1. Dezember
HOFFMANN VON FALLERSLEBEN Das Lied der Deutschen Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt, Wenn es stets zum Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält, Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt - Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt! Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang, Uns zu edler Tat begeistern Unser ganzes Leben lang - Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang! Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand - Blüh im Glanze dieses Glückes, Blühe, deutsches Vaterland. |
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3. Dezember
LEA SCHNEIDER ziegen es gibt sie hier überall, wie einen geruch, der aus dem boden kommt. zwischen ihren hörnern verstecken sie je ein schwarzes loch. an dieser stelle sind sie nicht besonders tief und können ohne offizielle genehmigung betrieben werden; man sollte sich ja auch nicht an fakten halten, wenn es nur so wenige davon gibt. die lokale bevölkerung weiß, wie man mit lücken umgeht, kapital aus ihnen schlägt: die futterbäume in der näheren umgebung wurden bereits von der vorletzten generation abgeerntet, daher das ziegenmonopol. wie jede etablierte ideologie legitimiert es sich durch das allgemeine vergessen seiner entstehung. die gegenwärtige situation entspricht also unveränderlich dem naturzustand, der eine lücke ist, die man mit ziegen füllt. einmal im jahr werden alle zusammengetrieben, ein großes erntefest für die materie, die sich in ihnen verfangen hat. und ansonsten denkt man eher wenig darüber nach. |
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5. Dezember
MARTIN GANTER Salamis ![]() |
Nacht noch! Noch hüllt der Schlaf die Griechen ein. Noch geht des Hermes Fuß um jedes Haus: "Schlafet! Schlafet und ruht euch aus! Ihr alle werdet morgen Sieger sein!" Aus ihren schweren Kähnen überm Sund Der Perser Augen spähn und ruhen nicht, dass nicht ein Griechenboot ins Freie sticht geheimen Weges durch der Nächte Schlund. Doch wie der Arktur fällt und an den Strand Klatschen des Meers unruhvolle Wogen, und Nebel kommt mit frischem Wind gezogen: Da stößt der Griechen Schiffsmacht ab vom Land, den Paian singend bei der Ruder Schlag. Und über Salamis geht auf der Tag. |
6. Dezember
MARKUS BREIDENICH Landtage Zur Wahl stand hier nie das Grün. Jahrhunderte lang sind die Bäume auch ohne Vogelstimmen gewachsen. Hin und wieder muss einer mit der Axt die Krone zum Einlenken bewegen. Sonntags geht man Blätter durch, die in Briefkästen flattern. Die Kirche will an einigen Waldwegen Kreuze machen. Als sei es nicht Bürokratie genug, Woche für Woche etwas in die Urnen zu legen. Wind geht. Man findet hier, wenn es nicht so ist, wenig Zerstreuung. Und kaum jemand merkt, wenn es wächst. Dieses Wurzelwerk. Beim Aufstellen der Kandidaten. Man wird sich wohl ein wenig mehr als bisher einmischen. |
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8. Dezember
FRANZ JOSEF CZERNIN feuer, sonett ![]() |
uns zündend selbst, doch wund gescheuert, wild gemacht durch all dies zeug, so bissig, heiss davon geritten, schmerzhaft anspannen, -spornen dies, dadurch entfacht, entfesselt uns, doch stehn auch, sattelfest, inmitten von flammen, ziehn den kreis: sind stoff, der treibt wie brennt, brechend die bahn, da brand die rede hoch uns schwingt, lostreten das, was züngelnd übergreift uns, -rennt von haupt bis schwanz, doch auch gezäumt, dass dies entringt einlenkend wie ausschweifend sich; auflodernd gehn durchs eigne feuer jetzt, versprengt fast ausser band ja, rand, doch bringen dies zum punkt, die runde drehn: uns geben, nehmen überkopf, ja -hals wie -hand, rings übertragen, -springen, doch auch wörtlich im geschehn, fast zügellos, es halten, hellauf selbst, gebannt. |
