Literatur

Ich las WG Sebalds "Luftkrieg und Literatur" zum dritten oder vierten Mal - es sollte für jeden auf Erden Pflichtlektüre sein - und war wie immer am Boden zerstört, als ich ankam, wo er Walter Benjamins Worte über den Engel der Geschichte zitierte. Schaut Euch "Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" an!



Der Engel der Geschichte



Naturgeschichte der Zerstörung - Übermalungen

Walter Benjamin Begriffs der «Naturgeschichte der Zerstörung» ist an Paul Klees Bild "Angelus Novus" angelehnt und macht ihn zum Sinnbild seiner Geschichtsphilosophie.
W. G. Sebald schreibt 1982 das Essay "Zwischen Geschichte und Naturgeschichte - Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung mit Anmerkungen zu Kasack, Nossack und Kluge". Er versucht dort, der überfälligen Frage nachzugehen, weshalb deutsche Schriftsteller die von Millionen Deutschen in den letzten Kriegsjahren erduldeten Luftangriffe und die von dieser Zerstörung katastrophalen Ausmasses bewirkte radikale Veränderung der gesellschaftlichen Lebensformen kaum je behandelten. Neben literaturkritischen Fragen bringt er ökonomische, politische, sozialpsychologische und naturhistorische Dimensionen ins Spiel. Den Ausgang nimmt er bei Hans Erich Nossacks "Der Untergang" von 1943, der bis 1977 - als Alexander Kluge den Luftangriff auf Halberstadt beschreibt - der einzig fragliche Text bleibt. An Nossacks Prosastück wird deutlich, dass die literarische Beschreibung totaler Zerstörung leicht in Gefahr gerät, die Erfahrung einer über allen Begriff grauenhaften Wirklichkeit in mythisierenden Konjekturen zu kompensieren.

In diesem Zusammenhang nimmt Sebald auch auf Hermann Kasacks Roman "Die Stadt hinter dem Strom", einen für das kollektive Bewusstsein der unmittelbaren Nachkriegszeit überaus repräsentativen Text Bezug; an seinem Beispiel sei die Tendenz der Literatur zur symbolischen Verkleidung konkreter Schrecken besonders gut ablesbar. Sebalds Analyse von Kluges Text über den Luftangriff auf seine Heimatstadt ergibt, dass die Formen, vermittels derer die Literatur der extremen Wirklichkeit unserer Zeit begegnen könne, einen Literaturbegriff voraussetzen, der weniger an der Kategorie des Werks als am Prozess des Schreibens sich orientiert. Kluges Text sei nicht nur potentiell, wie derjenige Nossacks, sondern ganz intentional als eine andere Literatur angelegt.





1997 kommt Sebald auf das Thema in "Luftkrieg und Literatur" erneut zurück, wo er die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren geißelt, das aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis, was sie sahen.
Wichtiger als die Schilderung der realen Verhältnisse sei ihnen die Wiederherstellung ihres eigenen Selbstverständnisses gewesen. Sebalds provozierenden Angriff ergänzt ein Essay, mit dem er auf die erregten Diskussionen antwortet.
Im Buch zitiert er den englischen Wissenschaftler und Regierungsberater Lord Solly Zuckerman, der den Begriff der "Naturgeschichte der Zerstörung" verwendet.
Er schreibt:
Wie alle, die an den Auseinandersetzungen um die effizienteste Angriffsstrategy direkt beteiligt waren und also ein gewisses professionelles Interesse an den Auswirkungen des area bombing hatten, nahm auch er das zerstörte Köln zum frühest möglichen Zeitpunkt in Augenschein. Noch bei seiner Rückkehr nach London war überwältigt von dem, was er gesehen hatte und verabredete mit Cyril Connolly, dem damaligen Herausgeber der Zeitschrift Horizon einen Bericht, wie er es nannte, "Über die Naturgeschichte zur Störung" zu schreiben.

In seiner Jahrzehnte später verfassten Autobiografie gibt Lord Zuckerman zu Protokoll, dass dieses Vorhaben gescheitert sei. "Mein first view of Cologne", so sagt er,"cried out for a more eloquent than I could ever have written." Als ich Lord Zuckerman in den achtziger Jahren einmal zu diesem Thema befragte, entsann er sich nicht mehr, worüber er seinerzeit im einzelnen hatte schreiben wollen. Er hatte nur noch das Bild der schwarzen, inmitten der SteinwWüste aufregenden Doms im Kopf und das eines abgetrennten Fingers, den er auf eine Schutthalde gefunden hatte.

