1. November
RON WINKLER Fotomahlzeiten Silbergeschirr war das Zaumzeug des Sonntags, aus der Küche kamen dampfende Speisen, aus Liebe Servietten, nichts war uns so nah wie der Tisch, der den Fortbestand sicherte. geschlossene Hände beteten unter ihm hungrige Magerunser, echtes Stallfleisch, pure Brust, zum Abschluss ging es immer ans Eingemachte, die privaten Pflaumen nach vorwiegend volkseigenen Kartoffeln: kein Satz war so sauber geschält, auch wenn die Gespräche glänzten wie der Foto- Vater in seinen besten Jahren; nie zu verhindern am Ende der Magenbitter einer Müdigkeit wie von Eulen gemietet. |
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2. November
LAURENTIUS VON SCHNÜFFIS Des Miranten an sein in die Fremmde Räißfertiges Flötlein Ermahnungslehre ![]() ![]() |
Seh' hin nach fremmdem Land, hell-klingendes Buß-Flötlein Sey mir ein treues Böttlein, an jeden Sünder-Stand; Geh' hin mit meinem Gunst zur Welt, die Sünden voll Und lehre sie die Kunst, Wie man Buß würcken soll. Dein hallendes Gethön laß aller Orten hören Und dich gar nicht verstören das Momische Gehön: Nach grossen Höfen lauff zu der beglückten Schaar Spiel' ihnen kläglich auff ihr grosse Heyls-Gefahr. Trag' ihnen lieblich vor das Beyspiel der Clorinden Wie sie aus schwären Sünden geschwungen sich empor: Sag ihnen, daß die Freud der Welt sey Rosenart An wessen Dorn-Gestäud man sich verletze hart. Biß in die Seel hinein durchdringe ihre Ohren Auff daß sie nicht verlohren hingehn zur Höllen Pein; Sag' ihnen daß die Buß Ihr einigs Mittel sey Sich von dem Sündenruß und Kaht zu machen frey. Zum Dantz und Freuden-Spiel laß dich bey Leib nicht dingen Weil in dem eitlen Springen Offt wird gesündigt viel: Wie manches reines Hertz hat gähling bey dem Dantz (Wol sicher anderwerts) verlohren seinen Glantz. Das sey absönderlich und erstlich dir gebotten Wann deiner man wird spotten, daß du nicht rächest dich: Geselle dich auch nicht zu der Poetenschaar Auff daß dir kein Gedicht von ihnen wiederfahr'. Du weißst wohl, daß du nur ein schlechtes Hirtenflötlein (Und gar nicht ein Poetlein) Einfältig von Natur Von einem Hirten her, wessen Poeterey Nichts, als ein Schaafsgeplär uUnd wilde Waldwchallmey. Laß' dich mit keinem ein, mit in die Wett zu spielen Wilst du kein Unglück fühlen und ohne Kummer seyn: Gedenck' an Marsyas, was er durch solche That Für Ungunst, Spott und Haß hautloß erlitten hat. Und solt' es glücken schon, must du doch nicht vergessen Als eigen dir zumessen den nur entlehnten Thon: Du bist von schlechtem Holtz und einem dürren Ast Darumb zu werden stoltz du keine Ursach hast. Du bist ja ein Gemächt eEines vast immer Krancken Als wessen Geistsgedancken gar Sinnloß schwach und schlecht; Bist nur ein Mißgeburt Und armes Findelkind Drumb, wann man dich anmurrt, so geh' in dich geschwind. Geh' hin, doch nicht allein GOTT wöll' mit seinem Segen Auff allen Weg- und Stegen dein treuer Gläitsmann seyn: Geh' hin mit gutem Glück und halte dich sein wohl Kehr' aber nicht zurück, wie du geschieden hohl. Wann du wirst treffen an noch jemand von Bekandten Die gegen dem Miranten mit Neigung zugethan So melde meinen Gruß und bitte sie für mich Zu bätten, auff daß ich mög würcken wahre Buß. |
3. November