9. Dezember
MARTIN GREIF Herbstgefühl Wie ferne Tritte hörst du's schallen, Doch weit umher ist nichts zu sehn, Als wie die Blätter träumend fallen Und rauschend mit dem Wind verwehn. Es dringt hervor wie leise Klagen, Die immer neuem Schmerz entstehn, Wie Wehruf aus entschwundnen Tagen, Wie stetes Kommen und Vergehn. Du hörst, wie durch der Bäume Gipfel Die Stunden unaufhaltsam gehn, Der Nebel regnet in die Wipfel, Du weinst, und kannst es nicht verstehn. |
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10. Dezember
AXEL KARNER gwolt I ![]() |
es wead noch vül schiacha sein se weand da ols lebendiga de haut obziagn aus de zähnd stana brechn und mitn fleisch ziagl brennen noacha east treibns di in kotta und tuand da liab |
11. Dezember
CARL-CHRISTIAN ELZE sommerfliege an einem augustabend im jahr 2016: eine sommerfliege die ihr nachtmahl verzehrt, auf einem baugerüst am palazzo dario, ohne begleitung von menschen. mit ihrem spärlich behaarten, vorderen beinpaar stemmt sie sich gegen den getrockneten kot einer möwe dirigiert ihren tupfrüssel, der alles befeuchtet, verflüssigt. zwei venezianische lippenpölsterchen mit einem system von winzigen rinnen, versteift mit noch winzigeren spängchen, beginnen lautlos zu saugen – die sonne versinkt. für sekunden stehn alle fenster in flammen, ist jede scheibe lodernd orange! – manchmal innehaltend im tupfen und herabblickend auf die vorbeiziehenden dunklen gebilde, tausendfach gebrochen im optischen kessel ihrer glasleuchteraugen, erweckt die speisende den eindruck einer kleinen touristin oder dogaressa oder geisterjägerin die durch die zeiten irrt. |
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12. Dezember
ALFRED KOLLERITSCH Epigramm ![]() |
Dir gibt das Verweilen Sanftmut, sie ist die Überraschung der Strenge, die nichts bleiben lässt. Du bist, was du verlierst, was dir niemand bestimmen darf. Das seit Anbeginn Gelebte, wir sind es ganz und der Teil davon Das dunkelgrüne Kamelienblatt in deiner Hand übersetzt sich selbst: Das Blatt bist du, vergiss die Blüte. |
13. Dezember
HANNLIES TASCHAU Es geht mir gut schrieb ich Hauptsache Paris Ich bewohne eine Schicht Kaffeeluft zwischen zwei Etagen in der Rue Cassette Ohne Stuhl ohne Tisch Niedrige Betten sind Mode Tisch brauch ich keinen Ihr wisst wenn ich schreibe liege ich auf dem Bauch |
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14. Dezember
HEINZ PIONTEK ![]() |
Unablässiges Gedicht Geschrieben, vergessen - am Schuh reißt der Bast. Nichts je besessen, was du vergeudet hast. Leuchtspur der Städte, Orangen im Rock. Zeit springt wie grüne Glätte vom Rosenstock. Vieles verschwiegen: Wacholderhauch, das graue Fell der Ziegen schleift östlichen Rauch. Da es ersonnen: Was gilt es dir? Die Welt bleibt begonnen auf dünnem Papier. Papier, schwarz im Feuer, ein Ruch dann von Leim, aus Luft bald ein neuer flüchtiger Reim. Nichts je besessen -: das machte dich reich. Schreiben, vergessen gilt gleich. |
15. Dezember
FREDRIK VAHLE Gedicht vom Ich Ich bin ich, na klar, oder nicht? Ich bin ich, kann jeder Mensch sagen Aber wer oder was ist denn nun ein 'Ich'? Schon bin ich mittendrin im Fragen. - Wo fängt ich an? Wo hört ich auf? Ist 'Ich' immer gleich, ob ich sitz oder lauf? Ob ich sieben oder siebzig bin? Ist mein Körper das 'Ich', oder steckts mittendrin? In der Brust, im Herz, oder unten im Bauch, im Kopf, im Verstand sitzt es ganz oben drauf? Oder wohnt es mitten in meinen Gefühlen vielleicht sitzt es irgendwie zwischen den Stühlen und weiß selber nicht, was es eigentlich ist, Wenn's mir fehlt Von wem wird das Ich dann vermisst? Steckt mein Ich auch in meinem kleinen Zeh Ist mein Ich auch in meinem eigenen Haar? Ich fasse es an na klar ist es da. Und