Stucky-Mühle



... und wünsche,
dass dieser angesehene Name nach meinem Tod
nur noch auf dem Friedhof
von San Michele zu lesen ist,
auf dem meine Eltern ruhen,
die ich über alles geliebt habe.




Giovanni Stucky und Giovanni Bruniera
Tod in Venedig

Oben: Das Hilton-Hotel in Venedig auf der Insel Giudecca.
Ein Shuttleboot bringt die Gäste in etwa 20 Minuten ins Zentrum von Venedig zu Attraktionen wie Markusplatz, Rialtobrücke oder Dogenpalast. Vom Pool und der Bar auf dem Dach bietet sich ein überwältigender Panoramablick auf die Lagunenstadt und umliegenden Kanäle.




Giovanni Vincenzo Bruniera, geboren 1877 in Carbonera di Treviso, wandert als junger Mann mit seinem Vater nach Amerika aus, seine Mutter ist ein paar Jahre zuvor an der Cholera gestorben. 1897 kehrt Giovanni nach Italien zurück, ist vor und nach dem Wehrdienst in dem obigen Gebäude als Pförtner bis 1908 angestellt.


Ein anderer Giovanni mit Nachnamen Stucky ist ebenfalls Sohn eines Ausgewanderten. Dessen Vater Hans Stucky, Schweizer, wandert 1829 zu verschiedenen Getreidemühlen rund um die Alpen, um sich in dem Handwerk weiterzubilden. Ab 1837 lebt er in Italien, wo er auch heiratet. Er heuert bei Friedrich Oexle in Venedig an, einem Bayern, der 1840 auf der Insel Giudecca eine der ersten Dampfmühlen Europas errichtet.

Hans Stuckys Sohn Giovanni, geboren 1843 in Venedig, verlässt mit 13 die Schule und macht sich wie einst sein Vater auf den Weg durch Europas Mühlenbranche - über Frankreich, Deutschland, Österreich bis nach Budapest. Nach Rückehr pachtet er im Veneto eine Mühle. Die Geschäfte laufen gut, er kauft Ländereien für den Weizenanbau dazu, baut eine Nudelfabrik in Treviso. Er stellt Hartweizenmehl für Pasta und feines Weichweizenmehl für Brot effizient her und hat schließlich das Kapital, um Oexles Mühle zu kaufen. Die Handelsmetropole Venedig ist ideal für eine solche Mühle, denn der Transport über Wasser ist billiger als über Land. Stucky will nun eine Großmühle bauen, die auch die großen Getreidemengen verarbeiten kann, die er in Russland oder Ägypten einkauft.



Am Westende der Giudecca kauft Stucky das Nonnenkloster SS. Biago e Cataldo und lässt es abreißen. 1884 nimmt dort die "molina a cilindri", die modernste Anlage ihrer Zeit mit einer Kapazität von 50 t täglich, die Produktion auf. Drei Jahre später sind es 200 t. Vom hannoverschen Architekten Ernst Wullekopf lässt er im Stil der deutschen Backsteingotik einen 9 Stockwerke hohen Bau mit Turm und Giebeln entwerfen. Die Baukommission der Stadt aber lehnt das Projekt ab, "es steht in Dissonanz mit dem Charakter aller venezianischen Fabriken und würde an diesem Ort der Stadt einen unguten Eindruck hervorrufen".



Doch weil der bedeutende Steuerzahler mit Schweizer Staatsbürgerschaft mit Wegzug droht, dulden schließlich die Stadtväter den Backsteinblock des Mehlmoguls. 1903 baut Stucky nebenan eine Pastafabrik und weitere Lagersilos. Italiens Zeitungen nennen zur Einweihung des größten Mühlenkomplexes des Kontinents ihn "die schönste Mühle Italiens". In der Großmühle und der später angeschlossenen Teigwarenfabrik arbeiten bis zu 1.500 Menschen.
Auch privat setzt Stucky auf pompöse Immobilien. Für sich und seine Gattin, die Österreicherin Antonietta von Kupferschein, kauft und renoviert er aufwändig den Palazzo Foscari. Es ist das erste Gebäude Venedigs mit elektrischem Licht, und auch der Industriepalast strahlt bald mit Strom hell hinüber in Venedigs Herz. 1908 übergibt Giovanni die Verantwortung für die Produktion an seinen Sohn Giancarlo, der Vater bleibt der große Chef. Zudem entdeckt er die Liebe zur Kunst, kauft den berühmten

Palazzo Grassi am Canal Grande,

fördert Künstler und Stadt. Den Bauern zahlt er gute Preise für ihr Getreide. Anlässlich des 25-jährigen Firmenjubiläums verspricht er ihnen eine Rente auf Lebenszeit. Er verschafft ihnen anständige Häuser und baut Strassen. Er ist am Zenit seines Wirkens, der reichste Venezianer. Wie gross sein Vermögen war, ist nicht bekannt. Es dürfte immens gewesen sein, denn auf den Bau der Fabrik folgen der Kauf einer privaten Villa in Mogliano Veneto sowie der Erwerb des Palazzo Grassi, des grössten und modernsten Palasts am Canale Grande. Zusätzlich ersteht er noch 1.700 ha Land in Portoguaro, wo er Weizen anbaut.