MICHAEL BASSE Wir werden immer jünger Wir werden immer jünger von jahr zu jahr schwinden die falten der kummer drückt nicht mehr so ins gesicht da ist was wie frühling in unsren blicken etwas wie übermut uns graut nicht mehr vor gipfeln die wir früher verschmähten in hundert jahren werden wir schweben schwereloser sternenstaub tanzende eiskristalle keiner ist vor uns sicher |
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4. November
WILHELM WAIBLINGER Rückkunft nach Rom ![]() |
Seine Beute, die Schätze der Welt, hat der Feldherr, der Cäsar, Dankbar aufs Kapitol einst im Triumphe gebracht, Kronen bring' ich dir nicht, mir mangelt selbst noch der Lorbeer, Nimm meine Lieder dafür, Jupiter Xenius, an |
„Slâfest du, friedel ziere? man wecket uns leider schiere. ein vogellîn sô wol getân, daz ist der linden an daz zwî gegân.“ „Ich was vil sanfte entslâfen, nu rüefest du kint ‚Wâfen‘. liep âne leit mac niht gesîn. swaz du gebiutest, daz leiste ich, friundîn mîn.“ Diu frouwe begunde weinen: „Du rîtest und lâst mich eine. wenne wilt du wider her zuo mir? ôwê, du füerest mîn fröude sament dir!“ |
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„Schläfst du, schöner Freund? Man weckt uns leider bald; ein Vöglein, ein so schönes, das hat sich der Linde ins Gezweig gesetzt.“ „Ich war ganz leicht eingeschlafen, als du, Kind; ‚O weh‘ riefst. Liebe ohne Leid kann es nicht geben. Was du befiehlst, Geliebte, das tue ich.“ Die Dame begann zu weinen: „Du reitest weg und lässt mich alleine. Wann willst du wieder her zu mir kommen? Oweh, du führst meine Freude mit dir fort!“ |
6. November
CHRISTOPH WENZEL wo genau liegt hartspann ![]() |
Wo genau liegt hartspann, dieses dorf im gelände? zwischen zufahrtsstraße, wirbelsäule, schulterblatt, von hier aus blickt man: auf den schongang verspannter landschaften, die haltungsschäden der krüppelkiefern. man grüßt sich auf dem weg mit einem nicken, einem knacken der sehnen, eine nackensteife haltung, die man hier findet, wenn man sie sucht. ansatz, ursprung, was nicht alles muskel sein kann: ja, herz, zwerch- fell, aber seele, hirn, das elternhaus am rande? du hältst den kopf so schief, ein träger säulenheiliger, der atlas, der sich nach einer schonung sehnt, eine lichtung, die du siehst, das nervöse leiden nadelnder bäume, spaziergänge, die das weichbild massieren, die flur, den trapezius, die siedlung bis hin zu den physiotherapeuten, die das dorf einrenken, gemeindegrenzen überdehnen, psychiatrien in den oberzentren, orthopäden, die kartieren, was dir fehlt: die rautenmuskulatur der seiten- straßen, das skelett der letzten fach- werkhäuser, alles facharztpraxen jetzt, von radiologen. kontrastmittel nach feierabend, die schnäpse, das bier, die relaxation, das ist hartspann, das dorf, die schlichte diagnose |
Wie sich minne hebt daz weiz ich wol; wie si ende nimt des weiz ich niht. ist daz ich es inne werden sol wie dem heræen herzeliep geschiht, sô bewar mich vor dem scheiden got, daz wæn bitter ist. disen kumber fürhte ich âne spot. Swâ zwei herzeliep gefriundent sich unde ir beider mmne em triuwe wirt, die sol niemen scheiden, dunket mich, al die wîle unz si der tôt verbirt. wær diu rede mîn, ich tæte alsô: verlüre ich mînen friunt, seht, sô wurde ich niemer mêre frô. Der ich diene und iemer dienen wil, diu sol mîne rede vil wol verstân. spræche ich mêre, des wurd alze vil. ich wil ez allez an ir güete lân. ir genâden der bedarf ich wol. und wil si, ich bin vrô; und wil si, so ist mîn herze leides vol. |
