. wgsebald.de Ambros Adelwarth Hintergrund
Ambros Adelwarth
Ich habe kaum eine eigene Erinnerung an meinen Großonkel Adelwarth



Hintergrund Ambros Adelwarth
(Die Ausgewanderten)

Natürlich interessiere ich mich als Genealoge für die Verwandschaft Ambros' und des Icherzählers.



Urgroßvater: Gastwirt in Gopprechts, bettelarm (kümmert sich mehr um Gaststätte als die Familie), Ehefrau, stirbt 1887 als ihr 8. Kind Ambros noch nicht 2 Jahre alt
7 Töchter, ein Sohn:



Eine der Töchter Großmutter, deren Tochter Rosi Mutter des Icherzählers.
In den Nachforschungen über Großonkel Adelwarth entrollt Sebald die ganze Geschichte seiner nach Amerika ausgewanderten Verwandten. Es ist ungemein fesselnd, mit welcher Vielschichtigkeit Sebald nicht nur die verschiedenen Personen mit ihren jeweiligen Lebensläufen vorstellt, sondern zugleich die Schauplätze ihres Wirkens mit einem außerordentlich plastischen Detailreichtum Revue passieren läßt. Bei Ambros Adelwarth, der zwischen den Weltkriegen jahrelang mit dem exzentrischen Millionärssohn Cosmo Solomon als Butler und Freund reist, sind das die mondänen Plätze Europas, Konstantinopel und Jerusalem. Verlorene Welten, in die der Erzähler sich hineinträumt, deren heutigen Zustand er in seiner leisen Tonlage verdammt.
Nachdem alles Vergangenheit geworden ist, bleibt Adelwarth als zerstörter Mensch zurück: Er braucht die Erinnerung zur Selbstbefreiung aus seiner Dienerexistenz, doch gleichzeitig richtet sie ihn zugrunde. Freiwillig unterzieht er sich Elektroschockbehandlungen: Selbstmord mit Hilfe von Psychiatern.
Die Erinnerung raubt diesen Menschen, deren Geschichte die Brandmale der Zerstörung trägt, den Boden unter den Füßen. Der Maler Max Aurach war der einzige seiner Familie, der als Kind vor der Gaskammer gerettet werden konnte. In einem desolaten Manchester treibt er in fortgesetzter Übermalung und Zerstörung seine Bilder hervor. Er überläßt dem Erzähler die von seiner Mutter noch vor der Deportation aufgeschriebenen Kindheitserinnerungen mit den Worten: Die Aufzeichnungen seien ihm vorgekommen "wie eines jener bösen deutschen Märchen, in denen man, einmal in den Bann geschlagen ... mit dem Erinnern, dem Schreiben und dem Lesen, fortfahren muß, bis einem das Herz bricht".

