Philologie

Frank Schwamborn
Wahnsinn auf der Heide
von Suffolk. Is this
the promis'd end?




Sebalds Werke in nuce

Ein Elementargedicht nennt W.G. Sebald sein erstes, 1988 erschienenes, genuin literarisches Werk Nach der Natur: ein frei und ruhig rhythmisiertes Gedicht, von dem man keine zehn Zeilen lesen kann, ohne in einen merkwürdigen Sog zu geraten. In drei Teile ist das Langgedicht gegliedert, das in Form biographischer Abbreviaturen drei Männer porträtiert: den Maler Mathis Grünewald, den Naturforscher G.W. Steller und die Gestalt des Autors selbst.

Wie kommt jemand dazu, einen Maler des 16., einen Naturforscher des 18. und einen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts in einem „literarischen Triptychon“ zu vereinen? Wie in seinen späteren Werken versammelt W. G. Sebald auch schon hier, in seinem lyrischen Erstling, „Wahlverwandte“ um sich. Er liebt es, die eigene Person als Schriftsteller über Zeiten und Räume hinweg in Viten und Werken illustrer Vorgänger zu spiegeln. Immer wieder vermittelt er künstlerische oder intellektuelle Welten, die zwar zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt sind, zwischen denen er aber Beziehungen ahnt oder herstellt. Er stellt sich als Autor zu einem großen Maler und einem abenteuernden Forscher und porträtiert sich in ihnen und sie in sich. Ein Ensemble melancholischer Chronisten, ein Dreigestirn von Ruhelosen, das einen Hang zur Einsamkeit gemeinsam hat, ein auffallendes Interesse an der Natur - und eine scharfe Beobachtungsgabe. Topographisch ist es der Heimatort von G. W. Steller: Windsheim in Franken, der die drei über die Zeiten hinweg miteinander verbindet.
Zusammenhang läuft über Lokalitäten, die immer wieder auftauchen, läuft über Daten, die sich überschneiden, läuft über emotionale Identifikationen und rekurrente, sich wiederholende Motive.

Nach der Natur ist ein hochgradig anspruchsvoller und sprachlich ungemein reizvoller Text, dessen Themenstränge - allein schon in den angeführten Bildwerken und Schriftbezügen - weit in die Europäische Kulturgeschichte zurückreichen. Den Titel hat Sebald vermutlich dem berühmten Eingangs-satz von Rousseau's „Confessions“ entlehnt, den Bekenntnischarakter der eigenen Schrift unterstreichend. Nach der Natur: das kann man sowohl im mimetisch-realistischen wie im nachzeitig-apokalyptischen Sinne lesen. Beide Lesarten sind angelegt im Text - und darüber hinaus zwei weitere: man könnte den Titel auch im eskapistischen Sinne eben jenes Rousseau verstehen: hin zur Natur, weg von der Gesellschaft, im Sinne einer Distanz zu aller modernen, urbanen Zivilisation - oder aber auch im metaphysischen Sinne: Nach der Natur als wörtliche Übersetzung von Metaphysik, über deren Vernachlässigung sich W. G. Sebald oft beklagte.
Eines haben die drei fiktionalisierten realen Personen, der Maler, der Forscher und das Autor-Ich gemein: Alle drei Figuren versuchen, hinter der Erscheinungswelt einen unsichtbaren Zusammenhang oder letzten Grund zu entdecken.

Den Anfang macht Matthias Grünewald, der Schöpfer des Isenheimer Altars, dem Sebald versucht, eine poetische Reverenz zu erweisen in Form einer biographischen Skizze. Wie kommt es, dass sich die Kunsthistoriker so verrennen konnten, hartnäckig in Grünewalds Gemälden das Gesicht des Künstlers zu suchen? Genau das tut Sebald ihnen nach, auch sein Grünewald ist ein Phantasie-Grünewald, seine Mutmaßungen, die historisch kaum fassbare Gestalt des Malers betreffend, sind weitgehend spekulativ. So wittert er hinter dem Isenheimer Sebastian das Bekenntnis und Vermächtnis einer vermuteten homoerotischen Beziehung der beiden, wie Sebald mutmaßt, nur vermeintlich identischen Maler Nithart (Gothart) und Grünewald. Und er inszeniert das Scheitern der Ehe des Malers mit einer konvertierten Frankfurter Jüdin wie als Fanal des großen Themas, das sein Gesamtwerk durchzieht: des Scheiterns der deutsch-jüdischen Symbiose. Zugleich ist diese Zeit eine Epoche sozialer, politischer und religiöser Umwälzungen, die ein Klima der Angst, eine Besessenheit vom Tod erzeugten, die sich in Mathis' Werken spiegeln. Die Visionen und Archaismen, das dunkle Pathos dieser expressiven Kunst übten große Anziehungskraft auf Sebald aus.

In den Ausgewanderten lässt Sebald Max Aurach sagen:
Die extremistische, eine jede Einzelheit durchdringende, sämtliche Glieder verrenkende und in den Farben wie eine Krankheit sich ausbreitende Weltsicht dieses seltsamen Mannes war mir, wie ich immer gewusst hatte und nun durch den Augenschein bestätigt fand, von Grund auf gemäß. Die Ungeheuerlichkeit des Leidens, das, ausgehend von den vorgeführten Gestalten, die ganze Natur überzog, um aus den erloschenen Landschaften wieder zurückzufluten in die menschlichen Todesfiguren, diese Ungeheuerlichkeit bewegte sich nun auf und nieder in mir nicht anders als die Gezeiten des Meeres.
Worauf will Sebald hinaus?
Will er einen Beitrag leisten zur Grünewald-Forschung? Oder hat er einfach Freude am historischen Verwirrspiel?
Die Schlussworte sind der Titel des 1. Teils (Der Schnee auf den Alpen), und es ist charakteristisch, dass das Sterben des Malers mit dem Zerreißen des Sehnervs: der Entfärbung der Welt einhergeht.