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Wie Liebe beginnt, das weiß ich gut; wie sie endet, weiß ich nicht. Sollte ich erfahren, wie dem Herzen Herzensliebe zuteil wird, so bewahre mich Gott vor dem Scheiden, das gewiss sehr bitter ist. Diesen Kummer fürchte ich sehr. Wenn zwei einander von Herzen lieb haben und ihrer beider Liebe Treue wird, soll keiner sie scheiden, bis es der Tod tut. Beträfe es mich, erginge es mir so: Wenn ich meine Geliebte verlöre, sehet, würde ich nie mehr froh werden. Der ich diene und immer dienen werde, die wird gut verstehen, was ich meine. Sagte ich mehr, wäre es allzu viel. Über all das soll ihre Güte entscheiden. Ihre Zuneigung brauche ich sehr. Und will sie, so bin ich froh und zugleich ist mein Herz voll Leid. |
»Joseph, liber nefe min, hilf mir wiegen min kindelin, das got musse din loner sin in himilrich, der meide kint Maria.« »Gerne, libe mume min, ich helfe dir wigen din kindelin, das got musse min loner sin in himilrich, der meide kint Maria.« Nu frów dich, kristenliche schar, der himelische konig klar nam die menschheit offenbar, den uns gebar die reine meit Maria. Is súllen alle menschen zwar mit gánzen frouden komen dar, do man fint der selen nar, di uns gebar die reine meit Maria. Uns ist geborn Emanuel, als uns vorkundigit Gabriel, des ist geziug Ezechiel, o fronis el, dich hot geborn Maria. O éwigis vátirs éwigis wórt, wor gót, wor mensche, der togunden ort in hímil, in érde, hi und dort, der salden pfort, di uns gebar Maria. O sússer Jesu userkorn, du wéist wol, das wir wor verlorn, stille uns dines vatirs zorn, dich hot geborn die reine meit Maria. O kléinis kint, o grosser got, du lidist in der krippen not, der súnder hi vorhanden hot der engil brot, das uns gebar Maria. |
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Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein, Gott, der wird dein Lohner sein im Himmelreich, der Jungfrau Sohn Maria. Eia! Eia! Gerne, liebe Maria mein, helf ich dir wiegen das Kindelein. Gott, der wird mein Lohner sein im Himmelreich, der Jungfrau Sohn Maria. Eia! Eia! Freu dich nun, o Christenschar, der himmlische König klar nahm die Menschheit offenbar, den uns gebar die reine Magd Maria. Eia! Eia! Süßer Jesu, auserkor’n, weißt wohl, dass wir war’n verlor’n, still uns deines Vaters Zorn, dich hat gebor’n die reine Magd Maria. Eia! Eia! |
10. November
AUGUSTA LAAR ![]() |
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11. November
WILHELM HEY ![]() |
Vöglein im hohen Baum Vöglein im hohen Baum, klein ist's, man sieht es kaum, singt doch so schön, dass wohl von nah und fern alle die Leute gern horchen und stehn, horchen und stehn. Blümlein im Wiesengrund blühen so schön und bunt, tausend zugleich; wenn ihr vorübergeht, wenn ihr die Farben seht, freuet ihr euch, freuet ihr euch. Wässerlein fließet fort immer von Ort zu Ort nieder ins Tal. Dürsten nun Mensch und Vieh, kommen zum Bächlein sie, trinken zumal, trinken zumal. |