Walter Benjamin hat sich das Bild 1921 gekauft.
2011 entsteht die folgende ikonische Fotografie, auf der ein deutlich jünger aussehender Joe Biden zu sehen ist, Barack Obama neben ihm starrt ernst-gebannt mit vorgebeugtem Oberkörper, Hillary Clinton scheint um Fassung bemüht. Sie alle werden Zeugen der Tötung Usama bin Ladins.
Wir aber werden vor dem Bild zu Beobachtern von Beobachtern, aber wir sehen nicht so sehr deren, sondern unseren blinden Fleck. Wir bemerken, was sie sehen, nicht aber wir. Eben deswegen werden uns die geweiteten Augen, die Anspannung der Gesichter, der Ernst der Minen zu indirekten Spuren eines schrecklichen Geschehens, das wir durch sie zu entziffern und zu imaginieren versuchen.

Erinnert das nicht an «Angelus Novus»? Sieht nicht auch sein Engel etwas Schreckliches, eine schreckliche Geschichte, die uns verborgen ist?
Der grundlegende Unterschied zwischen den Bildern: Im Situation Room des Weissen Hauses sitzen Mächtige, die Zeugen der Geschichte wurden, die sie selbst machen. Sie werden Live-Beobachter der Macht ihres Imperiums, ihres Befehls. Und Piet Souza macht uns damit nicht nur zu Zeugen ihrer Emotionen, sondern auch zu Komplizen ihrer Macht.
Zeugen der Geschichte, die sie selber machen: Joe Biden, Barack Obama, Hillary Clinton und Mitglieder des National Security Team verfolgen am 1. Mai 2011 im Situation Room des Weissen Hauses per Videoübertragung die Tötung Usama bin Ladins. Zeugen der Geschichte, die sie selber machen: Joe Biden, Barack Obama, Hillary Clinton und Mitglieder des National Security Team verfolgen am 1. Mai 2011 im Situation Room des Weissen Hauses per Videoübertragung die Tötung Usama bin Ladins.
Der grosse deutsch-jüdische Intellektuelle Benjamin verwendet 1940 auf dem Höhepunkt der Naziherrschaft, die ihn wenig später in den selbstgewählten Tod hetzen soll, den "Angelus Novus" in seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" als anschauliche Grundlage für seine Gedanken zum "Engel der Geschichte".

Auch "Der Neue Engel" zeigt auch Spuren von etwas Herrschaftlichem, mit seiner Löwennase, seinen souverän blickenden Augen mit ausgeprägten Zornesfalten, seinen grossen, wenngleich etwas windschiefen Zähnen. Und auch er scheint etwas aufhalten zu wollen, die Geste seiner Flügelarme scheint das auszudrücken: Halt!
Aber ist dieser intellektuelle Engel mit seinem von zu viel Lektüre (die Schriftrollen wachsen ihm förmlich aus der Riesenrübe!) aufgeblähten Kopf überhaupt flug- und transzendenzfähig? Macht nicht gerade das ihn zum "neuen" Engel, dass er, anders als seine gefiederten Kollegen, offenbar nicht länger dem vertikalen Gewerbe zugehört? Vor allem aber: Blickt er überhaupt auf die Geschichte?
Obwohl Benjamin den Übergang von Klees "Angelus Novus" zu seinem "Engel der Geschichte" deutlich markiert, ist es seit dieser Deutung fast unmöglich geworden, den Angelus ohne Benjamins Brille zu betrachten. Selten wurde ein Bild so gründlich von einer einzigen Interpretation überschrieben. Gleichzeitig fällt es uns schwer, Benjamins Engel der Geschichte nicht selbst als Ausdruck der unüberbietbar düsteren geschichtlichen und persönlichen Umstände Benjamins in dieser Zeit zu deuten. Dabei reichen diese Gedanken nach Benjamins eigener Aussage in die Zeit zurück, als er Klees Angelus Novus kaufte.
Koinzidenz 2020/21:

