Politischer Auftragsmord




Mörder

Wohl selten hatte ein Mann und Mörder so viele Identitäten.
War er wirklich Ramón Mercader, Jaime Ramón Mercader del Río, geboren 1913 in Barcelona, gestorben 1978 in Havanna?

Sehen Möder so aus oder eher so?

Im August 1953 soll nach einem Fingerabruckvergleich seine wahre Identität entdeckt worden sein.
Am 6. Mai 1960 entlässt ihn die Jutiz Mexikos aus dem Gefängnis, tschechoslowakische Behörden stellen ihm einen Pass auf den Namen Jacques Vendendreschd aus. Der Mörder reist zuerst nach Kuba, wo ihn Castro willkommen heißt. Dann lebt er in Prag und in Moskau, angeblich auch in der DDR. Nach seinem Tod 1978 in Havanna - dort verbringt er die letzten Jahre seines Lebens - lässt seine Witwe ihn in Moskau unter dem Namen Ramon Iwanowitsch Lopez beisetzen.
Ramón Mercader, geboren 1913 in Barcelona, verbringt den Großteil seiner Jugend in Frankreich. Er ist begeisterter Kommunist, und gründet eine kommunistische Organisation, wird 1935 verhaftet und 1936 wieder entlassen. Die Sowjets werben ihn für den NKWD an, er kämpft im Spanischen Bürgerkrieg, führt im Hinterland der Franco-Armee Partisanenaufträge aus.

Attentat



Das ins Visier genommene Opfer Trotzki (auch das ein falscher Name) lebt mit seiner Frau Natalja Sedowa seit 1937 in einem Vorort von Mexiko-Stadt.



1938 erschleicht sich Mercader als vorgeblicher Sohn eines belgischen Diplomaten unter dem Namen Jacques Mornard in Paris das

Vertrauen von Sylvia Ageloff einer amerikanischen Anhängerin Trotzkis. Er fährt mit ihr in die USA, wobei er mit einem gefälschten kanadischen Pass auf den Namen Frank Jacson einreist. Das Paar verlobt sich und lebt eine Weile in New York City.

Im Oktober 1939 trifft Mercader in Mexiko-Stadt ein, um im Auftrag Stalins den Mord auszuführen. Über Sylvia, die zeitweilig als Trotzkis Sekretärin arbeitet, lernt er das französische Ehepaar Marguerite und Alfred Rosmer kennen, das Trotzkis Enkel Wsewolod Wolkow aus Paris nach Mexiko gebracht hat. Um die Rosmers zu besuchen, bekommt er Zutritt zum Anwesen Trotzkis und trifft dort am 28. Mai 1940, also nur wenige Tage nach einem ersten, erfolglosen Attentat durch andere, zum ersten Mal auf ihn. In der Folge besucht er das Haus noch mehrere Male, freundet sich auch mit den Wächtern an. Trotzki schöpft Verdacht: "Ich mag ihn nicht! Wer ist er eigentlich? Wir sollten mehr über ihn herausfinden."

Dennoch verabredet sich Trotzki für den 20. August 1940 mit dem Mann, den er für einen Kanadier hält und nur unter dem Namen Frank Jacson kennt. Einen Artikel über französische Wirtschaftsstatistik wolle er schreiben, erzählt Jacson und bittet Trotzki, sich seine Pläne anzusehen.

Als Jacson am vereinbarten Tag vor der Villa erscheint, empfängt

ihn die verwunderte Natalja Sedowa und fragt, warum er an einem so schönen Tag einen Regenmantel trage. Der Besucher antwortet, es sei mit einem Wolkenbruch zu rechnen - in Mexiko-Stadt im August durchaus üblich.