Ich spür ain tier mit füssen brait, gar scharpf sind im die horen; das wil mich tretten in die erd und stösslichen durch boren. den slund so hat es gen mir kert, als ob ich im für hunger sei beschert, Und nahet schier dem herzen mein in befündlichem getöte; dem tier ich nicht geweichen mag. owe der grossen nöte, seid all mein jar zu ainem tag geschübert sein, die ich ie hab verzert. Ich bin erfordert an den tanz, do mir geweiset würt all meiner sünd ain grosser kranz, der rechnung mir gebürt. doch wil es got, der ainig man, so wirt mir pald ain strich da durch getan. Erst deucht mich wol, solt ich neur leben aines jares lenge vernünftiklich in diser welt, so wolt ich machen enge mein schuld mit klainem widergelt, der ich laider gross von stund bezalen müss. Darumb ist vol das herzen mein von engestlichen sorgen, und ist der tod die minst gezalt. o sel, wo bistu morgen? wer ist dein tröstlich ufenthalt, wenn du verraiten solt mit haisser buss? O kinder, freund, gesellen rain, wo ist eur hilf und rat? ir nempt das güt, lat mich allain hin varen in das bad, da alle münz hat klainen werd, neur güte werck, ob ich der hett gemert. Allmächtikait an anefangk noch end, bis mein gelaite durch all dein barmung göttlich gross, das mich nicht überraite der lucifer und sein genos, da mit ich werd enzuckt der helle slauch. Maria, maid, erman dein liebes kind des grossen leiden! seit er all cristan hat erlost, so well mich ouch nicht meiden, und durch sein marter werd getrost, wenn mir die sel fleusst von des leibes drouch. O welt, nu gib mir deinen lon, trag hin, vergiss mein bald! hett ich dem herren für dich schon gedient in wildem wald, so für ich wol die rechten far: got, schepfer, leucht mir Wolkensteiner klar! |
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Ich spür ein Tier mit breiten Klauen und scharfen Hörnern, das will mich in den Boden stampfen und mit einem Stoß durchbohren. Es hat seinen Rachen auf mich gerichtet, als käme ich ihm zum Fressen gerade recht. Es nähert sich schnell meinem Herzen, das es offensichtlich töten will; ich kann ihm nicht entfliehen. Ach, welch große Not! Denn alle Jahre, die ich hier vertan habe, sind zu einem (einzigen) Tag aufgehäuft. Ich bin zu einem Tanz aufgefordert, wo man mir einen großen Kranz all meiner Sünden vorhalten wird. Die Rechnung muß ich bezahlen. Aber wenn es Gott, der Eine, will, dann wird ein Strich dadurch gemacht. Erst jetzt wird mir bewußt: Dürfte ich nur ein Jahr lang noch in dieser Welt vernünftig leben, dann könnte ich in kleinen Raten meine Schuld verringern, die ich leider nun mit einem Mal in ganzer Größe begleichen muß. Deshalb ist mein Herz voll drückender Sorgen, von denen die Angst vor dem Tod (noch) die kleinste ist. Wo bist du morgen, Seele? Wer gibt dir hilfreichen Schutz, wenn du mit heißer Reue die Abrechnung leisten mußt? Ihr Kinder, Verwandte, liebe Freunde, wo ist euer Rat und eure Hilfe? Ihr nehmt das Erbe in Besitz und laßt mich allein in das Bad fahren, in dem keine Münze einen Wert hat außer den guten Werken, wenn ich solche nur angesammelt hätte! Allmächtiger, der du keinen Anfang und kein Ende hast, gib mir um deiner großen göttlichen Barmherzigkeit willen dein Geleit, damit Luzifer und seinesgleichen mich (bei der Abrechnung) nicht als Schuldner erweisen und ich dem Rachen der Hölle entrissen werde! Maria, Jungfrau, erinnere dein liebes Kind an sein großes Leiden! Der alle Christen erlöst hat, er möge auch mich nicht verschmähen; seine Passion komme mir zur Hilfe, wenn meine Seele die Fesseln des Leibes verliert. Ach Welt, gibt mir jetzt deinen Lohn, geh deinen Weg, vergiß mich schnell! Wenn ich nicht dir, sondern dem Herrn im abgelegenen Wald (als Einsiedler) gedient hätte, dann wäre ich auf dem richtigen Weg. Gott, Schöpfer, gib mir, dem Wolkensteiner, dein helles Licht! |