schneidet mir der Frisuer klipp klapp einfach von meinem Ich etwas ab? Und dann der Zaharzt ojeoje Mein Ich das schrmpft wenn ich zu ihm geh So ein kleiner Schmerz ja das geht ja noch Doch findet der in meinem Zahn dann ein Loch oder zieht einen Zahn der kommt niemals zurück. Fehlt dann vom Ich nicht ein kleines Stück? Und etwas, was ich auch gern wüsst': Wenn jemand vor Glück ganz außer sich ist - 'außer sich' heißt doch raus aus dem Ich. Manchmal versteh ich mich selber nicht. Jemand ist außer sich vor Wut - bleibt das Ich dann bei sich und es geht ihm ganz gut? Hab ich Sorgen und Angst bis über die Ohren wird mein Ich so klein als hätt ichs verloren Und muss ich was tun was ich gar nicht mag, dann jammert mein Ich den ganzen Tag Du musst, du sollst, du sollst, du musst Das Ich verschwindet es hat keine Lust Und wer viel Geld hat hat der auch viel Ich? Und wer wenig hat, der hat's eben nicht? Vielleicht hat das Ich auch was ausgeheckt, sich als blaues Männchen sich in mir versteckt, lacht wie's Rumpelstilzchen, Sagt: Such nur, such! Kauf dir ein kluges Ich-findungs-buch.. oder auch dreizehn, davon gibts genug, mach dich auf die Suche nach deinem Ich, suche und suche, du findest es nicht. Es ist kein Persönchen, hat kein Gesicht, wenn du's finden willst, dann suche es nicht... Du bist mit allem dein Ich, was du tust, wie du gehst, wie du atmest wachst oder ruhst, wie du hörst, wie du siehst, wie du riechst, wie du schmeckst und dir nach dem Essen die Lippen leckst. Wie du fühlst was du selbst und was andere sind Kalt und warm warm und kalt Welle Wasser und Wind Dein Ich brauchst du gar nicht gesondert zu suchen. Das ist philosophischer Käsekuchen. Du bist, was du bist in deinem Leben. Dich kann's auf der ganzen weiten Welt so, wie du bist nur einmal geben. Es ist, wie es ist, Punkt Komma und Strich: Viele Grüße von meinem - an wen? An dein Ich. |
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16. Dezember
JÜRGEN NENDZA ![]() |
Wie ein Luftschiff Wie ein Luftschiff zieht plötzlich Küstengeruch über das Haus: Eine kleine Verschiebung in Faltungsvorgänge. Unter uns Fluten, Sedimente. Darüber verrutscht dein Kleid, die Stoffbahn gegen die Laufrichtung gespannt, getrennt unser Raum: jedes Wort versetzt uns, verallgemeinert, was du nicht sagen kannst. Aber es bleibt dieser Geruch: Die Küste gibt nicht auf, erscheint im Oberlicht über der Tür: erzählt, daß die Liebe Wanderdüne sei, vom Wind gezäumt ins parzellierte Aber. |
17. Dezember
PETER HUCHEL das Grab des Odysseus Niemand wird finden das Grab des Odysseus, kein Spatenstich den krustigen Helm im Dunst versteinerter Knochen. Such nicht die Höhle, wo unter die Erde hinab ein wehender Ruß, ein Schatten nur, vom Pech der Fackel versehrt, zu seinen toten Gefährten ging, die Hände hebend waffenlos, bespritzt mit dem Blut geschlachteter Schafe, Mein ist alles, sagte der Staub, das Grab der Sonne hinter der Wüste, die Riffe voller Wassergetöse, der endlose Mittag, der immer noch warnt den Seeräubersohn aus Ithaka, das Steuerruder, schartig vom Salz, die Karten und Schiffskataloge des alten Homer. |
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18. Dezember
ÖZLEM ÖZGÜL DÜNDAR ![]() |
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19. Dezember