Er betritt das



Arbeitszimmer und legt Trotzki ein Papier vor. Der beugt sich über den Schreibtisch. Der Attentäter holt den unter seinem Mantel versteckten Eispickel hervor und schlägt ihn hinterrücks 7,5 Zentimeter tief in Trotzkis Schädel. Trotzdem kann Trotzki sich noch wehren, beißt Mercader in die Hand, die Leibwächter überwältigen den Attentäter und hätten ihn umgebracht, wenn Trotzki sie nicht gestoppt hätte: "Tötet ihn nicht! Dieser Mann muss reden." Trotzki stirbt am folgenden Tag an seiner schweren Kopfverletzung.

Eispickel


Strafe



Mercaders Mutter Caridad und ihr Lebensgefährte, der NKWD-Offizier Leonid Eitingon, warteten vor Trotzkis Anwesen in zwei Fluchtwagen. Als er nicht erscheint, verlassen beide das Land. Die Polizeit verhaftet Sylvia Ageloff zunächst als Mittäterin, die Justiz lässt die Vorwürfe fallen.

Das Gericht findet Mercader (unter zwei falschen Namen!) des Mordes für schuldig. Urteil: 20 Jahren Gefängnishaft. Da er keinerlei Reue zeigt, muss er die Strafe vollständig verbüßen.
Stalin zeichnet Mercader 1940 mit dem Leninorden aus, nach seiner Haft verleiht ihm Moskau 1960 den Titel eines Helden der Sowjetunion.

Trotzki und Stalin



Trotzki? richtig: Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki, geboren 1879 in Janowka, heute Ukraine gestorben 1940 in Coyoacán, Mexiko.

Fünftes Kind jüdischer Kolonisten im damals russischen Staatsgebiet ligenden Janowka. Realschule, Abitur, Sozialist. Eine der Führungsfiguren der Oktoberrevolution 1917, Gründer der Roten Armee, früheres Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Nach dem erste Attentat ist Trotzki klar, woher der Befehl, ihn zu töten, kommt: aus Moskau. Von Josef Stalin, dem Mann, der ihn bereits um die halbe Welt gejagt hat.
Die Feindschaft zwischen Trotzki und Stalin besteht bereits seit Jahrzehnten. In den Wirren der Folgejahre nach der Oktoberrevolution 1917 ist Wladimir Lenin als Anführer der Bolschewiki unumstritten. Um seine Nachfolge an der Spitze der jungen Sowjetunion indes beginnt ein Machtkampf.



Kurz vor seinem Tod erkennt Lenin, welche Gefahr von Stalin ausgeht. Nach zwei Schlaganfällen bangt er um sein politisches Erbe und diktiert im Winter 1922/23 einen Brief an die Kommunistische Partei: "Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert." Stalin sie "zu grob", er müsse vom Posten des Generalsekretärs entfernt werden. Stalins größten Widersacher Leo Trotzki bezeichnet Lenin als den "wohl fähigsten Mann im gegenwärtigen Zentralkomitee".
Als Lenin 1924 nach dem dritten Schlaganfall stirbt, hat Stalin die Schlüsselstellen im Parteiapparat schon mit den eigenen Leuten besetzt. Nach und nach macht er sich zum totalitären Alleinherrscher. Mit einer selbst unter Tyrannen seltenen Rachsucht und Dämonie geht Stalin gegen jeden vor, den er für einen politischen Gegner oder Abweichler hält.

Der Tiefpunkt ist der "Große Terror" der Jahre 1936 bis 1938, als Stalin Hunderttausende ermorden lässt. Besonders skrupellos ist Stalin gegenüber alten Kampfgefährten. Nach grotesken Schauprozessen lässt er die Führungsriege der frühen Bolschewiki hinrichten - Sinowjew, Kamenew, Bucharin.
Doch keinen der alten Revolutionäre hasst der Diktator so sehr wie Trotzki. Der ideologische Unterschied: Stalin will den Sozialismus in einem Land, Trotzki die Weltrevolution. Und die beiden verachten einander auch persönlich. Die Antipathie reicht zurück in die Zeit weit vor der Revolution.