13. November
RAJA LUBINETZKI ![]() |
Der Tag ein Funke Zynisumus, der du das Pflaster auf den Wunden verfaulen läßt, um deine widersprüchlichen, mißverstandenen Spiegel nicht zu sehen, du, der du im Dunkeln wohnst, die Sinnflut erwartend und das Kreuz deiner Sicherheit kreuzt so beständig deinen Weg, den du hättest einschlagen können, hättest du dich nicht erwartet. Wird es nicht Zeit, dich endlich selbst auf den Arm zu nehmen? |
14. November
NORBERT VAN TIGGELEN Männertypen Ein echter Mann ist jemand, der zu Gesagtem steht - nicht einer der wie’n Fähnlein sich mit dem Winde dreht. Er macht auch schon mal Fehler, doch gibt er sie auch zu - auf andre sie zu schieben, das ist für ihn tabu. Auch kämpft er für die Ehre und das mit eignem Mut - hetzt nicht mit böser Zunge, bis es ein andrer tut. Ein Hampelmann ist jemand, der hinterm Rücken spricht, dem schon bei kleinsten Sorgen das Rückgrat gleich zerbricht |
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15. November
ULRICH VON HUTTEN ![]() ![]() |
Ain new lied herr Ulrichs von Hutten 1 Ich habs gewagt mit sinnen und trag des noch kain rew, mag ich nit dran gewinnen, noch muoß man spüren trew; dar mit ich main nit aim allain, wenn man es wolt erkennen: dem land zuo guot, wie wol man tuot ain pfaffenfeind mich nennen. 2 Da laß ich ieden liegen und reden was er wil; hett warhait ich geschwigen, mir wären hulder vil: nun hab ichs gsagt, bin drum verjagt, das klag ich allen frummen, wie wol noch ich nit weiter fliech, villeicht werd wider kummen. 3 Umb gnad wil ich nit bitten, die weil ich bin on schuld; ich hett das recht gelitten, so hindert ungeduld, daß man mich nit nach altem sit zuo ghör hat kummen laßen; villeicht wils got und zwingt sie not zuo handlen diser maßen. 4 Nun ist oft diser gleichen geschehen auch hie vor, daß ainer von den reichen ain guotes spil verlor, oft großer flam von fünklin kam, wer waiß ob ichs werd rechen! stat schon im lauf, so setz ich drauf: muoß gan oder brechen! 5 Dar neben mich zuo trösten mit guotem gwißen hab, daß kainer von den bösten mir eer mag brechen ab noch sagen daß uf ainig maß ich anders sei gegangen, dann eren nach, hab dise sach in guotem angefangen. 6 Wil nun ir selbs nit raten dis frumme nation, irs schadens sich ergatten, als ich vermanet han, so ist mir laid; hie mit ich schaid, wil mengen baß die karten, bin unverzagt, ich habs gewagt und wil des ends erwarten. 7 Ob dann mir nach tuot denken der curtisanen list: ain herz last sich nit krenken, das rechter mainung ist; ich waiß noch vil, wöln auch ins spil und soltens drüber sterben: auf, landsknecht guot und reuters muot, last Hutten nit verderben! |
16. November
HANS ASSMANN FREIHERR VON ABSCHATZ Ach Du fragst / was sagen will diß Ach! Das ich bey deiner Ankunfft sprach? Es sprach: Ach! seht die holden Wangen / Seht die beliebte Fillis an; Da kommt auff Rosen-voller Bahn Mein Tod / mein süsser Tod / gegangen. |
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17. November
RENÉ OBERHOLZER ![]() |
Annäherungsversuch Einander gegenübersitzen Am grossen Esstisch Und Listen schreiben Was macht mich glücklich Einander gegenübersitzen Auch wegen der Kinder Und Stichworte vorlesen Ohne zu unterbrechen Einander gegenübersitzen Mit kalten Gesichtern Und vergeblich hoffen Den eigenen Namen zu hören |
18. November