In dieser Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg und einer verheerenden Pandemie (die Spanische Grippe wütet 1918 bis 1920 und rafft weltweit mehr als 100 Millionen Menschen dahin - wahrscheinlich mehr Tote als jede andere Krankheit davor und danach, im damaligen Deutschen Reich kostet die Spanische Grippe rund 426.000 Menschen, so viele Einwohner wie Augsburg und Regensburg heute zusammen, das Leben) erfahren die Menschen als fundamentale Krise. Es ist die Stunde einer Theologie, die um einen abgründigen Gedanken kreist: den des verborgenen Gottes, des "deus absconditus". Regelmäßige Frage: Wie konnte Gott das zulassen? Dialektisch gedacht, zeugt aber auch die Feststellung der Abwesenheit Gottes noch davon, dass er vermisst wird und genau hierin – als Vermisster – da ist, was Martin Luther Kreuzestheologie nennt.
Und betreibt Benjamins Engel der Geschichte nicht auch so etwas wie eine Kreuzestheologie, bei der er die Opfer der Geschichte an die Stelle des Gekreuzigten und des Negativen rückt? Anders als traditionelle Engel schwebt der Engel der Geschichte nicht majestätisch über der Geschichte und sieht daher auch ihre ungesühnten Opfer. Bei Benjamin erwecken die Opfer der Geschichte den messianisch-geschichtlichen Horizont einer, menschlich betrachtet, unmöglichen Hoffnung auf Heilung und Wiedergutmachung. Benjamin hätte also, mit anderen Worten, eine künstlerische Operation Klees als Basis dazu verwendet, eine christlich-lutherische durch eine jüdisch-messianische Kreuzestheologie zu übermalen.

Weil Übermalungen das verdecken, was sie übermalen, und sich damit selbst verdecken, wird dies erst erkennbar, wenn der verborgene Untergrund wieder in Erscheinung tritt. Genau das geschieht 2015. Durch die Entdeckung von R. H. Quaytman wissen wir, dass es sich beim Angelus Novus um eine Übermalung oder Überzeichnung handelt. Klee benutzte für seinen Engel als Malgrund nämlich ein Bild aus dem 19. Jahrhundert. Und dieses Bild zeigt – Martin Luther.
Wusste das Walter Benjamin? Wir wissen es nicht. Der Angelus Novus hing jahrelang in seinen Arbeitszimmern, sein Freund und späterer Besitzer des Bildes, Gershom Scholem, nannte es Benjamins Meditationsbild, und die Spur zum Luther-Porträt ist mit blossem Auge erkennbar, in Gestalt eines Cranach-Monogramms. Es wäre daher merkwürdig, wenn ihm das Monogramm nicht aufgefallen wäre. Benjamin hätte Paul Klee selbst um Aufklärung bitten und damit um den verborgenen Luther wissen können. Wenn er es nicht wusste, und dafür spricht, dass von einem solchen Wissen offenbar keinerlei schriftliche Spuren zeugen, dann wäre das nicht weniger faszinierend. Dann hätte Benjamin, ohne Kenntnis des verborgenen Luthers, des Lutherus absconditus, eine bei Klee angedeutete Horizontalisierung des Engels messianisch überzeichnet und damit eine grundlegende Um- und Überschreibung Luthers vollzogen.

Kluges Blick auf seine zerstörte Heimatstadt ist darum, aller intellektuellen Unentwegtheit zum Trotz, auch der Entsetzensstarre des Engels der Geschichte, von dem Walter Benjamin gesagt hat, dass er mit seinen aufgerissenen Augen "eine einzige Katastrophe sieht, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese hier, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."






Angel of History



und Patrioten

Kritik:
1952 hat Heinrich Böll ein „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ abgelegt - damit seien die ersten schriftstellerischen Versuche der Generation nach 1945 etikettiert und kritisiert worden. Die Bezeichnung habe zu Recht bestanden: Die Menschen damals schrieben und lebten in Trümmern und kamen aus dem Krieg. Es gebe keinen Grund, sich dieser Charakterisierung zu schämen.
Sebalds Thesen stellen Bölls Bekenntnis in Frage, Böll hätte eine „Trümmerliteratur“ gefordert, die es nicht gegeben und zu der er selbst keinen wesentlichen Beitrag geliefert habe. Früher entstanden literarische Kontroversen, weil Autoren oder Autorinnen Texte veröffentlichten, die auf heftigen Widerspruch oder begeisterte Zustimmung stießen. Heute sind es meist Journalisten, die ihrem Medium ‚Futter‘ geben, indem sie eine Th ematik aufbereiten, von der von vornherein anzunehmen ist, dass sie von einer gewissen Leserschaft mit Neugierde zur Kenntnis genommen wird. Es ist kaum übertrieben, Volker Hage, Literaturredakteur beim Spiegel, den Erfinder der Debatte um Luftkrieg und Literatur zu nennen. Er hat bald nach den Poetikvorlesungen Sebalds Ende 1997 in Zürich auf die Brisanz des Themas hingewiesen. Erste Besprechungen schrieben Kollegen in der Schweiz. Der Spiegel-Bericht Hages löste hierzulande eine heftige Diskussion aus, an der sich bald zahlreiche Schriftsteller beteiligten. Hage hat in kurzer Zeit Autoren in Interviews nach ihren Erfahrungen während des Bombenkriegs befragt – diese Gespräche machen mehr als die Hälfte seines Buches von 2003 aus.

