Literatur


Mords-Erinnerungen: Die Ausgewanderten

Dr. Henry Selwyn zählt Grashalme. Hingelagert unter einem Baum seines Gartens, starrt er versunken auf einen Rasenfleck. "It’s a sort of passion of mine", erklärt er den unverhofften Besuchern. "Rather irritating, I am afraid." Aus Grashalmen läßt sich keine Welt zusammenzählen. Vielleicht aber die Miniatur eines Idylls, das für wenige Momente Bestand hat. Überdies erntet Dr. Henry Selwyn köstliche Früchte in seinem Garten, kredenzt sie den Besuchern und einem alten Freund, mit dem er noch einmal die Erinnerung an glückliche Tage heraufruft – letzte Früchte, bevor endgültig Verzweiflung und Zerfall das Regiment übernehmen. Dr. Selwyns Landhaus ist ein Museum luxuriösen Wohlstands, aus dem das Leben sich schon vor Jahrzehnten verflüchtigt hat. Eines Tages bringt er eine Jagdflinte – einstiges, doch nie benutztes Standesrequisit – in Anschlag und schießt sich durch den Kopf.
W. G. Sebald erzählt, als würde er Grashalme beschreiben. Noch den vermeintlich unscheinbarsten Details widmet er die größte Aufmerksamkeit. Er verleiht den Einzelheiten eine leuchtende Präsenz, weil er darin die Spur der Menschen sucht, deren Schicksal er nachforscht. Daraus zählt er verlorene Welten zusammen, die in der Ordnung des Erinnerns und Erzählens zuweilen sogar für Momente idyllische Züge annehmen. Dennoch war der Abgrund des Unglücks für seine Figuren immer gegenwärtig. Für gewisse Phasen ihres Lebens mögen sie sich darüber im Gleichgewicht gehalten haben, in einer stets gefährdeten und darum um so konzentrierter ausgekosteten Balance. Alles andere ist Vor- und Nachgeschichte, frühe Verletzung und später die Kapitulation vor dem Schmerz.
Die Vorgeschichte: Dr. Henry Selwyn war, ebenso wie die Protagonisten der drei anderen Erzählungen, jüdischer Herkunft. Als Hersch Seweryn wanderte er 1899 mit seinen Eltern von Litauen nach England aus. Er studierte Medizin, anglisierte seinen Namen, heiratete eine Schweizer Fabrikantentochter und wurde ein erfolgreicher Chirurg. In den zwanziger und dreißiger Jahren lebte das Ehepaar im verschwenderischen Stil der upper class. Dann tat sich zwischen beiden ein Riß auf, womöglich, weil seine Frau das Geheimnis seiner Herkunft entdeckt hatte. "Die Jahre des zweiten Kriegs und die nachfolgenden Jahrzehnte waren für mich eine blinde und böse Zeit, über die ich, selbst wenn ich wollte, nichts zu erzählen vermöchte." Die Nachgeschichte: Das Ehepaar lebt nebeneinander her. Die Frau als weltläufige Verwalterin ihres Vermögens; der Mann als zunehmend in sich zurückgezogener Einsiedler, in dem der Schmerz stetig ansteigt.
Nur allmählich erhält der Erzähler – dessen Identität mit dem Autor Sebald der Text nahelegt – Aufschluß über diese Biographie. Zufällig, als Mieter im Haus der Hedi Selwyn, ist er auf den alten Mann gestoßen, und zufällig begegnet ihm lange nach dessen Tod ein letztes Fragment seiner Geschichte. In einer Schweizer Zeitung liest er, der Oberaargletscher habe die Überreste des vor 72 Jahren verschollenen Bergführers Johannes Naegeli freigegeben. Naegeli aber war ein bewunderter Freund des jungen Selwyn gewesen, dessen Verschwinden ihn tief getroffen hatte. "So also kehren sie wieder, die Toten."

