Die nächstfolgenden Tage beschäftigte ich mich so gut wie ausschließlich mit meinen Nachforschungen über Pisanello, deretwegen ich mich entschlossen hatte, nach Verona zu fahren. Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Es war diese, seit langem schon gehegte Zuneigung zu dem Maler Pisanello, die mich wieder in die Chiesa Sant' Anastasia führte, dort das Fresco anzusehen, das er über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat. Die Kapelle der Pellegrini, im linken Seitenflügel der Kirche, existiert als solche heute nicht mehr... Kaum ein Strahl Tageslicht durchdringt das Seitenschiff der Sant'Anastasia. Selbst mitten am hellsten Nachmittag herrscht hier die tiefste Dämmerung. Nur schattenhaft ist darum das Bildwerk Pisanellos über dem Torbogen der vormaligen Kapelle zu erkennen. Durch das Einwerfen von Tausend-Lire-Münzen in einen Blechkasten kann es aber illuminiert werden auf eine gewisse, manchmal sehr lang und manchmal sehr kurz erscheinende Zeit. |
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Dann ist deutlich zu sehen der heilige Georg, wie er im Begriff steht, gegen den Drachen auszuziehen, und Abschied nimmt von der Principessa. |
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Von der linken Hälfte des Gemäldes ist einzig das etwas verwaschene Untier erhalten mit zwei noch flügellosen Jungen aus seiner Brut. Einiges an Knochen und Gebein, Überreste der zur Befriedigung des Drachens geopferten Tiere und Menschen, liegen verstreut umher.
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| Eine eher nördlich anmutende Gegend erhebt sich, wie man der Art der Darstellung entsprechend sagen muß, in den blauen Himmel. Auf einem Meeresarm weist ein Schiff mit geschwellten Segeln als einziges Objekt der Komposition in die Ferne.
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| Sonst ist alles Gegenwart und diesseitig, das wellige Land, die gepflügten Felder, die Hecken und Hügel, die Stadt mit ihren Dächern, Türmen und Zinnen
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| und der Galgen, dessen baumelnde Gehenkte — ein beliebter Kunstgriff jener Zeit — der Szene eine eigene Lebendigkeit verleihen. Gebüsch, Gesträuch und Blattwerk sind auf das sorgfältigste gemalt und mit Liebe auch die Tiere, denen Pisanellos größte Aufmerksamkeit immer gegolten hat:
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| der landeinwärts fliegende Storch, die Hunde,
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| der Schafbock und die
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| ![]() Pferde der sieben Berittenen,
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| unter denen sich ein kalmückischer Bogenschütze befindet mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht.
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| In der Mitte des Bildes die Principessa in einem Federkleid und San Giorgio, von dessen Rüstung das Silber abgeblättert ist, den aber der Glanz seines rotgoldenen Haupthaars noch umgibt. |
Zum Erstaunen ist es, wie es Pisanello verstanden hat, den jäh heraustretenden,
seitwärts schon auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick
![]() des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen |
In Verona ist er am Nachmittag seiner Ankunft vom Bahnhof über den Corso in die Stadt und dort so lang kreuz und quer durch die Gassen gewandert, bis er vor Müdigkeit in die Kirche zur heiligen Anastasia einkehrte. Nachdem er sich eine Zeitlang mit aus Dankbarkeit und Widerwillen gemischten Gefühlen in dem kühlen, halbdunklen Raum ausgerastet hatte, machte er sich wieder auf, und im Hinausgehen fuhr er noch der seit Hunderten von Jahren unter der schweren Last eines Weihwasserbeckens am Fuße einer der mächtigen Säulen ausharrenden Zwergenfigur mit den Fingern durch die marmornen Locken wie einem Sohn oder jüngeren Bruder. |
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Daß er das von Pisanello gemalte schöne Wandbild des heiligen Georg über
dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini angesehen hätte,
dafür gibt es nirgends einen Anhaltspunkt. Belegt werden könnte jedoch,
daß es Dr. K., als er wieder unter dem Portal an der Schwelle zwischen
dem dunklen Innenraum und der Helligkeit draußen stand,
einen Augenblick lang vorkam, als sei dort dieselbe Kirche Tor an Tor mit der gebaut,
aus der er gerade getreten war, eine Verzweifachung, wie sie ihm aus seinen Träumen bekannt war,
in denen auf eine furchterregende Weise alles beständig sich weiter und weiter aufspaltete.
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![]() Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Zur Linken steht der Patron der Herden, Hirten und Aussätzigen, der hl. Anto- nius. Er trägt ein tiefrotes Kapuzenkleid und einen weiten erdbraunen Umhang. In der Hand hält er eine Schelle. Ein zahmer, zum Zeichen der Ergebenheit ganz an den Boden geduckter Eber liegt ihm zu Füßen. Mit stren- gem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegen- übergetreten ist und von dem etwas herzbewe- gend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein gerin- geltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht (?). Die aus weißem Metall geschmie- dete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schat- ten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugend- liche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. ![]() Das ganz Besondere aber an diesem Bild ist der außergewöhnlich schön gearbeitete, weitkrem- pige und mit einer großen Feder geschmückte Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat. Ich wüßte gern, wie Pisanello auf den Gedanken gekommen ist, den heiligen Georg ausgerechnet mit einer solchen, angesichts der Umstände eigentlich unpassenden, ja geradezu extrava- ganten Kopfbedeckung auszustaffieren. San Giorgio con cappella di paglia — sehr verwunder- lich, wie vielleicht auch die beiden guten Pferde sich denken, die dem Ritter über die Schulter blicken. ![]() |
Nachtrag
John Burnside schreibt zum Andenken an W. G. Sebald: "Anselm Kiefer sagt, er lasse sich nicht von
großartigen, sondern von banalen Dingen inspirieren, von alltäglichen Fundstücken.
Ähnliches schreibt Sebald über Pisanello, einen seiner Lieblingsmaler:
Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht,
sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren
Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel,
dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe,
durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. |
Antonio Pisanello
eigentlich Antonio di Puccio Pisano, manchmal Vittore Pisano (1395 - 1455), am Übergang der Spätgotik mit dem Nachklang
der höfischen Kultur hin zur Frührenaissance.
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