, seither rieselt der Sand durch den Briefkasten, haben die Topfpflanzen so eine Art, sich auszuschweigen. Nordländisches Trauerspiel, Schach- und Winkelzüge, zwangsläufig vollzieht sich immer das Ende. Warum müht man sich nur mit so einem schwierigen Unternehmen? Als Trost bleibt das Unglück anderer Leute giftgelb am Hut der Geliebten und war doch früher so schön. Prosa aus dem letzten Jahrhundert, ein Kleid, das sich in den Disteln verfing, ein bißchen Blut, eine Exaltation, ein zerrissener Brief, ein Uniformsternchen und längere Aufenthalte am Fenster. Ungute Phantasien in einer dunklen Kammer, nachgetragene Sünden, ja Thränen sogar und im Gedächtnis der Fische ein sterbendes Feuer, Emma, wie sie den Hochzeitsstrauß verbrennt. Was soll da ein armer Landarzt sich denken? Beim Leichenbegängnis träumt er von einem glänzenden Paar Lackstiefeln und einer posthumen Verführung. Jetzt aber kommt eine farblose Zeit. Du, inmitten der blendenden Obszönität werd ich dein banges Auge erinnern, wie ichs zum erstenmal sah, damals, als wir in Haarlem durch eine Deichlücke schwammen. ORKUOSSUOMAY YAMOUSSOUKRO Jahrestage und Zahlen, wie lang ist das alles her, ein Buchstabenfeld, kaum 7,u entziffern durch die gläsernen Linsen. Eigentlich, hör ich die kleine chinesische Optikerin sagen, eigentlich müßten Sie das jetzt leicht lesen können, und einen Augenblick lang spür ich ihre Fingerkuppen an meinen Schläfen, spüre, wie eine Welle mein Herz durchquert, und seh in dem hellen Geviert des Testbilds aneinandergereiht die Lettern YAMOUSSOUKRO, den Namen, ich weiß es genau, eines großen rostigen Schiffs aus Abidjan, das ich verjähren einmal auslauten sah aus dem Hamburger Hafen. Schwarze Matrosen standen an die Reling gelehnt. Sie winkten im Vorbeifahrn herüber, die Sonne ging eben unter, und die Schatten zitterten schon an den Rändern. |
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IV
Begeistert von dem wahrhaftig grenzenlosen Wachstum der Industrie, hat der Staatsmann Disraeli Manchester die wundervollste Stadt der Neuzeit genannt, ein himmlisches Jerusalem, dessen Bedeutung allein die Philosophie zu ermessen vermöge. Ein halbes Leben ist es nun her, daß ich, nach meinem Aufbruch aus der Provinz, dort ankam und Wohnung bezog zwischen den Ruinen aus dem letzten Jahrhundert. Viel bin ich damals über die brachen elysäischen Felder gegangen und habe das Werk der Zerstörung bestaunt, die schwarzen Mühlen und Schiffahrtskanäle, die aufgelassenen Viadukte und Lagerhäuser, die Abermillionen von Ziegeln, die Spuren des Rauchs, des Teers und der Schwefelsäure, bin lange gestanden an den Ufern des Irk und des Irwell, jener jetzt toten mythischen Flüsse, die schillernd zu besseren Zeiten geleuchtet haben azurblau, ![]() karminrot und giftig grün, spiegelnd in ihrem Glanz die Baumwollwolken, die weißen, in die aufgegangen war ohne ein Wort der Atem ganzer Legionen von Menschen. Und das Wasser führte sie abwärts mit dem Salz und der Asche durch das Marschland hinaus auf die See. Es bahnen die stillen Mutationen den Weg in die Zukunft. Im Verlauf von drei Generationen war die Arbeiterschaft von Manchester zu einem Geschlecht von Zwergen geworden. Freiwillige, die zu Kriegszeiten in den Dienst mit der Waffe zu entkommen suchten, wurden von den Behörden als untauglich abgewiesen, wofern sie nicht Aufnahme fanden in einem der sogenannten Bantamregimenter, die ihre diminutiven Soldaten aus dieser Stadt und der umliegenden Gegend rekrutierten. In einem Fall wie im ändern zählten sie zu den obskuren Scharen, denen der Fortschritt der Geschichte sich verdankt. Von meinem Arbeitsplatz aus glaubte ich die Irrlichter ihrer Seele zu sehen, wie sie als winzige Fackelbrände die Müllhalden der City Corporation durchgeisterten, ein rauchendes ![]() Riesengebirge, das sich, so schien es mir, bis hinüber ins Jenseits erstreckte. In der Dämmerung durchschnitten zumeist die Scheinwerferkegel der dort herumkriechenden Planierraupen den Luftraum, und Flugzeuge, die grauen Brüder der Vorzeit, erhoben sich unendlich langsam aus den Lagunen und Sümpfen. Ich erinnere mich, daß diese Bilder