Sebald: Diese Stummheit, dieses Verschlossen- und Abgewandtsein ist der Grund, weshalb wir so wenig wissen von dem, was die Deutschen gedacht und gesehen haben in dem halben Jahrzehnt zwischen 1942 und 1947. Die Trümmer, unter denen sie lebten, blieben die terra incognita des Krieges. Die nach 1945 entstandenen Werke seien gekennzeichnet durch ein „Sich-Ausschweigen“, als eine Absenz, die auch für andere Diskursbereiche vom Familiengespräch bis hin zur Geschichtsschreibung bezeichnend sei. Jedenfalls könne die These, dass es bisher nicht gelungen sei, die Schrecken des Luftkrieges durch historische oder literarische Darstellungen ins öffentliche Bewusstsein zu heben, nicht leicht entkräftet werden. Es scheint schwierig, sich heute eine nur halbwegs zureichende Vorstellung vom Ausmaß der Zerstörung deutscher Städte und des damit über die Stadtbewohner gekommenen Grauens zu machen. Wer nicht auf eigene Erinnerungen an die durch Schuttberge führenden schmalen Straßen oder an Bunkernächte und den Motorenlärm der Pulks von fliegenden Festungen oder des durch so genannte Christbäume erleuchteten Nachthimmels zurückgreifen kann, findet zumindest in zahlreichen Bildbänden Informationen über den Zustand der deutschen Städte nach 1945. In ihnen wird die Trümmerlandschaft als Kontrast zu dem strahlenden Wiederaufbau ganzer Straßenzüge in den fünfziger und sechziger Jahren genutzt. Das Abbild der Zerstörung wurde eher der Fotografi e als dem erzählenden Text überantwortet. An einigen Stellen seiner Argumentation nähert sich Sebald dieser zentralen Problematik einer Sprachnot, die ihre Analogie ja auch in den meist sprachlos gebliebenen Erfahrungen der Holocaust-Opfer findet. Immerhin trägt Sebald eine ganze Reihe von Texten zusammen, die sich zu einer kleinen Anthologie der Zerstörung deutscher Städte fügen.

1999: Bomben auf Belgrad - jeder Tag bringt wieder Nachrichten über Heimsuchung vom Himmel her. Ältere Zeitgenossen unter uns muss das an eigene Erfahrungen erinnern. Beschwören doch die aktuellen Bilder aus dem fernen Jugoslawien jenes sagenhafte, halb verdrängte, materiell gründlich überwundene und doch seelisch heimlich fortwirkende Schauderjahrfünft von 1942 bis 1947 herauf, als auch Deutschland in Folge eines allerdings weit gnadenloser geführten Luftkriegs in Schutt und Asche lag. Jenes Trauma, das sich bei den "Kriegskindern", wie Christa Wolf kürzlich die Generation der heute Siebzigjährigen genannt hat, in den vergangenen Jahrzehnten allenfalls dadurch bemerkbar machte, daß man panisch auf das Klingeln der Weckeruhr reagierte oder dass einem beim Knallen von Silvesterböllern der Angstschweiß ausbrach - diese lebensprägende Bedrohung durch Bombenangriffe wird angesichts des Krieges im Kosovo lebendig bei denen, die es noch selbst erlebt haben, wie 600 000 deutsche Zivilisten getötet, dreieinhalb Millionen Wohnungen zerstört, siebeneinhalb Millionen Menschen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs obdachlos wurden. Aber wohl tatsächlich nur jene, die es selbst erlebt haben, ziehen diese Verbindung, denn tradiert und eingegangen ins kollektive Gedächtnis ist dieses Erlebnis grenzenlosen Elends und furchtbaren Ausgeliefertseins kaum. Vor allem die Literatur, in den meisten Kulturen der Welt Spiegel und Speicher nationaler Epochenerfahrung, ist in dieser Hinsicht weitestgehend unergiebig. "Die Nachgeborenen", schreibt Sebald denn in "Luftkrieg und Literatur", die Nachgeborenen könnten sich, "wenn sie sich einzig auf die Zeugenschaft der Schriftsteller verlassen wollten, kaum ein Bild machen vom Verlauf, von den Ausmaßen, von der Natur und den Folgen der durch den Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe."

