Tess Jaray |
Erst als wir den Rheinstrom entlangfuhren, schaute sie manchmal von ihrer Lektüre auf und seitwärts durch die Scheiben des Abteilfensters
auf das Wasser und die steilen Abhänge des jenseitigen Ufers hinaus. Es mußte ein starker Nordwind aufgekommen sein,
denn die Heckflaggen der stromaufwärts die graue Flut durchpflügenden Lastkähne wehten nicht nach rückwärts,
sondern wie auf einer Kinderzeichnung nach vorne zu, was dem ganzen Bild etwas ebensosehr Verkehrtes
wie Rührendes gab. Das Licht draußen hatte zusehends abgenommen, bis nur mehr eine fahle Helle das Stromtal erfüllte.
Ich trat hinaus auf den Gang. Die wie mit einer Kaltnadel gezeichneten schiefer- und violettfarbenen Weinberge
waren stellenweise mit türkisgrünen Netzen abgedeckt. Als nun ein allmählich eintretendes Schneetreiben diesen im Vorbeigleiten
fortwährend sich verschiebenden, im wesentlichen aber unverändert bleibenden Prospekt mit einer feinen, fast waagrechten Schraffur
überzog, war es mir auf einmal, als seien wir auf dem Weg hinauf in den hohen Norden, als näherten wir uns bereits der
äußersten Spitze der Insel Hokkaido. Die Winterkönigin, von der ich insgeheim vermutete, daß sie diese Verwandlung der
Rheinlandschaft bewirkt hatte, war gleichfalls auf den Gang herausgekommen und stand, das schöne Schauspiel betrachtend,
bereits eine längere Weile neben mir, bis sie mit einem kaum wahrnehmbaren englischen Tonfall in der Stimme und, wie es
mir schien, ganz für sich allein die folgenden Zeilen sagte:
W. G. Sebald Schwindel.Gefühle S.290
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