Symptomatisch:
Sebalds Biografin Carole Angier ('Speak, Silence' ) scheint es am meisten zu interessieren, ob Ambros homosexuell war.
[Onkel Kasimir: "Er ist natürlich, wie jeder sehen konnte, von der anderen Partei gewesen"]
Des weiteren stellt sie fest:
Ambros Adelwarth verursachte natürlich wie immer Ärger wie alles, was Sebald schrieb, so dass die Menschen in Wertach und Kempten alle möglichen Unwahrheiten (oder schlimmer noch: Wahrheiten) über den eleganten, distinguierten William Schindele glauben konnten.
William ist 1882 in Gopprechts als jüngstes von 5 Kindern geboren. Er hat 4 ältere Halbgeschwister. Seine Mutter stirbt, als er zwei Jahre alt ist. Die Familie ist sehr arm, und William und seine nächste Schwester Minnie sammeln Nüsse und Beeren (bei Sebald: Pfifferlinge und Preiselbeeren) und verkaufen sie auf dem Markt in Immenstadt, noch bevor sie zur Schule gehen. Mit nur 12 oder 14 findet William Arbeit in der Küche eines Stuttgarter Hotels.
Mit 17 oder 18 geht William nach London und arbeitet wieder in einem Hotel. Hier lernt er einen General der diplomatischen Vertretung Japans kennen, der ihn nach Washington bringt, wo er ein oder zwei Jahre lang bei der Familie des Diplomaten arbeitet. Dann wechselt er für den Rest seines Lebens nach New York, wo er bei den sagenhaft wohlhabend Meinhards, Juden, auf ihrem riesigen Anwesen am Long Island Sound arbeitet. Morton Meinhard war Textilfabrikant.
Er stirbt 1931, William arbeitet noch ein Jahrzehnt für die Witwe, gehnt dann in den Ruhestand, den er genießt.
Der echte Cosmo Solomon hieß Edward Beale McLean, Sohn des Besitzers der Washington Post. Einzelkind, vom Tag seiner Geburt an über unbegrenzten Reichtum verfügend, ein mürrischer Junge, verwöhnt und vernachlässigt von seinen High-Society-Eltern. Schon als Teenager trinkt er so viel, dass seine Hände zittern, wenn er sein Glas hob. Mit 21 oder 22 stellt sein Vater, mit den Nerven am Ende, William als Kammerdiener und Aufpasser ein. 1908 heiratet Ned Evalyn Walsh. Ihr Vater - irischer Bergbaueinwanderer - hatte ein märchenhaftes Goldvorkommen entdeckt und war sogar noch reicher als Neds Vater.
Sie geben drei- oder viermal üppige Banketts pro Woche. Ein Abendessen im Jahr 1912 kostet 40.000 Dollar (heute fast 1 Million Dollar), Orchideen und gelbe Lilien lassen sie aus London schicken. Sie sind beide unverbesserliche Glücksspieler und spielen regelmäßig um Geld. Nachdem Evalyn 70.000 Dollar (etwa 1.800.000 Dollar) gewonnen hat, kauft sie eines der berühmtesten Juwelen der Geschichte, den Hope-Diamanten - der mehr als das Doppelte ihres Gewinns kostet.
William war weder in Vichy noch in Jerusalem mit Ned McLean allein. Im Jahr 1916 stirbt Neds Vater, er wird Eigentümer der Washington Post und vermutlich endet um diese Zeit Williams Anstellung.
Im Oktober 1931 reicht Evalyn die Scheidung ein, die Washington Post wird zwangsversteigert, Ned wird für unzurechnungsfähig und geisteskrank erklärt.

Und Angier führt ein Beispiel für Sebalds Monomanie an:
Wie er ihr gegenüber zugegeben habe, hat Sebald Ambros' abgedrucktes Tagebuch selbst in ein altes italienisches Tagebuch geschrieben. Der Haken war: Die Daten zwischen 1927 und 1913 waren unterschiedlich. Sebald wollte Allerseelen, den 2. und 3. November, in der Geschichte verwenden, aber Allerseelen fiel 1927 auf einen Mittwoch und Donnerstag, im Jahr 1913 aber auf einen Sonntag und Montag. Also schnitt er diese Tage aus fünf oder sechs anderen Monaten aus klebte sie darüber. Dann tippexte und fotokopierte er das Ergebnis immer wieder, damit es so glatt wie möglich aussah. (Es klappte immer noch nicht ganz, also zeichnet er Linien, um die Verbindungsstellen zu verdecken, wie das zweite Bild von Ambros' Tagebuch zeigt.) Wieviel Zeit und Arbeit das gekostet hat, weiß niemand, und wer in aller Welt hätte nachsehen können, welche Wochentage 2. und 3. November im Jahr 1913 waren? Wenn wir ein Beispiel für Sebalds verrückten Perfektionismus suchen, dann ist es dieses.
Eine letzte Frage stellt Angier zu Dr. Abramsky. Er ist sicherlich erfunden, ein Heiliger und Märtyrer für die Schuld Samarias, mit seinem feuerrroten Haar wie die Flammen über den Köpfen der Apostel. Aber das Grauen, für das er die Schuld trägt, obwohl er es zutiefst bereut, die Annihilationsmethode, die so sehr an andere deutsche Vernichtungsmethoden erinnert, ist deutsch. Abramsky aber ist ein jüdischer Name, er ist in der Leopoldstadt aufgewachsen, dem jüdischen Viertel von Wien. Das Sanatorium Samaria hat auch einen jüdischen Namen.
Warum ist Abramsky - Träger der deutschen Schuld - ein Jude?

My field of corn
is but a crop of tears


siehe auch Ambros Adelwarth