. Zwei Wege Drei Werke
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Zwei Wege - Drei Werke

Ein Mann verwirklicht seinen Lebenstraum: Er reist von Grimma bei Leipzig nach Syrakus in Sizilien – und wieder zurück.
Sein Reisebericht macht den Autor über Nacht berühmt und ist bis heute so populär wie Goethes Italienische Reise.
Eher unpolitisch gestimmt, wandert Seume los, will seine Stubenhockerei als Lektor aufgeben und eine unglückliche Liebesgeschichte vergessen, wird im Verlauf der Reise zum Italienbegeisterten. Was er gesehen und erlebt hat, hält er in seinen kurzweiligen und unterhalt-samen Aufzeichnungen fest. Dabei sind ihm die zeitgenössische Politik und Kultur und vor allem die Menschen, denen er unterwegs begegnet ist, wichtiger als jede Bildungsschwärmerei.

Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung".
Am 6. Dezember 1801 bricht Seume in Grimma bei Leipzig zu seiner legendären Wanderung nach Syrakus auf. Am 1. April 1802 erreicht er sein Ziel (wirklich - oder Aprilscherz?), im August 1802 ist er wieder zu Hause.
"Übrigens bin ich nicht nach Italien gegangen, um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen", auch "nicht absichtlich, um das Unwesen der Regierung und der Möncherei zu sehen", sondern um "den Theokrit dort studieren“ sei er nach Syrakus aufgebrochen, schreibt Seume.
Die tatsächlichen Anlässe, Gründe und Hintergründe seiner Reise beschäftigen "Seumologen" bis heute. Flucht in die Unabhängigkeit? Liebeskummer? Suche nach dem Sinn des Lebens? Selbstbestätigung durch eine Extremleistung? Sicher ist: Was als Bildungsreise in der Tradition der "Grand Tour" begann, wurde zum Vorbild für Generationen kritischer Touristen. Der Erlebnisbericht Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 beschreibt ein bis dahin unbekanntes Reiseerlebnis: subjektiv, eigenwillig, politisch, kritisch, alltagsnah. Ein Vorbild für Heinrich Heine, ein Langweiler für Goethe. Wo der Dichterfürst Hof hielt, suchte der Wanderer eine billige Unterkunft.

Nicht nur seine Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus haben mich begeistert (sowohl als Leser wie als Segler), sondern auch - neben den vielen anderen Werken von Friedrich Christian Delius - sein Tagebuch Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich.
Paul Gompitz alias Dieter Müller, liest in der Schule Seumes Spaziergang und fasst den Plan, einmal in seinem Leben auch nach Italien zu reisen. Seine Hoffnug, die DDR legal zu verlassen und zurückzukehren, wird enttäsucht. Er plant die Flucht. Prag! Das ist die Lösung! Überall Touristen aus Westdeutschland ...
Im März 1983 fährt er mit dem Zug von Rostock los. In Grimma steigt er aus, läuft nach Meißen und Dresden, schleicht über die sächsisch-tschechoslowakische Grenze und versteckt drüben 4.000 ersparte West-Mark, kehrt zurück, reist offiziell über Dresden und Bad Schandau in die Tschechoslowakei, holt das Geld.
Märchenhaft, doch nicht erfunden.
«In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen. Der Weg nach Italien ist versperrt durch die höchste und ärgerlichste Grenze der Welt, und Gompitz ahnt noch keine List, sie zu durchbrechen. Er weiß nur, dass er die Mauern und Drähte zweimal zu überwinden hat, denn er will, wenn das Abenteuer gelingen sollte, auf jeden Fall nach Rostock zurückkehren.» So beginnt Delius’ Chronik der modernen Schwejkiade. Im Juni 1988 gelingt es Gompitz, mit einer Jolle von Hiddensee nach Dänemark zu segeln. Delius erzählt von der Mühsal der Vorbereitungen, von der Hartnäckigkeit, wie Gompitz das Segeln lernt, sein Boot tarnt, Geld in den Westen schafft, wie er gegen jede Gefahr eine List findet, immer etwas schlauer als die Staatssicherheit. Einfach auf sein Recht auf eine Bildungs- und Pilgerreise pochend, auf den Spuren Johann Gottfried Seumes, dessen «Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802» er seit Jugendzeiten im Kopf hat. Doch zunehmend irritiert ihn die Frage: «Wie kommst du am besten wieder zurück?»
«Delius hat genau recherchiert, er setzt sich, ohne sie zu bevormunden, in seine Figur hinein, gibt ihr seine Stimme. Die spannende Geschichte hält den Leser in Atem.« So entspannt, so sicher und souverän, dass nicht nur die Leser, auch die strengsten Rezensenten diesem Spaziergang von Rostock nach Syrakus und zurück applaudieren müssen.