Und weiter heißt es bei Sebald, der mit diesen Thesen, vor knapp zwei Jahren nur auszugsweise in Zeitungen publiziert, eine seltsam weltferne Debatte auslöste: "Gewiß gibt es den einen oder anderen einschlägigen Text, doch steht das wenige uns in der Literatur Überlieferte sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrungen jener Zeit."Wie kommt das? Sebald argumentiert hauptsächlich sozialpsychologisch. Er führt neben den naheliegenden Gründen des schlechten Gewissens - die Auslöser des Zweiten Weltkriegs, mit Völkermord und Holocaust belastet, empfanden die Bombardierung durch die Allierten als gerechte Strafe, die sie schweigend schluckten - vor allem eine gewissermaßen "vorbewußte Selbstzensur" der Deutschen ins Feld, wie sie der Mensch um des Überlebens willen nicht selten mobilisiert: "Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden." Einem "schandbaren, mit einer Art Tabu behafteten Familiengeheimnis" gleich, habe man sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches vielmehr gezwungen, die Zerstörung als Chance zu sehen - als Chance zu einem mit allen verfügbaren Kräften betriebenen Neubeginn und Wiederaufbau.

Das kann aber die äußerst sparsame literarische Verarbeitung nicht ausreichend erklären. Dass beispielsweise jenes Inferno, welches sich den Hamburgern 1943 und den Dresdnern 1945 bot - von den psychologischen Auswirkungen für deren Zeugen ganz zu schweigen -, kaum einen Schriftsteller als Stoff reizte, hängt vielmehr mit geistigen Prägungen in unserer Literatur zusammen, die bis heute wirksam sind.Und die für die konservativ-bürgerliche Literatur ebenso gelten wie für die progressiv-antibürgerliche, ein Unterschied, von dem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten viel hergemacht wurde, als die literarische Linke, anders als heute, es noch mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hatte. Es ist das Verdienst Sebalds, durch seine Analyse von Texten, die den Luftkrieg und seine Folgen aufgreifen, zeigen zu können, dass sie, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, leiden unter jenem nicht zu unrecht noch immer für typisch deutsch gehaltenen Primat des Weltanschaulichen, das so oft zu Entwirklichung und Enthistorisierung führt. Mit Händen zu greifen, so Sebald, ist die "Rhetorik der Schicksalshaftigkeit" vor allem bei den Autoren der sogenannten Inneren Emigration. Sebald zieht hier den heute nahezu vergessenen Roman "Die Stadt hinter dem Strom" von Hermann Kasack heran. Er hätte sich aber auch auf Werner Bergengruen oder Ernst Jünger berufen können, die unter programmatischer Umgehung konkreter Details und dafür umso phantasievoller im Erfinden von Metaphern für eine metaphysische Überhöhung den "Schatz an Leiden" durch Krieg und Vernichtung als "Saat" interpretierten, von der sie sich "Früchte" wie Frieden und Heilung versprachen. Zu einer anderen Form von Entwirklichung, nämlich zum melodramatischen Kitsch, habe die Schilderung der Zerstörung bei dem Emigranten Peter de Mendelssohn geführt.

Aber auch Arno Schmidt , Hans Erich Nossack oder Alfred Andersch, also Galionsfiguren der "jungen deutschen Literatur der Moderne", welche die Gruppe 47 nach 1945 verkörpern wollte, seien, bei allem Resprekt etwa für Nossacks Prosastück "Der Untergang" über das brennende Hamburg, gescheitert am Faktischen, gescheitert an der Darstellung von Realerfahrung. Ihnen zog Nossack das Herausstellen einer existentiellen Sinnleere vor, wenn er aus der Zerstörung Hamburgs durch alliierte Bombardements die "Bestätigung" für seine Philosophie eines "Lebens im Nichts ohne jede Rückendeckung" ableitete. An diese weltanschaulichen Überhöhungen fühlt man sich erinnert, wenn auch heute wieder hinsichtlich des Kosovokrieges von deutschen Schriftstellern über Jugoslawien gesprochen wird, als sei es ein wiedererstandenes Nazi-Deutschland und Milosevics der Hitler redivivus, woraus mit Wonne eine gewissermaßen antifaschistische Begründung für die Unterstützung der Nato-Politik abgeleitet wird. Da wirken jene sympathischer, die, wie Christa Wolf, betonen, daß ihnen dieser Krieg die Sprache verschlage. Denn das kommt dem ehrlichen Geständnis dessen sehr nahe, was man als Unverhältnis deutscher Autoren zum Realpolitischen bezeichnen kann. Hier führt es, spät genug, zu der Erkentnis, dass auch Schweigen Antwort ist.

Sebald sagt:



siehe auch Die (Un)Sagbarkeit des Schreckens