(1886 - 1953) Die Ausgewanderten S. 95ff. ![]() Selbstverständlich ist er mir in dem allgemeinen Trubel, der damals in unserer Wohnung über der Engelwirtschaft und, durch die verschiedenen Aus- und Einquartierungen, im ganzen Dorf herum herrschte, zunächst ebensowenig aufgefallen wie die übrigen Verwandten, doch als er am Sonntag nachmittag bei der großen Kaffeetafel im Schützenhaus aufgefordert wurde, als der Älteste der Auswanderer und ihr Vorfahr sozusagen das Wort an die versammelte Sippschaft zu richten, ist meine Aufmerksamkeit naturgemäß auf ihn gelenkt worden in dem Augenblick, da er sich erhob und mit einem Löffelchen an sein Glas klopfte. Der Onkel Adelwarth ist nicht sonderlich groß gewachsen gewesen, aber er war demohngeachtet eine hochvornehme Erscheinung, durch die sich alle anderen Anwesenden, wie man dem beifälligen Gemurmel ringsum entnehmen konnte, in ihrem Selbstwert bestätigt und gehoben fühlten, auch wenn sie in Wahrheit durch den Vergleich mit dem Onkel geradezu deklassiert wurden, wie ich als Siebenjähriger im Gegensatz zu den stets in ihren Einbildungen befangenen Erwachsenen sofort erkannte. Obzwar mir vom Inhalt der Kaffeetafelansprache des Onkels Adelwarth nichts mehr erinnerlich ist, entsinne ich mich doch, zutiefst beeindruckt gewesen zu sein von der Tatsache, daß er anscheinend mühelos nach der Schrift redete und Wörter und Wendungen gebrauchte, von denen ich allenfalls ahnen konnte, was sie bedeuteten. ![]() In der Folge verflüchtigten sich meine amerikanischen Träume allmählich und machten, nachdem die Schwundstufe erreicht worden war, einer bald gegen alles Amerikanische gerichteten Abneigung Platz, die schon im Verlaufe meiner Studienzeit so tief in mir sich festsetzte, daß mir bald nichts absurder erschienen wäre als der Gedanke, ich könnte irgendwann einmal ungezwungenermaßen eine Reise nach Amerika unternehmen. Dennoch bin ich schließlich nach Newark geflogen, und zwar am zweiten Januar 1981. ![]() Der Onkel Adelwarth, an den du dich wahrscheinlich nicht mehr erinnerst, sagte die Tante Fini, als fange nun eine ganz andere, weitaus bedeutungsvollere Geschichte an, ist ein selten nobler Mensch gewesen. Er ist 1886 in Gopprechts bei Kempten auf die Welt gekommen, und zwar als das jüngste von acht Kindern, bis auf ihn lauter Mädchen. Die Mutter ist, an Erschöpfung wahrscheinlich, gestorben, wie der auf den Namen Ambros getaufte Adelwarth-Onkel noch keine zwei zählte. Danach mußte die älteste Tochter, die Kreszenz geheißen hat und zu jener Zeit mehr gewiß nicht als siebzehn war, den Haushalt fuhren und die Mutterstelle vertreten, so gut es ging, während der Vater, der es als Wirt besser nicht wußte, bei seinen Gästen hocken blieb. Der Ambros hat wie die übrigen Geschwister der Zenzi frühzeitig an die Hand gehen müssen und ist schon als Fünfjähriger zusammen mit der nicht viel älteren Minnie nach Immenstadt auf den Wochenmarkt geschickt worden zum Verkaufen der von ihnen am Vortag gesammelten Pfifferlinge und Preiselbeeren. ... Mit dreizehn Jahren bereits ist er von zu Hause weg nach Lindau gegangen, wo er im Bairischen Hof als Küchenmann gearbeitet hat, bis genug Geld beieinander war für ein Bahnbillett ins Welschland, von dessen Schönheit er in der Wirtschaft in Gopprechts einmal einen durchreisenden Uhrmacher voller Begeisterung hatte erzählen hören. ... Fest steht hingegen, daß der damals höchstens vierzehnjährige Ambros bereits wenige Tage nach dem endgültigen Verlassen seines Heimatlands, wahrscheinlich dank seines ungemein einnehmenden und gleichwohl beherrschten Wesens, im ![]() Grand Hotel Eden in Montreux
als apprenti garçon in den Etagendienst aufgenommen wurde. Ich glaube jedenfalls, sagte die Tante Fini, daß es das Eden war, denn in einem vom Adelwarth-Onkel hinterlassenen Ansichtskartenalbum ist dieses weltberühmte Hotel mit seinen gegen die Nachmittagssonne herabgelassenen Sonnenblenden gleich auf einer der ersten Seiten zu sehen.