KARL HEINRICH WACKERNAGEL An die deutschen Dichter Setzt vom Munde nun die Flöten, Legt die Lauten aus der Hand! Seht ihr nicht den Himmel röthen Wechselsreitend Blut und Brand? Fort mit euren Rosenkränzen! Andre Zierden thun euch Noth: Denn es streicht zu andern Tänzen Nun der alte Meister Tod. Heuer ziemt der Dichtergilde Schwert zur Hand und Harnisch an, Dass der Flammenschein vom Schilde Funkelnd wiederleuchten kann. Worte ziemen euch, die wettern Wie ein Schwert im Schlachtengang; Töne ziemen euch, die schmettern Wie der Kriegsdrommeten Klang. Zierlich lispelnd, zärtlich raunend Gienget ihr so manches Jahr: Jetzt mit lautem Ruf posaunend Schreit' einher die Priesterschaar! Lasst es tönen, laßt es dröhnen! Blaset, blaset, dass es gellt, Dass in Schutt ob ihren Söhnen Jericho zusammenfällt! |
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19. November
LARS BROZINSKI ![]() |
Black Shuck Eine Homage an den Erlkönig Seine Liebste im Arm, läuft er durch die Nacht Der Mond, der Nebel, die finstere Macht Ihr Blut rast durch den Körper schnell Von Fern tönt des Totenhundes Gebell Die Frau fröstelnd und zitternd sagt Das Heulen des Hundes mir Angst einjagt Der Mann denkt sein Schwarm halluziniert Kein Hund heult, sie hat sich geirrt Er eilt schnell Richtung zu Hause Und nun wird's auch ihm zu Grause Als sein Alles zu ihm sagt Lauf schneller, des Hundes Welpe an mir nagt Er schreitet durch dunkle Gassen Da die Sinnbilder auch ihn erfassen Den Mann packt die Angst Das Tier nun auch ihn umtanzt Unaufhaltsam trägt er sie weiter Die Furcht bleibt stetig sein Begleiter Endlich am Hause, das Licht brennt rot Er küsst seinen Liebling, doch sie ist tot |
20. November
GUIDO MORITZ GÖRRES Der Morgen am Rhein Wir strahlt der Himmel helle! Wie golden pellt die Welle Im Morgensonnenschein; Wie wehen frische Lüste Des Frühlings Blütendüfte In deinem Tal, o Rhein! Ein Schifflein kommt geflogen, Die Segel aufgezogen Wie Alpenschnee so weiß; Und die die Ruder schwingen, Die lachen froh und singen, Der Becher geht im Kreis. Der Lahme mit den Krücken, Der Greis mit krummem Rücken, Die sitzen vor der Tür; Es schallt des Küfers Hammer, Und lachend aus der Kammer Tritt seine Frau herfür. Wie flink die Jungfern spinnen! Wir blendend strahlt ihr Linnen Auf grüner Bleich am Rhein: Ein Fuhrmann knallt von ferne, Er ruft dem Wirt vom Sterne: Die Pferde stellt mir ein. Im Baume singt der Finke, Die Dirne springt, die flinke, Den Milchkrug auf dem Kopf! Sie ruft: Spinat und Eier! Und Butter gar nicht teuer, Und Rahm im blanken Topf. Dann heller Pfeifen Gellen, Kommandowort und Schellen, Die Knaben spielen Krieg; Die Mädchen stehn in Gruppen, Sie tanzen mit den Puppen, Und rufen neckisch: Sieg! Jetzt zieht ein Hochzeitreigen, Geschmückt mit Myrtenzweigen, Vorbei im Jugendglanz; In Freude Alle schwimmen, Die Musikanten stimmen Die Geigen schon zum Tanz. So hatte mich umgeben Mit Licht und Lust und Leben O Rhein! dein Sonnental: Da lag im Duft der Reben Ein Frühlingstraum das Leben Vor mir im Morgenstrahl! |
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21. November
ULI BECKER ![]() |