1907 in London begegnen die jungen Revolutionäre einander zum ersten Mal - und die Gegensätze stoßen sich ab: Trotzki ist der Sohn wohlhabender jüdischer Bauern, Stalin wächst in Georgien auf, in Armut, als Kind eines prügelnden Säufers. Trotzki ist ein marxistischer Theoretiker im Exil, im Dienst der Revolution in Europas Metropolen unterwegs. Stalin dient der Revolution, indem er für die Partei Banken im Kaukasus ausraubt. Trotzki hält brillante Reden - auf Russisch und Französisch, Englisch und Deutsch. Stalin spricht selbst Russisch nur mit starkem georgischen Akzent. Trotzki hält Stalin für einen "Bauerntölpel", Stalin sieht Trotzki als arroganten Intellektuellen.
Aus Abneigung wird über die Jahre Todfeindschaft. Stalin hat wohl schon in den Zwanzigerjahren den Wunsch, Trotzki umbringen zu lassen. Doch der führte die Rote Armee im Russischen Bürgerkrieg zwischen 1918 und 1922 zum Sieg über die konterrevolutionäre Weiße Garde. Dafür verehren viele im Land Trotzki auch Ende der Zwanzigerjahre noch. Stalin kann ihn nicht töten lassen. Noch nicht.

Fürs Erste beschränkt sich Stalin auf die Entmachtung seines Rivalen. Zunächst wird Trotzki aus dem Zentralkomitee geworfen, dann aus der Partei, 1929 schließlich aus dem Land. Wie schon vor der Oktoberrevolution muss der Gründer der Roten Armee ins Exil - Türkei, Frankreich, Norwegen. Auch dort setzt Trotzki seine Opposition fort und gründet 1938 die Vierte Internationale, eine Alternative zur stalinistischen Komintern; er wird zu einem Idol der Linken, noch lange über seinen Tod hinaus.
Stalin jagt Trotzki auch im Exil. Von Norwegen aus verfolgt Trotzki den ersten Moskauer Schauprozess - am 24. August 1936 wird er in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Mit der Vollstreckung des Urteils wird der sowjetische Geheimdienst NKWD betraut. Trotzki und seine zweite Ehefrau Natalja Sedowa gehen nach Mexiko ins Asyl.

Stalin hat zu dieser Zeit schon einen großen Teil von Trotzkis Familie ausgelöscht: Wolkows Mutter Sinaida, Trotzkis Tochter aus erster Ehe, nahm sich in Berlin das Leben. Sergei Sedow, Trotzkis jüngerer Sohn aus der Ehe mit Natalja, wurde ein Opfer von Stalins "Großem Terror". Der ältere Sohn Lew Sedow wurde in Paris ständig vom NKWD beschattet, bis er auf rätselhafte Weise nach einer Blinddarmoperation starb.

Trotzkisten

Sie verstehen sich als einzig legitime Wahrer des Leninschen Erbes. In der Tradition eines von Trotzki 1938 formulierten Programms zielen sie weiterhin unbeirrt auf die gewaltsame Errichtung einer weltweiten "Diktatur des Proletariats" aus "Arbeiterräten" ab. Die Stalinsche Lehre vom "Aufbau des Sozialismus in einem Lande" lehnen sie ab. Zudem kritisieren sie die innere Ordnung realsozialistischer Regime als "bürokratisch entarteter Sozialismus", bei dem eine Funktionärsschicht die Arbeiter unterdrücke. Neben dem Stalinismus ist für Trotzkisten der zweite, nahezu ebenso verhasste Hauptfeind die "reformistische Sozialdemokratie", der sie Verrat an den Interessen der Arbeiterschaft vorwerfen.