SEBASTIAN UNGER Gegenseitige Verschlingung unbelebter, auch teilbelebter Vorgänge [1] Ihr Sturz aus der Gewölbedecke Wellendeckung, eine einstudierte Plötzlichkeit auf den Waldwegen als die Kiefer ihrer eigenen Baumhöhe entgegenspringt. Gewahrsam wie der Fisch dem baugleichen Beutefisch auflauert bei aufwärtsgerichtetem Blick, bis in diesem Körper schlagartig das Fremde haust, Höhe z.B. als umgedrehter Fall der bucklig zu sich heimkehrt von weiter Strecke [2] Dass die Kiefer ohne Auflastung auf dem Fuß des Betrachters steht, ein reiner Windbaum der sich nach oben in die Treibnadeln versenkt das eingelassene Bad eines kilometertiefen Nachmittags ohne einen Spritzer lässt sie ihr Tierwappen blitzen die nur mit Himmelsbläue eingebeizte Haut der nachgezogenen Flosse: so zu sterben dressiert auf mittelozeanische Einsamkeit am Ende sind die Kunststücke da draußen die besten das Einschlagsecho von Ast und Stamm bei ruhiger See und ruhigen Händen [3] Ein Blendwerk heimisch und monströs: der Unschuldslatz, den die Pflanzen umhaben, Borke oder Leinen dabei bekleckert mit Lichtflecken von oben bis unten hier ein Sprengsal trocken vom Kalender geschabter Rotschuppen in Dörrsimulation die Kiefer, bis ihr Wind hineingreift mitten ins Gebiss wie Großstücke aus ganzen Beständen von Tagen verschwinden im Fangschild die fleißigen Reusen und Tuch drüber kurzes Knacken: das Junigenick in der Nähe des Zauns und beiläufig leises Nachpoltern zwischen den Baumreihen völlig armlos, strammes Luftanhalten, Niemands- |
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20. Dezember
GÜNTER EICH Ausfahrender Zug ![]() |
Bank und Wand beginnen sich zu rühren, reiben sich und ächzen pausenlos und die Griffe in den losen Türen klappern mit im ersten Schienenstoß. Ach, als Flocken durch die Ritze treiben spür ich von der Angst der Welt mein Teil, rötlich wandert durch verklebte Scheiben Bogenlampenlicht durch das Abteil, tastet über Hut und Mantelfalten, bis es kurz die Gegenwand erhellt. Manchmal glaub ich noch die Welt zu halten, wo sie rings schon auseinanderfällt. |
21. Dezember
PETER RÜHMKORF Ach, wär ein Ich Variationen über Trennungsstriche in Liebe und Lyrik Ach, wär ein Ich und nicht nur dieses Äch- zen von gestanz- tem und verspanntem Blech, nicht nur das Quiet- schen ausgefranster Bowdenzüge, lieber ein Lied- chen, das mich außer Landes trüge, am liebsten Liebe, die - wie kurz sie sei - statt hier bei Brunch mit Lie- und Bi-Bedienerei, Mundwinkelküssen, achtlos appliziert, auf Stehimbissen, wie? von wem? ich weiß nicht, eingeführt - Ach, wär ein Ich, und Ihr, Madame, mit mir zusammen im Gesträuch: ich e i n m a l rich- tig in und Ihr gesammelt außer Euch. |
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22. Dezember
KERSTIN PREIWUSS Die Windsbraut schläft in mir ![]() |
Die Windsbraut schläft in mir. Ein schaukelndes Embryo in jeder Ohrmuschel. Wie beruhigt mich dass sie sich bewegt. Ich bin gut aufgehoben egal was in mir tobt. Die Windsbraut hat sich in mein Ohr gelegt. Übers Jahr ist es umgekehrt. Der Wind schläft draußen mit mir. Der Wind ist draußen. Ich bin allein. So klingt Verlassenheit. Ich weiß dass das ein Mythos ist. Was in mir tobt bin ich. |
23. Dezember
ROBERT REINICK Christkind Die Nacht vor dem heiligen Abend, da liegen die Kinder im Traum; sie träumen von schönen Sachen und von dem Weihnachtsbaum. Und während sie schlafen und träumen, wird es am Himmel klar, und durch den Himmel fliegen drei Engel wunderbar. Sie tragen ein holdes Kindlein, das ist der Heil’ge Christ; es ist so fromm und freundlich, wie keins auf Erden ist. Und wie es durch den Himmel still über die Häuser fliegt, schaut es in jedes Bettchen, wo nur ein Kindlein liegt, und freut sich über alle, die fromm und freundlich sind; denn solche liebt von Herzen das liebe Himmelskind. Wird sie auch reich bedenken mit Lust aufs allerbest’ und wird sie schön beschenken zum lieben Weihnachtsfest. Heut schlafen noch die Kinder und sehn es nur im Traum, doch morgen tanzen und springen sie um den Weihnachtsbaum. |
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25. Dezember