Wie Dichter das machen Den Asphalt grau tret ich mit Füßen, beiß aber grad so gern ins grüne Gras und kehre heim und spanne den Bogen in meiner Maschine: Sowohl – als auch, ist beides mein Stoff, das Rohe wie das Hartgesottene, und wer bestimmt, man könne nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, bei zwei Begräbnissen flennen? Des Dichters Tag- und Nachtwerk ist die stete Kümmerei, und zwar um dies genau wie um das, um beides zusammen mit süßsaurem Lächeln zu verwursten. Die späte Tagesschau noch und ins Bett und sehn, was anliegt oder schmiegt – so funktioniert das: Eine Hand am Puls der Zeit, die andere am Arsch der Welt. |
22. November
JOHANNA ELISABETH VON BADEN-DURLACH Von der Teutschen Sprach Wann eine Sprache man mit fremden Worten schmücket, so scheint sie wie ein Weib, die ihr Gesicht geferbt; wann man es recht besieht, so ist es ganz verderbt, so ihrer zarten Hautt nur endlich Schaden bringet. Die teutsche Sprach ist den andern Sprachen gleich, und weren sie von Wort und Klange noch so reich, drum lasst uns unsere Sprach in unserer Sprache reden. |
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23. November
JOHANNES HADLAUB ![]() |
Im grünen Klee In dem grünen Klee Sah ich die holde gehn; Ach, wie ward mir wonnevoll! Aus dem Blütenschnee Fühlt eine Glut ich wehn, Die hinein ins Herz mir quoll. Sie, die Blume, Und die Blumen klein Leuchteten einander an mit Ruhme, Dass die sonne hell aufging - Nie umfing Mich so lichter Schein. Hilf mir, Herrin gut, Durch deine Würdigkeit, Dass ich nicht verderbe so. Deine Kälte tut Mir an so bittres Leid, Dass ich niemals werde froh. Deine Güte Sinke sonnenklar Und erwärmend mir in mein Gemüte, Lass verschwinden deinen Hass! Tust du das, Bin ich sorgenbar! |
24. November
CAROLINE HARTGE Eden, Cherub eden ist ein weißes pferd reiten eden ist unheimlich schön eden sind weite netze im fluss & die fische darin eden ist das ende der wünsche das fest anstelle der gaben eden ist das ende vom warten die zeit ist JETZT, eden eden ist das ende der angst schmerz ist der bruder der freude eden ist hinter den worten der schlüssel ist ein dietrich, das weihwasser schweiß das Paßwort ist |
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25. November
CARL IMMERMANN ![]() Das Grab auf Sanct Helena "Vernimmst du Menschenkind des Kaisers Spruch, Und wenn du ihn verkündest, sag: ich hätt's gesagt: Regierte Recht, und gälte heil'ger Ehre Pflicht, So bleichte nicht in Afrika mein mürb' Gebein. Vielmehr, es schwärm ein Schiff, gewiegt im Abendwind, Einst still heran durch purpurdunkle Meeresflut. Und von dem Gast des Schiffes weht' in ernstem Schwarz Herab der Trauerflagge Tuch bedeutungsvoll. Ein schöner Jüngling aber ständ' auf hohem Deck, Zu vordert, hieher schau'nd mit Blicken, thränenschwer, Und spring', der Erste, von dem Schiff auf diesen Fels. Und nach Hudsgate hin wallt stumm die fromme Schaar, Geführt vom Jüngling; ab vom Grabe fliegt der Stein, Der Jüngling aber steigt in's Grab, in Vaters Grab, Und küst des Vaters Sarg, und ruft: Jetzt hebt ihn auf! |
Da schwebt der Sarg empor an's Licht! Die Treue trägt, Und Kindesliebe bringt den Sarg an Schiffes Bord. Nun steu'rt der Kiel, aus dessen Raum manch Heldenlied Die Wolken grüßt, zurück zum Land, um das den Zorn Der Völker einst ich trug, und trage Gottes Zorn; Zum vielgeliebten Frankreich kehrt das Trauerschiff. Dort harrt am Ufer allbereits unzählig Volk, Willkommen! jauchzt die Menge mir, die schluchzende, Und schluchzend küßt sie, jubelnd doch, des Kaisers Staub. Da wo der Seine goldne Flut durch Reben wallt, Im Angesicht des Schlosses, wo ich gern