In Deutschland finden trotzkistische Ideen niemals größere Resonanz. Der DDR gelten ihre Anhänger den in stalinistischen Traditionen stehenden Regimen Ulbrichts und Honeckers als Staatsfeinde. In der Bundesrepublik sind sie in den 50er und 60er Jahren schwach. Vom Aufschwung einer "Neuen Linken" seit Ende der 60er Jahre profitieren auch Trotzkisten, ihre Gruppen vereinen in der ersten Hälfte der 70er Jahre bis zu 1.200 Mitglieder, diese Zahl sinkt in den folgenden Jahren auf nahezu die Hälfte. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus verzeichnen sie wiederum Zulauf.
Anfang 2014 pendelt sich ihre Zahl auf 1.400 in 20 Gruppen ein, darunter zahllose kleine oder kleinste Splittergruppen und Zirkel ohne nennenswerte Außenwirkung.

Wertung

Zwar ragt Trotzki unter den marxistischen Theoretikern intellektuell heraus, die Mehrzahl seiner Schriften dient aber der Kritik an späteren Fehlentwicklungen des leninistischen Modells, die er selber aktiv mit in Lauf gesetzt hat. Zu einem erheblichen Teil handelt es sich um Rechtfertigungen für eigene Verbrechen: Als Kriegskommissar während des Bürgerkrieges 1918-20 befürwortete Trotzki den revolutionären Massenterror und war für zahllose Kriegsverbrechen verantwortlich. Später betrieb er die "Militarisierung der Arbeit", bei der die Gewerkschaften zu Instrumenten der Kontrolle der Arbeiterschaft umgeformt und die Betroffenen einem weit schlimmeren Regime als im "Kapitalismus" ausgesetzt wurden; schon mehrfach verspätetes Erscheinen am Arbeitsplatz konnte zu Todesurteilen führen.

Die zentralen Schriften Trotzkis gelten seinen Anhängern zumeist als unanfechtbar, um so erbitterter verläuft der Streit um ihre richtige Auslegung. Endlose Fraktionierungen, Spaltungen und Umgruppierungen sind die Folge.

Trotzkis Ende trägt in einem umfassenden historischen Sinn paradoxe Züge. Denn als sein Todfeind Stalin den 61jährigen beseitigen lässt, hat dieser längst jeden realpolitischen Einfluss verloren. Trotzkis tatsächliche oder angebliche Anhänger in der Sowjetunion sind liquidiert oder in Arbeitslager verschleppt - mächtig war er nur noch in den propagandistischen Wahnbildern des stalinistischen Herrschaftsapparats, der ihn zum Kopf einer gigantischen faschistischen Verschwörung gegen die Sowjetmacht gestempelt und die Ausrottung des Trotzkismus zum Leitmotiv der großen Säuberungen der 30er Jahre gemacht hatte.

In Wahrheit dirigierte Trotzki nur noch kleine bis winzige trotzkistische Parteien und Gruppen in aller Welt, die er 1938 in einer Vierten Internationale zusammenschloss. Mit unerbittlicher dogmatischer Strenge wachte er darüber, dass sich in ihren Reihen keine Abweichungen von der vermeintlich unverfälschten Lehre des Leninismus durchsetzen konnten, als deren berufener Hüter er sich selbst betrachtete.

Dennoch reichte Trotzkis Ruhm und Ansehen auch in dieser letzten Phase seines Lebens weit über die Grenzen engstirniger Politzirkel hinaus. Gerade seine realpolitische Ohnmacht, in die er von der Spitze eines skrupellosen und brutalen Machtapparats gestürzt war, machte ihn für viele Intellektuelle zu einer attraktiven Projektionsfigur ihrer romantischen revolutionären Sehnsüchte.