RONYA OTHMANN womit soll man beginnen womit soll man beginnen, wenn man die monde abgelaufen ist wie ein alphabet. mit diesem weiler, dieser hofleere, zwischen scheune und wald, nicht mal wind und. was der nebel hervorwürgt, hängt am morgen in den gräsern. eine feuchte, eine schwere, dein in der mitte geteiltes haar. es sickert und ich streiche aus, fades licht. ich schlucke nicht. worauf ich warte, tritt nicht ein. mit welchem pronomen soll ich dich versehen und zu welchem ende soll ich atmen. ein zucken in den halmen, bevor ich vergesse, von welchem tier oder war da eins. in der ferne ein gewitter, das sich in sich zusammenzieht und wohin. du zählst, ein abgebranntes haus und darin war nichts außer ein bett, ein stuhl, ein tisch und mein bett, mein stuhl, mein tisch. mein schlaf ist in eine schieflage geraten. von da an lässt sich nicht bleiben, nur fragen. wohin trägt man diese gegend. und womit füttert man den nebel. |
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26. Dezember
TRISTAN MARQUARDT beine wie gitter ![]() |
beine wie gitter, als hätten die bäume zu gehen verlernt. ritz in die rinde, versuch dich zu erinnern. als der häftling seinen mund öffnete, begann die naturkunde zu schweigen: präpariertes laub, das sich auf fassaden ausbreitete, fenster, feinste mechanismen der luftzufuhr zu einer zoologie der pflanzen. zellen. oder lichtungen von oben, erogene zonen des walds, deren umsiedlung zum bleiben verführte. kaum, dass die gewebe sich im sitzprotest befanden, begann die blatt- werdung der äußeren schichten: haut der gebäude, häutung, gezähmtes grün, zog sich fell über, wärmte fortan. schutz ums schmerzgedächtnis. narben schlossen den geöffneten bereich. |
27. Dezember
JÜRGEN THEOBALDY Vor der Pension Für Jannis Ritsos Nachts trocknen die Straßen aus, jede Nacht. Geröll sammelt sich im Rinnstein, Geröll, das die Farben übrigließen, der Mittagslärm, die fettbeschlagenen Scheiben, die Autos, all die Autos... Kein Wind geht, und doch, etwas strömt um die Häuser, etwas, das kein Zeitungsblatt im Staub aufwirft, das nicht stärker rauscht als das Blut in den Ohren. Starkes Licht steht in der Taverne, und die Mauer hindert es, auf die Tische vor der Tür zu fallen. Wie lange ist es her, daß ein Gewehrabzug knackte und mondgraue Trupps hier um die Ecke drängten, Athen? Jede Nacht um elf kommen sie an diesen Tisch, der mächtige Alte im Burnus, mit Fäusten groß wie der Kopf des Kinds, das ihn mit sich zieht. Ich sehe die beiden schmausen, immer für sich, Hammel mit Bohnen und Brot und Wasser. Und jede Nacht nach zwölf gehen sie davon, zu welchem Lager hin, er, in Schuhen, ohne Strümpfe, das Mädchen barfuß? Aus den Fingern meiner rechten Hand zieht eine schmale Spur Blut durchs Notizbuch. Ich halte den Atem an. Weit weg entfernt sich das Rasseln des Panzers. |
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28. Dezember
TOM BRESEMANN in tante ilses zimmer 1 wo das dorf der onanisten träumt sich reinheit, zierde und zufriedenheit, das glück zu den linnen, den schlüpfrigen stellen der schrift 2 wer war zuletzt in tante ilses zimmer? die zornigen zeichen. das ist verdolmetscht, die im haus sind leuchten nachts zum fenster raus, in tante ilses zimmer mit dem groben tuch im maul, und ärgert dich dein rechtes aug, so reiß es aus und wirfs in tante ilses zimmer. 3 wo das schweineleder hängt, in tante ilses zimmer, stehn die fettkartuschen schmiere in der dunkelheit. du liebes herzblatt immertreu, sie sagen tante ilse ist schon lange tot, das schwein. |
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29. Dezember