mich damals oft in einen quasi sublunaren Zustand schwerer Melancholie versetzten, daß ich dann ununterbrochen die eintönigen Schwingungen einer Maultrommel vernahm und wiederholt vor Beklemmung außer Haus gehen mußte. Tagelang hab ich im Souterrain der Universitätsbibliothek die Schriften des Paracelsus gelesen, wo es heißt, von septentrione gehe nichts Gutes und daß der Leib von der Krankheit gefärbt wird wie ein Tuch von einer frembden Farb. Oft bin ich auch auf der Wanderung durch die Straßenzüge eingekehrt in eine der vielen infernalisch glitzernden Wirtschaften, mit Vorliebe freilich in Liston's Music Hall, wo ein strahlend blauäugiger, völlig verwahrloster Heldentenor, der stets einen überlangen Wintermantel und einen Homburg trug, von einer Wurlitzer- orgel begleitet Tannhäusers Arien sang. Und in die Gospelkirchen bin ich hin und wieder gegangen und Zeuge geworden, wie die Siechen reihenweis unterm Geschrei der Gemeinde gesund und selbst Blinde sehend gemacht wurden. ![]() Einmal auf der Suche nach dem sternförmigen Gefängnis Strangeways, einem überwältigenden panoptischen Bau, dessen Mauern so hoch sind wie diejenigen von Jericho, geriet ich, in einer Art Niemandsland hinter den Bahnhöfen, in eine niedrige und anscheinend zum Abbruch bestimmte Häuserzeile mit aufgegebenen Läden, auf deren Schildern die Namen Goldblatt, Grünspan und Gottgetreu, Spiegelhalter, Solomon, Waislfisch und Robinsohn zu lesen waren. Im Wind bewegte sich eine Tür wie zum Zeichen. Angeschlagen an ihr war eine alte Affiche für das Musical Oklahoma. Der Eingang zum Naturtheater stand offen. Ich horchte noch auf ein Schwingen im Aether, da marschierte mit martialischer Blechmusik, Signalhörnern und Trommeln, ein Zug olivgrüner Kindersoldaten die Straße herunter, zog an mir vorbei und war plötzlich, wie vom Boden verschluckt, verschwunden. Wenn ich Herrn Deutsch etwas von diesen Dingen erzählte, schüttelte er seinen Kopf und sagte 'Seltsam, sehr seltsam'. Herr Deutsch, der aus Kufstein stammte, war im Achtunddreißigerjahr als Kind nach England gekommen. An vieles konnte er sich nicht mehr erinnern; einiges brachte er nicht mehr aus dem Sinn. Des Englischen war er nicht mächtig geworden, obschon er seit Jahren tagtäglich mit dem Ausdruck äußerster Angespanntheit das gesamte Fernsehprogramm verfolgte, als erwarte er jeden Augenblick eine alles entscheidende Nachricht. VI Wenn der Morgen anhebt, die Kühle der Nacht hinauszieht in das Gefieder der Fische, wenn wieder sichtbar wird der Umkreis der Luft, dann trau ich dem Frieden bisweilen und nehme mir vor, einen neuen Anfang zu machen, einen Ausflug vielleicht in eine Gegend für tarnfarbene Ornithologen. Komm, meine Tochter, komm gib mir die Hand, wir verlassen die Stadt, ich zeig dir die von der Flut jeden Tag zweimal angetriebene Mühle, ein ächzendes Wunderwerk aus Rädern und Riemen, das die Kraft überträgt des Wassers bis hinein in die Steine, bis in den rieselnden Staub und in die Leiber der Spinnen. Der Müller ist freundlich, hat saubere weiße Pfoten, erzählt uns allerlei Rauh aus der Geschichte des Mehls. Vor hundert Jahren verschwand hier Edward Fitzgerald, der Übersetzer Omar Khayyams. In schon fortgeschrittenem Alter bestieg er eines Tages sein Boot, segelte mit festgebundenem Zylinder hinaus auf die Nordsee und ward nie mehr gesehn. Ein großes Geheimnis, mein Kind, sieh, hier sind elf Hügel für die Toten und im sechsten der Abdruck eines vergangenen Schiffs mit vierzig Rudern, das Grab des Raedwald von Sutton Hoo. Merowingische Münzen, schwedisches Rüstzeug, byzantinisches Silber nahm der König mit auf die Reise, und seine Krieger, sie halten in diesem sandigen Landstrich noch heut ihre Waffen verborgen in grasüberwachsenen Bunkern, hinter Erdwällen, Stacheldraht und Föhrenplantagen, ein einziges Arsenal, so weit das Aug reicht, und nichts sonst als dieser Himmel, das Ginstergestrüpp und ab und zu ein Großbetrieb der Geriatrie, ein Zucht- oder Irrenhaus, eine Anstalt für Schwererziehbare. In orangeroten Jacken siehst du die Sträflinge arbeiten in langer Linie im Moor. Dahinter das Ende der Welt, die fünf