In seinen vier Erzählungen rekonstruiert Sebald ausnahmslos Unglücks-geschichten: Ursachenforschung, wie sie auch Thomas Bernhard vielfach betrieben hat. Nur sind Sebalds Szenerien, trotz gelegentlicher Verwandtschaft des Blicks und der atmosphärischen Akzentuierung, bei weitem nicht so infiltriert durch totale Verfinsterung. Im Gegenteil: Er hebt den Zauber des Verlorenen mit der hochpoetischen Akribie seiner Beschreibungen hervor, um ihn desto härter zu brechen. Daraus komponiert sich die ganz eigentümlich melancholische Grundmelodie seines Schreibens.
Sebalds Figuren in diesem Buch sind Ausgewanderte wie er selbst, der, 1944 im Allgäu geboren, über die Schweiz nach England ging, wo er heute in Norwich als Germanist und Schriftsteller lebt. Und indem die Erzählungen Schritt für Schritt ihren Stoff aus den Recherchen des Autors über seine Figuren gewinnen, ist auch dieser selbst zumindest mit Fragmenten seiner Biographie darin präsent. Zwar betont er, als er einmal auf die eigene Person zu sprechen kommt: "Aber darum geht es hier ja nicht." Dennoch bildet sich in den Wechselfällen dieser Recherchen mit dem entschieden subjektiven Interesse und Gespür, von dem sie angeleitet werden, auch ein vermitteltes Selbstportrait des Autors ab. Unverkennbar sind es seine eigenen Wege, auf denen er die Menschen, über die er schreibt, antraf, und indem er ihrem Schicksal nachgeht, werden ihre Wege zu den seinen.
Ganz besonders gilt das für die beiden mittleren Erzählungen, jene über den Volksschullehrer Paul Bereyter, bei dem der Autor in der Schulbank saß, und die andere über den ButlerAmbros Adelwarth, der sein Großonkel war. Mit der Schilderung des von den Schülern geliebten Lehrers Paul wird ein Stück Kindheit präsent. Pauls Eltern starben aus Verzweiflung über den Nazi-Terror, seine erste große Liebe wurde in die Vernichtungslager deportiert, er selbst durfte als "Dreiviertelarier" seinen Lehrerberuf nicht weiter ausüben. Das einschneidende Gefühl der Niederlage sollte ihn nach seiner Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland nicht mehr verlassen. Schon damals hatte sein Schüler an ihm eine heillose Untröstlichkeit bemerkt. Über dies und vieles mehr erkundigte sich der Erzähler, nachdem er 1984 erfuhr, daß sein Lehrer Paul sich, schon hoch in den Jahren, vor einen Zug auf die Schienen legte.
In den Nachforschungen über den Großonkel Adelwarth hingegen entrollt sich die ganze Geschichte der nach Amerika ausgewanderten Familienmitglieder. Es ist ungemein fesselnd, mit welcher Vielschichtigkeit Sebald nicht nur die verschiedenen Personen mit ihren jeweiligen Lebensläufen vorstellt, sondern zugleich die Schauplätze ihres Wirkens mit einem außerordentlich plastischen Detailreichtum Revue passieren läßt. Im Falle des Ambros Adelwarth, der zwischen den Weltkriegen jahrelang mit dem exzentrischen Millionärssohn Cosmo Solomon als Butler und Freund reiste, sind das die mondänen Plätze Europas, Konstantinopel und Jerusalem. Verlorene Welten, in die der Erzähler sich hineinträumt, deren heutigen Zustand er in seiner leisen Tonlage verdammt.
Nachdem alles Vergangenheit geworden ist, bleibt Adelwarth als zerstörter Mensch zurück: Er braucht die Erinnerung zur Selbstbefreiung aus seiner Dienerexistenz, doch gleichzeitig richtet sie ihn zugrunde. Freiwillig unterzieht er sich Elektroschockbehandlungen: Selbstmord mit Hilfe von Psychiatern.
"Die Erinnerung raubt diesen Menschen, deren Geschichte die Brandmale der Zerstörung trägt, den Boden unter den Füßen. Der Maler Max Aurach (Ferber) war der einzige seiner Familie, der als Kind vor der Gaskammer gerettet werden konnte. In einem desolaten Manchester treibt er in fortgesetzter Übermalung und Zerstörung seine Bilder hervor. Er überläßt dem Erzähler die von seiner Mutter noch vor der Deportation aufgeschriebenen Kindheitserinnerungen mit den Worten: Die Aufzeichnungen seien ihm vorgekommen "wie eines jener bösen deutschen Märchen, in denen man, einmal in den Bann geschlagen ... mit dem Erinnern, dem Schreiben und dem Lesen, fortfahren muß, bis einem das Herz bricht".

Zwei Berliner Juden, besagt ein jüdischer Witz, treffen sich nach der Machtergreifung im Auswanderungsbüro. Der eine verrät, er wolle nach Schanghai auswandern. "Was, so weit?" staunt der andere und erhält zur Antwort: "Weit, von wo?" Die Frage der ewig Ausgewanderten: eine mehrfach einfließende Variation von Sebalds Leitmotiv. Anders gewendet erscheint es in dem Vergleich der Erinnerung mit dem Blick auf die Welt aus großer Höhe, in die es den Betrachter abtreibt wie den Benjaminschen Engel hinweg vom Paradies. Eine ebenso nahe wie unerreichbar in die Ferne gerückte Welt, sagte Aurach, habe mit solcher Macht ihn angezogen, daß er befürchtete sich in sie hineinstürzen zu müssen. Eine erschreckende Ambivalenz: "Schwindel, Gefühle". So lautete auch der Titel von Sebalds vorletztem Buch.
Die Erinnerung ist schmerzvoll und zugleich ein Raum der Poesie. Ein anderer Ausgewanderter, dem die Erinnerung als ein Zentralstück seiner Poetik galt, war der russische Emigrant Nabokov. Er geistert durch diese Erzählungen als Jäger der von ihm hochgeschätzten "Zartheit bildnerischen Details": in kurzen Hosen mit Schmetterlingsnetz. Was Sebald selbst eingefangen hat, und zu seiner Ausbeute gehören auch Photographien und andere Dokumente, das gemahnt jedoch, trotz der feingezeichneten Details, an Schmetterlingsflügel zuallerletzt. Viel eher scheint es, als stoße hier die Proustsche Vergegenwärtigung des Entschwundenen unmittelbar zusammen mit den auch poetisch unwiderruflichen Zerstörungen durch die große Mordgeschichte dieses Jahrhunderts.

Eberhard Falcke