Georg Wilhelm Steller, der Arzt und Ethnologe (mit dem Sebald die Initialen teilt), ist Teilnehmer an der der zweiten Beringschen Kamtschatka-Expedition (1741-42) zur Erkundung des Seewegs nach Alaska. Gebürtiger Windsheimer, ist er gewissermaßen der erste Ausgewanderte in Sebalds Werk. Auch diese zweite biographische Reminiszenz vermittelt Grenzerfahrungen nach der Natur, die denen des Malers Mathis nicht nachstehen (wie auch das Auge als Instrument des Botanikers und Zoologen dem Malerauge nicht nachsteht). Den beiden angedeuteten Lesarten von Nach der Natur: der realistischen und der apokalyptischen, gesellt sich hier noch die besagte dritte, die eskapistische hinzu: weg von der Gesellschaft, weg von der Zivilisation, weg auch von den Frauen.

In Abschnitt III von Die dunckle Nacht fahrt aus scheint der Erzähler-Sebald analog kryptische Andeutungen zu machen oder ein verschlüsseltes, diskretes Bekenntnis abzulegen über die Kurzlebigkeit des eigenen Eheglücks:

In einem chinesischen Grillenkäfig
hielten wir eine Zeitlang das Glück
eingesperrt
Seither wappnen wir uns
mit Geduld, seither rieselt
der Sand durch den Briefkasten,
haben die Topfpflanzen so eine Art,
sich auszuschweigen. Warum müht man sich
nur mit so einem schwierigen Unternehmen?

Und so beginnt der 3. Teil des Triptychons:
Der Erzähler behauptet, seine Mutter sei im August 1943 Augenzeugin eines schweren Luftangriffs auf Nürnberg geworden, bei dem 582 Bomber die Stadt Dürers in Schutt und Asche legten. In der Folge, in diskreten, kryptischen Andeutungen, skizziert der Erzähler die eigenen Lebensstationen. Die Nachkriegskindheit im Allgäu, die frühe Ehe, das Stranden in Manchester, dem Industriejerusalem, der Stadt der Schlote und Ruinen, der Einwandererstadt, schließlich die Wahlheimat East Anglia. Das erzählende Ich unternimmt die Bestandsaufnahme einer apokalyptischen Szenerie am Ausgangsort der Industriellen Revolution (des Manchesterkapitalismus) in einer Mischung aus Entsetzen und Faszination.

Es ist alles Augenzeugenschaft, und es ist alles angelesen. Die späteren Prosawerke Sebalds sind alle schon motivisch, in nuce, in diesem Versepos enthalten: Bezüge auf Kafka und den Hl. Georg: Georgius Miles durchziehen (als Patrone und Spiegelfiguren des Autors) auch Schwindel. Gefühle. Das Stichwort Kindertransport nach England im Achtunddreißigerjahr weist voraus auf Austerlitz, das Leben G.W. Stellers auf die Ausgewanderten. Der Spaziergang an der Küste in Suffolk (wiederum eine Entdeckungsreise in eine entlegene Gegend): das ist die Keimzelle der Ringe des Saturn. (Auch die kleine chinesische Optikerin ist schon da, die dort wiederkehrt und der Verweis auf Edward Fitzgerald). Selbst Luftkrieg und Literatur deutet sich schon an in der Darstellung des Brennens Sodoms und Nürnbergs. Man sollte, wenn man Sebald liest, nicht nur den netzartigen Interdependenzen und Verweisungszusammenhängen innerhalb der Werke nachgehen, sondern auch denen zwischen ihnen. Zitate, Allusionen bilden, markiert oder unmarkiert, ihre Gerüste. Zitate spuken durch den Text, der eigene Text ist um Angeeignetes, um unzählige, mehr oder weniger versteckte, verwischte quotations herumgebaut, die er sich (bis zur Unkenntlichkeit) einverleibt.
Und es endet wie es begonnen hat, mit einer Bildbeschreibung Altdorfers monumentale Vision der Perserschlacht bei Issos: ein historisches Blutbad. Läuft der erste Teil von Nach der Natur auf den Tod des Malers hinaus, der zweite auf den Tod des Forschers, so der dritte auf den "Tod vor uns an der Wand".
In einem Interview erklärt Sebald, die Farbe Weiß stehe bei ihm stellvertretend für die Zone des Metaphysischen ... Für mich persönlich hat sie natürlich noch den besonderen Stellenwert, dass sie verbunden ist mit diesem - inzwischen auch immer rarer werdenden - Phänomen des Schnees und des Schneefalls und der Stilllegung der Welt ... und insofern hat Weiß für mich die Funktion des Transzendenten. Ich versuche es möglichst spärlich anzuwenden, damit mir diese Farbe nicht ausgeht, diese nicht existierende Farbe.

von Dr. phil. Frank Schwamborn, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Iwate University in Morioka (Japan). Die Studie stellt einen betont subjektiven Versuch dar, dem Dschungel der Bezüge nachzugehen, die die buntgefügten Textgespinste Sebalds tragen. Schwamborn versteht die Schrift, erschienen 2017, sowohl als Beitrag zur Sebaldforschung wie auch als Handreichung an uns Sebaldleser. Er kommentiert die fünf literarischen Werke, die zu seinen Lebzeiten erschienen sind, auf eher lockere, "essayistische" Art, bemüht um Textnähe und Blick auf Details. Der Literaturprofessor fühlt sich keiner Theorie verpflichtet, das Buch läuft auf keine These hinaus. Und es erstaunt, wie viel Neues sich trotz all der Forschungsflut zu diesem Autor immer noch entdecken lässt.