Der Mord

Am frühen Abend des 21. Mai 1910 scheitet der 67-jährige blonde 1,92m große Hüne Giovanni Stucky die Stufen zu Venedigs Bahnhof hinauf, um zu seiner Villa auf dem Festland zu fahren. Da stürzt hinter einer Säule der 35-jährige Giovanni Bruniera hervor und geht Stucky mit einem Rasiermesser an die Gurgel. Der Schnitt durchtrennt Kehlkopf und Halsschlagader. Giovanni Stuckys Sohn Giancarlo, nur ein paar Schritte vor ihm, sieht seinen Vater mit durchgeschnittener Kehle auf dem Boden liegen, die Blutströme fließen zu schnell, jeder Versuch, sie zu stoppen, ist vergeblich.
Der Mörder geht weg, als ob nichts geschehen wäre, Leute halten ihn auf.
Auf dem Weg zur Polizei erklärt er: "Er hat versprochen, mich zum Leiter der Mühlen zu machen, er hat sein Wort gebrochen; er hat meine Familie ermordet und ich habe ihn ermordet; die Ehre meiner Familie, er hat mir meine Frau weggenommen".
Auch danach gibt er immer wieder absurde Motive für den Mord an: Er habe getötet, weil die Mühle nicht amerikanisch werden sollte, dann, weil Stucky die Bordelle geschlossen habe, und schließlich sei in einer Sitzung in New York beschlossen worden, alle Millionäre zu töten, und er sei als Vollstrecker bestimmt worden.
Zwei Sachverständige sollen klären, ob Bruniera Unzurechnungsfähigkeit vortäuschte oder ob er tatsächlich unzurechnungsfähig war.
Am Freitag, den 16. Dezember 9.55 Uhr ziehen sich die Geschworenen zurück und kehren 20 Minuten später zurück. Der Angeklagte will etwas sagen, der Vorsitzende erteilt ihm das Wort:
"Ich möchte sagen, dass ich am 30. Mai, als ich 32 Jahre alt war, wegen Mordes an Stucky vor Gericht stand und zu vier Monaten und zwanzig Tagen verurteilt wurde, wenn ich nicht getötet hätte, wäre ich getötet worden", und er schloss mit den Worten: "Der Präsident von Amerika, die Souveräne von Europa haben das Urteil gebilligt...".
Um 10.40 Uhr verliest der Vorsitzende das Urteil: lebenslange Freiheitsstrafe und Zwangsarbeit, dauerhafter Ausschluss von öffentlichen Ämtern.
Giovanni Bruniera stirbt 1943 in der Irrenanstalt von Montelupo Fiorentino.

Giovanni Stucky

Nach dem Tod seines Vaters übernimmt Giancarlo Stucky die Familienmühle, doch es geht nur noch bergab. Einerseits weil Giancarlo das kaufmännische Geschick seines Vaters fehlt und er den falschen Menschen vertraut, andererseits, weil ihm 1. Weltkrieg und Machtergreifung der Faschisten einen Strich durch die Rechnung machen. Giancarlo ist zwar höchst arbeitsam, freilich fehlt ihm die Fortune, und vielleicht auch ein wenig der Realitätssinn. Er beschäftigt sich gern mit technischen Spielereien, obskuren Erfindungen, Flugzeugen, baut Elektroboote, entwirft sogar ein utopisches Projekt eines subaquatischen Venedig.
Er muss die Stucky-Niederlassungen in Argentinien, den USA, Ägypten und England schliessen. Die Wirtschaftskrise von 1929, die schlechten Beziehungen zu den lokalen Faschisten und der 2. Weltkrieg stürzen das Werk in eine Krise. Giancarlo, immer noch Schweizer, muss den Betrieb unter dem Druck der Faschisten in eine AG umwandeln, die Mehrheit übernimmt Mussolini-Förderer Cini. Die Stuckys verlieren alles, müssen in eine kleine Mietwohnung ziehen.
1937 schreibt Giancarlo Stucky in sein Testament:
«Nach dem Vorbild meines Vaters war Geld für mich immer Mittel zum Zweck. Ohne es zu wollen, habe ich mein Vermögen verloren. Ich bin der letzte Stucky aus Venedig und wünsche, dass dieser angesehene Name nach meinem Tod nur noch auf dem Friedhof von San Michele zu lesen ist, auf dem meine Eltern ruhen, die ich über alles geliebt habe.»
1941 nimmt er sich wahrscheinlich das Leben.
Die Stuckys waren eine Familie, in der man nach einem strengen Wochenplan die Konversations-sprache wechselte: Deutsch, Französisch, Italienisch und später auch Englisch, daneben natürlich auch venezianischer Dialekt. Es half nichts, die Stuckys sind am Ende doch wieder, was sie nie sein wollten: Außenseiter.