GERHARD FALKNER entwurf einer demolation ICH BIN ES, der Dichter, ich bin es nicht wert, daß man mir den Dreck hinterher wirft, den ich von mir gebe, ich bin, so steht es auf dem Papier, die Gestalt, an der die Sprache sich abwischt, der Dauergast in ihren Elendsvierteln es ist so einfach meinem Hirn über die Schultern zu gucken und auf die gestirnte Leere zu blicken die mein Denken überschattet was immer ich anschneide ist allein schon dadurch blamiert bis auf die Knochen kaum mache ich den Mund auf schon schallen mir die glücklichsten Zeiten entgegen (glücklich im Sinne von unglücklich) ich drücke die Türklinke ich öffne ein Schubfach, Nacht schlägt mir entgegen aus dem Schubfach, Apfelduft und Nacht. Immer wieder entschlüpft etwas Dunkles, für das ich zu flach bin. zu unbekannt, zu geboren. Ich möchte einen schlafen gehen aber wer bin ich, das zu wollen Ich greife zum Haar, das Haar brennt nicht, keine Flammen, kein Nachmittag, an dem jemand stirbt, stirbt an seinem bisher, stirbt an der Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. (eine Frage, die dasteht, wie gedruckt!) ich liege im Zimmer die Welt ist aufgeblasen wie ein Ball die Augendeckel sind hochgeklappt. Draußen stehen die Bäume, die grünen Bläser abgeriegelt von den Geigenklängen dahinter der große Hintergrund meines Lebens hell und hohl da endlich betritt sie das Zimmer sie, die in jeder Frau sich wiederholt sie, die dasteht wie gedruckt sie, die mich sieht und nicht vielmehr nicht sieht. Zwischen Tür und Angel entdeckt sie ihre Neugierde sie legt ihre Hände voller Virtuosität auf ihre Rippen, Rippen, die sie hungrig und kurzlebig erscheinen lassen. Er, der über sich selbst hinaus auch noch ich ist, sieht das, sieht wie sie fragt: was geht hier vor? Er sagt ich sage: halb drei! und ziehe durch diese Zahl eine tote Hortensie. Da erzählt sie: Mein schmaler Gatte kommt auf mich zu und sagt: sei froh, daß du tot bist. Für mich, sage ich, sagt sie, bin ich nicht tot, für mich ist es nur spät, schon halb drei die Stunden sterben wie die Fliegen sie fragt, was geht hier eigentlich vor ich sage, ich werde gerade selbstbefriedigt! damit beginnt der Abstieg aus der Höhe der Reflexion in die Tiefe der Befleckung. Aber, sagt sie, das geht nicht ich bin doch kein Sack, den man sich in die Tür hängt ich werde jetzt heiraten gehen ich geh auf die Straße und heirate ich aber, ich kann nur beteuern: ich habe das Gedicht nicht gewollt, wie ein Vers liege ich nachts auf dem Rücken, aufgedeckt, nicht zuende gedacht, wie ein trockener Teebeutel, wie das herunterhängende rote Ende eines nicht mehr dichtbaren Gedankenfadens |
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30. Dezember
JOACHIM SARTORIUS Der Kultstein von Kouklia Es ist ein Meteorit. Ein Steinbrocken, dessen Feuer beim Aufprall erlosch. Die dünne gläserne Schmelzrinde erinnert an dieses Zusammentreffen von Himmel und Erde, sie zieht die Suchenden an. Er ist unansehnlich, graugrün statt schwarz, die Kegelform nicht regelmäßig, ein Idol, das keinen Reim gibt auf die schöngestaltige Schaumgeborene. Es wird das Geheimnis der Wallfahrt sein. Die hohen, sich selbst tragenden Säulen, gekrönt vom Doppelhorn, sind auf Münzen zu sehen. Das reine Feuer, das zum Himmel stieg, müssen wir uns denken. Wir wandern um den Glassturz. Vor dem Museum donnern Lastwagen, beladen mit antikem Marmor, über die Straßen der Erinnerung. Der Stein kann nicht berührt, nicht geküsst werden. |
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31. Dezember
DAGMAR LEUPOLD Neu-Englands Töchter Portsmouth, New Hampshire, im Sommer ![]() |
Wie aus alten Gemälden schauen sie uns an: weiß und rot, mit lauem Fleisch und fahlem Haar, das geflochten auf schmalen Schultern lastet. Wie Glas der helle Blick auf ferne Wasser, den die lange Geschichte nicht trübt. Die weichen, runden Arme sind blasser, die Hüften ruhiger, schwer. Es gibt eine Anmut in ihrer Trägheit gleich der des Schlafs oder stiller Lügen, der wir uns wortlos fügen: als wäre das die Seligkeit. |