gehaust, Erhebt ein Hügel sanft gewölbt sein blühend Haupt. Die Primel stickt, das Veilchen säumt des Hügels Gras, Und lieblich weht darüber hin der Rosen Glut, Und in den Rosen singt und klagt die Nachtigall. Da graben zwölf weißlock'ge Krieger, die mein Stern Durch Syriens Pest geführt und Moskaus mördrisch Eis, Mein mir geziemend wohlverdientes Heldengrab. Den Vater senkt der Sohn zur Ruh; der Greise Rohr Schickt mir hinab, hinein zur Gruft den Feuergruß. Und wie die Erde schollernd fällt, und füllt das Grab, Spricht feierlich ob meinem Rest der Alten Mund: Seht keinen Stein, kein Denkmal ihm, denn Jeder weiß, Daß Er hier ruht, und wer ihn nennt, der kennt ihn auch. — So würde mir Bestattung noch, regierte Recht, Der Todten heilig, nie zu beugend Todtenrecht. Nun zehrt das Volk von meines Ruhms Verlassenschaft, Und jammervoll, jenseit der letzten Menschen Blick Verwest des Kaisers todter Leib am öden Meer. Durch alle Zeiten, merke dir's, fordr' ich mein Grab In meinem Haus. Und von dem Land, das ich verlor, Gebühren mir in alle Zeit sechs Schuhe doch!" |
27. November
JOHANNES SECUNDUS Der 14. Kuss Wozu bietest du mir die Flammenlippe? Nein, ich will dich nicht, will dich nie mehr küssen, Harte, härter als Marmor hart, Neaera. So hoch soll ich, du stolze, diese deine Nichts bedeutenden Küsse schätzen, dass ich, Mit dem Fleische so oft zu dir erhoben, Mir und dir das Gewand durchbohre, und von Nie befriedigter Sehnsucht beinah rasend, Ach, mit pulsender Vene elend schmelze? Wohin fliehest du? Bleib! Versage mir nicht Deine Augen und deine Flammenlippe. Ja, ich will dich ja, will dich wieder küssen, Weiche, weicher als weiche Gänsedaunen. |
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28. November
RICHARD PIETRASS Die Gewichte ![]() |
Die Muttermilch und das Vatererbe. Mein Hunger nach Leben und das Wissen zu sterben. Der Gang zum Weib, der Hang zum Wort. Der Keim der Reinheit und wie er langsam verdorrt. Das Strohfeuer und der glimmende Docht. Aufruhr, der auf Gesetze pocht. Die heillose Fahne im bleiernen Rauch. Galle, verschluckt im Schlemmerbauch. Die Statuten des exemplarischen Falls. Mein niemals vollgekriegter Hals. Der säuernde Rahm, der flüchtige Ruhm. Die Grube und die Gnade postum. |
29. November
JOHANN GEORG JACOB In der Mitternacht Todesstille deckt das Tal Bei des Mondes falbem Strahl; Winde flüstern dumpf und bang In des Wächters Nachtgesang. Leiser, dumpfer tönt es hier In der bangen Seele mir, Nimmt das Strahl der Hoffnung fort, Wie den Mond die Wolke dort. Hüllt, ihr Wolken, hüllt den Schein Immer tiefer, tiefer ein! Vor ihm bergen will mein Herz Seinen tiefen, tiefen Schmerz. Nennen soll ihr nicht mein Mund; Keine Träne mach' ihn kund; Senken soll man ihn hinab Einst mit mir in's kühle Grab. An des Todes milder Hand Geht der Weg in's Vaterland; Dort ist Liebe sonder Pein; Selig, selig werd' ich sein. |
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30. November
NORBERT STERNMUT Man hörte deinen Schrei / Nicht. ![]() |
Im Kreis, Hirnstaub, Poet Mit der zitternden Lippe, Atmest leiden, Herzblut Pulsiert ins Blaue, Blütenhoffnung, Abgedeckte Abdeckung. Beludst die Traumkammer, Du Phantast Im sinkenden Schiff, Fuhrst mit dem Boot Kirschblüten entlang, Schriebst noch schnell Ein paar Worte, Verfall, SPRACHSCHATTEN, Beizeiten abgedeckt, Verloren nicht nur Die Bäume Ihre Identität. |