Hotel

1955 stellt die Molina den Betrieb ein, die Anlage verfällt. Viele Venezianer bezeichnen das Gebäude als Spukruine und meiden die Gegend des Backsteinbaus. Anwohner bezeugen, sie hätten wiederholt in den Fenstern Feuerschein, Lichtblitze und tanzende Lichter beobachtet. Sie führen das auf den nicht zur Ruhe kommenden Geist der Gründerin des Benediktinerinnenkonvents SS. Biagio e Cataldo, Beata Giuliana di Collalto, zurück.
Jedem Besucher der Lagunenstadt ist der raumgreifende, neugotische Industriebau am Giudecca-Kanal wohl genauso bekannt wie Dogenpalast oder Markusplatz. Das mit 9 Stockwerken höchste Gebäude Venedigs beeindruckt nicht nur durch seine Höhe, sondern auch als riesige, leerstehende Ruine in der sonst so engen und dichten Stadt.



2003 Großbrand, die Mühle stürzt größtenteils ein.





2007 eröffnet das Hotel Hilton Molino Stucky.

Ich selber bin an jenem Abend ... mit einem Venezianer namens Malachio ins Gesprach gekommen, der in Cambridge Astrophysik studiert hatte und der alles, wie sich bald herausstellte, aus der größten Entfernung sah, nicht nur die Sterne. Gegen Mitternacht fuhren wir in seinem Boot, das draußen an der Mole lag, den Drachenschweif des Großen Kanals hinauf, an der Ferrovia und am Tronchetto vorbei, hinaus auf das offene Wasser, von wo aus man auf die jenseits meilenweit sich erstreckende Lichterfront der Raffinerien von Mestre hinübersieht. Malachio stellte den Motor ab. Das Boot hob und senkte sich mit den Wellen, und es verging, wie mir schien, eine lange Zeit. Vor uns lag der verglimmende Glanz unserer Welt, an dem wir, wie an einer Himmelsstadt, uns nicht sattschauen konnten. Das Wunder des aus dem Kohlenstoff entstandenen Lebens, hörte ich Malachio sagen, geht in Flammen auf. Der Motor sprang wieder an, das Boot hob sich mit dem Bug aus dem Wasser, und in einem weiten Bogen fuhren wir in den Canale della Giudecca hinein. Wortlos deutete mein Führer hinüber zu dem Inceneritore Comunale auf der der Giudecca westwärts vorgelagerten namenlosen Insel. Ein totenstilles Betongehäuse unter einer weißen Rauchfahne. Auf meine Frage, ob denn hier auch mitten in der Nacht noch gefeuert würde, antwortete Malachio: Si, di continuo. Brucia continuamente. Fortwährend wird hier verbrannt. Die Stuckysche Mehlmühle schob sich ins Bild, eine aus Millionen von Ziegeln erbaute Anlage aus dem letzten Jahrhundert, die mit ihren blinden Fenstern von der Giudecca hinüberstarrt auf die Stazione Marittima. So ungeheuer groß ist dieses Gebäude, dass der Palast der Dogen gewiß ein paarmal in es hineingehen würde und dass man sich fragt, ob es denn tatsächlich nur Korn gewesen ist, was hier gemahlen wurde. Eben als wir an der in der Finsternis aufragenden Fassade vorbeifuhren, trat der Mond hinter den Wolken hervor, und in seinem Schein leuchtete das unter dem linken Giebel angebrachte, goldene Mosaik auf, das eine Schnitterin mit einem Ährenbündel vorstellt, eine in dieser Stein- und Wasserlandschaft äußerst befremdliche Gestalt.

W. G. Sebald Schwindel.Gefühle S.73 ff



siehe auch Aufstieg und Niedergang der Stuckys