Tess Jaray |
Heute, wo ich meine Notizen anfange ins reine zu schreiben, mehr als ein Jahr nach der Entlassung
aus dem Spital, kommt mir zwangsläufig der Gedanke, daß damals, als ich vom achten Stockwerk aus hinabschaute auf
die in der Dämmerung versinkende Stadt, in seinem schmalen Haus in der Portersfield Road Michael Parkinson noch am Leben
gewesen ist, beschäftigt wahrscheinlich wie zumeist mit der Vorbereitung eines Seminars oder mit seiner viele Jahre lang ihn
schon in Anspruch nehmenden Studie über Ramuz. Michael war Ende Vierzig, Junggeselle und, wie ich glaube, einer der
unschuldigsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Nichts lag ihm ferner als Eigennutz, nichts kümmerte ihn so sehr wie
die aufgrund der seit einiger Zeit herrschenden Verhältnisse immer schwieriger werdende Erfüllung seiner Pflicht.
Mehr als alles andere aber zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte.
In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist Michael praktisch überhaupt
nie zum Einkaufen gegangen. Jahraus, jahrein trug er, seit ich ihn kannte, abwechslungsweise eine dunkelblaue und
eine rostfarbene Jacke, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ellbogen durchgewetzt waren, hat er selber zu Nadel und Faden
gegriffen und einen Lederbesatz aufgenäht. Ja, sogar die Kragen an seinen Hemden soll er gewendet haben.
In der Sommervakanz machte Michael regelmäßig lange, mit seinen Ramuzstudien in Verbindung stehende Reisen zu Fuß
durch das Wallis und das Waadtland, manchmal auch durch den Jura oder durch die Cevennen. Oft, wenn er von einer solchen Reise
zurückkam oder wenn ich den Ernst bewunderte, mit dem er stets seine Arbeit verrichtete, schien es mir, als habe er,
auf seine Weise, das Glück gefunden in einer inzwischen kaum mehr denkbaren Form von Bescheidenheit.
Doch dann hieß es im vergangenen Mai mit einem Mal, daß Michael, den seit ein paar Tagen niemand gesehen hatte, in seinem
Bett tot aufgefunden worden sei, auf der Seite liegend und ganz starr schon und mit einem eigenartig rotfleckig verfärbten Gesicht.
W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn S. 14f
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