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... aber mit Sicherheit weiß ich nur, daß der Ambros Majordomus und Butler war bei den Solomons, die am Rock Point auf der äußersten Spitze von Long Island einen großen, auf drei Seiten von Wasser umgebenen Besitz hatten und zusammen mit den Seligmanns, den Loebs, den Kuhns, den Speyers und den Wormsers zu den reichsten jüdischen Bankiersfamilien von New York gehörten. Vor der Ambros Butler geworden ist bei den Solomons, war er Kammerdiener und Reisebegleiter des um ein paar Jahre jüngeren Solomon-Sohns, der Cosmo geheißen hat und in der gehobenen New Yorker Gesellschaft
bekannt gewesen ist für seine Extravaganz und seine andauernden Eskapaden.
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... verschiedene Reisevorhaben, von denen, meines Wissens, nur eines verwirklicht wurde, im Frühsommer 1923, als die beiden in Heliopolis gewesen sind.
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Das hier, sagte sie, indem sie es aufgeschlagen mir herüberreichte, ist der Adelwarth-Onkel, so wie er damals war. Links, wie du siehst, bin ich mit dem Theo, und rechts neben dem Onkel sitzt seine Schwester Balbina, die gerade auf ihrem ersten Besuch in Amerika gewesen ist. Man schrieb Mai 1950.
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Yours ever - Ambrose.
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![]() ... berichtete Dr. Abramsky eingehender über die Schocktherapie. Ich war, sagte er, zu Beginn meiner psychiatrischen Laufbahn der Auffassung, daß es sich bei der Elektroschockbehandlung um ein humanes und effektives Verfahren handelte. Fahnstock hatte mir in seinen Erzählungen "aus der Praxis" wiederholt drastisch geschildert, und auch während des Studiums hatte man uns darüber aufgeklärt, wie früher, als man mit Insulininjektionen pseudoepileptische Anfälle auslöste, die Patienten mit verzerrtem, blau angelaufenem Gesicht oft minutenlang in einer Art Todeskrampf sich krümmten. Gegenüber diesem Vorgehen bedeutete die Einführung der elektrischen Behandlung, bei der genauer dosiert und bei extremer Reaktion sogleich abgebrochen werden konnte, an sich schon einen beträchtlichen Fortschritt, und vollends legitimiert war sie unseres Erachtens, als anfangs der fünfziger Jahre durch Narkotisierung und Verabreichung muskelentspannender Mittel die schlimmsten Nebenschäden wie Schulter- und Kieferluxationen, abgebrochene Zähne und andere Frakturen vermieden werden konnten. Aufgrund dieser weitgehenden Verbesserungen in der Durchführung der Schockbehandlung übernahm Fahnstock, indem er über meine bedauerlicherweise nicht sehr nachdrücklichen Einspruchsversuche mit der für ihn bezeichnenden Unbekümmertheit sich hinwegsetzte, ein halbes Jahr etwa vor Ambrose zu uns kam, die von dem deutschen Psychiater Braunmühl befürwortete sogenannte Blockmethode, bei der nicht selten über hundert Schocks in Abständen von jeweils nur wenigen Tagen verabfolgt wurden. Selbstverständlich konnte bei solcher Behandlungsfrequenz von einer ordentlichen Protokollierung und Evaluation des therapeutischen Fortgangs, auch im Falle Ihres Großonkels, nicht mehr die Rede sein. |