Der wahre Paul Gompitz hat seine unwirkliche Abenteuer-geschichte nun im Buch „Gehen, um zu bleiben“ selbst aufgeschrieben. Und verklärt?
Das Lesen fällt oft schwer, detailversessene und banale Berichte. Müller ist begeistert von Städten und Landschaften, macht gute und schlechte Erfahrungen – nennt stets Namen und Preis seiner Unterkunft. Das ist ermüdend – und manchmal schlicht falsch, wenn er etwa Treviso und Tarvisio verwechselt. Dennoch lohnt es sich, zur Heimreise weiterzublättern.
„Wenn meine Reise durch Italien weiterhin so herrlich bleibt wie der Besuch in Triest, dann haben sich Risiko und Aufwand gelohnt und ich komme als glücklicher und ausgeglichener Mensch zurück. Auch die Unzulänglichkeiten unserer Staatsführung will ich dann freudig ertragen.“
Ahnt der DDR-Beamte, der seine Wiedereinreise in die wackelnde DDR kontrolliert, das nahende Ende der DDR?
Sein Reisebericht verliert sich streckenweise in schwülstig-detailversessenen Beschreibungen - ist Seume Vorbild?
Nürnberg:
„Es fällt mir schwer, diese herrliche deutsche Stadt nur zu erwähnen und über ihre Pracht meine Feder nicht ausführlicher sprechen zu lassen.“
Der Weg aus Sachsen nach Italien in den 1980er Jahren ist undenkbar für einen DDR-Bürger. „Gehen, um zu bleiben“? Das ist nicht vorgesehen. Erst recht nicht für einen wie Müller – der den Dienst beim Militär verweigert hat. Und der es sich gönnt, nur im Sommer als Kellner zu arbeiten, damit ganz zufrieden ist.
„Ich musste mal raus, um bleiben zu können in diesem wunderbaren, von moskowitischer Misswirtschaft verunstaltetem Land.“ Sein ungewöhnlicher Plan lautet: Ausreisen, Italien sehen, zurückkehren. Müller plant alleine und will keine Sicherungsanlagen zerstören, – so hofft er auf Wiederaufnahme und ein mildes Urteil. So sehen es die DDR-Gesetze vor – und an die glaubt er.
1981, er ist 40, beginnt er mit den Vorbereitungen, sucht Arbeit an der Ostseeküste, tritt einem Segelverein bei, kauft sich eine Jolle. Von Hiddensee will er Richtung Westen zur dänischen Insel Mön segeln. Nachts. Geld und Gepäck schickt ein japanischer Dolmetscher für ihn in den Westen. Geheimhaltung, Vorsichtsmaßnahmen und die versteckten Reisevor-bereitungen zeigen das Alltagsleben im real untergehenden Sozialismus. Darin liegt die Stärke dieses Berichts – geschrieben von einem, der an den Sozialismus glaubt, aber nicht an die DDR-Führung. Alltag die stetige Sorge vor Überwachung und Stasi, etwa wenn Müller schwarze Farbe für seine Segel braucht – und diese vorsichtshalber in Dresden sucht.
„Ich dachte: ‚So weit von der Küste entfernt denkt kein Mensch an die Vorbereitungen eines nächtlichen Grenzdurchbruchs über See.‘ Der Drogistin log ich vor, als Bandleader eine helle Polyesterplane dunkel einfärben zu wollen, um die goldenen Sterne, die später aufgenäht werden sollten, besser als Überdachung zur Geltung zu bringen.“ Devisen und Boot sind bereit, Müller legt sich auf die Lauer und wartet. 1986 und 1987 verstreichen ohne günstige Winde. Erst im dritten Jahr morgens der Deutschlandfunk-Seewetterbericht:
"Ein flaches Tief zieht über Mecklenburg langsam nach Osten. Mir war klar, in dieser Nacht musste ich raus."
Sein Plan geht auf: Der NE bläst ihn nach Dänemark, schon am nächsten Mittag legt er an. Am Abend nimmt er die Fähre nach Lübeck-Travemünde. In der hanseatischen Oberschicht lernt er den Kapitalismus kennen. Bei der Arbeit als Kellner oder im Supermarkt.