kalten Häuser des Orts Shingle Street. Eine Frau steht untröstlich am Fenster, eine Kinderschaukel verrostet im Wind, ein einsamer Spion sitzt in seinem Wohnmobil in den Dünen, den Radioempfänger am Ohr. Nein, hier können wir keine Postkarten schreiben, nicht einmal aussteigen können wir hier. Kind, sag mir, drückt dich dein Herz wie mich meines, Jahr um Jahr aufgeschüttet von den Wellen des Meers eine Kiesbank bis hinauf in den Norden, jeder Stein eine tote Seele und dieser Himmel so grau, so gleichmäßig grau, und so niedrig hab ich den Himmel noch nirgends gesehn. ![]() Den Horizont entlang ziehen die Frachter hinüber in eine andere Zeit, gemessen am Ticken der Geiger im Kraftwerk von Sizewell, wo sie langsam den Kern des Metalls zerstören. Raunender Wahnsinn auf der Heide von Suffolk. Is this the promis'd end? Oh, you are men of stones. Was todt ist, das bleibt todt. Aus lieben kommet Leben. Ich weiß nicht, wer mir sagt, was? wie? wo oder wenn? Ist nun die Liebe nichts? als Alles? Wasser? Feuer? Gut? Böse? Leben? Todt? |
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Seither hab ich bei einem andern Lehrer gelesen, wir hätten den Tod vor uns, so etwa wie im Schulzimmer an der Wand ein Bild der Alexanderschlacht. ![]() ![]() Ich weiß jetzt, wie mit dem Aug eines Kranichs überblickt man sein weites Gebiet, wahrhaftig ein asiatisches Schauspiel, und lernt langsam an der Winzigkeit der Figuren und der unbegreiflichen Schönheit der Natur, die sie überwölbt, jene Seite des Lebens zu sehen, die man vorher nicht sah. Wir blicken über die Schlacht hin und sehen, von Norden nach Süden schauend, sehn wir ein Lager mit weißen persischen Zelten im Abendglanz liegen ![]() und eine Stadt an der Küste. ![]() Draußen mit geschwellten Segeln fahren die Schiffe, und die Schatten ![]() rühren bereits an Zypern, und jenseits dehnt das Festland Ägyptens sich aus. ![]() Das Nildelta ist zu erkennen, die Halbinsel Sinai, das rote Meer ![]() und weiter noch in der Ferne das im schwindenden Licht sich auftürmende Schnee- und Eisgebirge des fremden, unerforschten und afrikanischen Kontinents. |
Die Tafelinschrift (lat.) lautet: ALEXANDER M DARIVM ULT SVPERAT CAESIS IN ACIE PERSAR PEDIT C M EQUIT VERO X M INTERFECTIS MATRE QVOQVE CONIVGE; LIBERIS DARII REG CVM HAVD AMPLIVS EQVITIB FVGA DILAPSI CAPTIS "Alexander der Große besiegt den letzten Darius; nachdem in den Reihen der Perser hunderttausend Mann zu Fuß und über zehntausend persische Reiter erschlagen und Mutter, Gemahlin und Kinder des Königs Darius mit etwa 1000 Mann in Auflösung fliehend in Gefangenschaft gerieten" 1529 malt Altdorfer eines der wichtigsten Werke deutscher Malerei im Auftrag vom Wittelsbacher Herzog Wilhelm IV. Öltempera auf Lindentafel, 158 x 120 cm Griechen in weiß-blau, Perser in Rot, teilweise mit Turbanen. 1529 stehen die Türken vor Wien, Altdorfer beschwört den Sieg des Abendlandes über das Morgenland Die Schlacht bei Issos im Jahr 333 v. Chr. ist das erste direkte Aufeinandertreffen der Kriegsherren Alexander des Großen auf makedonischer und Dareios III. auf persischer Seite. Die Griechen/Makedonen wollen sich - so das offizielle Kriegsziel - mit ihrem Feldzug für die Zerstörungen rächen, die die Perser fast 150 Jahre zuvor in Griechenland (besonders in Athen) verursacht haben. Alexander strebt zudem nach Ruhm und Eroberungen. |
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Der Verfasserin ging offensichtlich die vernichtende Kritik Richard Sheppards an Sebalds Werk (er war ein Freund) zu nahe ("Inevitable, when critics and
academics begin to try to understand a writer whose work is as dense and as many-layered as W. G. Sebalds, much of the work is ephemeral,
reductionist and not well founded" - Unvermeidlich, wenn Kritiker und Akademiker anfangen zu versuchen, einen Schriftsteller zu verstehen, dessen Werk
so dicht und vielschichtig ist wie das W. G. Sebalds, wo so viel kurzlebig, reduktionistisch und nicht sehr gut begründet ist), wenn sie schreibt,
das müsse von einem Literaturwissenschaftler erst einmal verdaut werden.
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