Als Zielscheibe einer beispiellosen Dämonisierungs- und Verleumdungskampagne durch den übermächtigen stalinistischen Terrorapparat erschien Trotzki vielen Intellektuellen wie die reine, unbefleckte Seele der Revolution, die durch keinen Hass und keinen Verrat einer verblendeten Außenwelt zu erschüttern war. Durch keine noch so perfide Verleumdung und Stigmatisierung als Konterrevolutionär, war Trotzki von seiner Überzeugung abzubringen, im Auftrag der authentischen revolutionären Triebkräfte der Geschichte selbst zu stehen, die nach finsterer Nacht der Degeneration der Sowjetunion und der stalinistischen Sabotage der Weltrevolution schließlich wieder ans helle Tageslicht dringen würden.

Wer als linker Intellektueller in den 30er Jahren für Trotzki Partei ergriff, begab sich zwar in hermetische Isolation von der real existierenden kommunistischen Bewegung. Er oder sie tauschte dafür aber die Nähe zu dem scheinbaren Garanten einer fernen, schöneren Zukunft ein, die zu betrachten mehr Genuss bereitete als in den Abgründen einer schrecklichen Jetztzeit zu agieren, in der die vermeintlich gute, kommunistische Sache ihrem faschistischen und nationalsozialistischen Gegenstück immer mehr zu ähneln begann.

In den Hintergrund tritt nun, dass Trotzki selbst wesentlich zum Aufbau jenes totalitären Machtapparates beigetragen hat, der sich in den Händen Stalins zu einer Vernichtungsmaschinerie ungeahnten Ausmaßes entwickelt und nun auch die alte bolschewistische Führung selbst zermalmt. Obgleich sich Trotzki zu seinen Zeiten als Organisator des bolschewistischen Oktoberputschs 1917, als Volkskommissar und Gründer der Roten Armee durch Maßnahmen wie die Militarisierung der Arbeit und durch die Propagierung des Roten Terrors hervorgetan und sich so als gnaden- und skrupelloser Gewaltmensch entpuppt hat, gilt er nun aufgrund seiner literarischen Fähigkeiten und kulturellen Bildung als eine Art Schöngeist der Weltrevolution, der hoch über den dumpfen Machtkämpfen kommunistischer Apparatschiks stehe.
Er selbst freilich weist auch in seinen späten Schriften, so in "Ihre Moral und Unsere" (1938) jede Kritik an seiner früheren Rolle als Ausfluss eines überholten "bürgerlichen Humanismus" zurück. Unversöhnlich rechtfertigt er etwa die von ihm angeordnete Liquidation der Matrosen von Kronstadt, die sich 1921 gegen die Bolschewiken erhoben und ohne Gerichtsurteil erschossen wurden.

Einige seiner intellektuellen Anhänger brachen wegen dieser unnachgiebigen Haltung mit ihm – andere fühlten sich durch diesen skrupellosen Amoralismus noch näher zu Trotzki hingezogen. Kommt es doch ästhetischen Allmachtsphantasien entgegen, in der literarisch-künstlerischen Avantgarde weit verbreitet. Trotzki seinerseits distanziert sich vom starren stalinistischen Dogma des "sozialistischen Realismus" und feiert die vermeintlichen revolutionären Potenziale der künstlerischen Moderne. In seiner Schrift "Literatur und Revolution" prophezeite Trotzki bereits früher die Entstehung eines kommunistischen Übermenschen in der klassenlosen Gesellschaft, der das Genie eines Goethe, Freud und Marx in sich vereinigen sollte – eine Phantasie, die sich mit der modernistischen Vision vom gesellschaftlichen Gesamtkunstwerk berührte.

Vor allem in den USA, namentlich unter New Yorker Intellektuellen, erlebt der Trotzki-Kult in den 30er Jahren eine beachtliche Blüte. Viele unter ihnen sind Juden, die freilich – wie Trotzki selbst – ihre jüdische Herkunft zugunsten eines „proletarischen Internationalismus“ überwunden zu haben glauben. Gleichwohl dürften sie gespürt haben, dass sich in den stalinistischen Hasstiraden gegen Trotzki auch ein brutaler Antisemitismus austobte.
Mit Trotzki konnten sich radikale Intellektuelle der geistigen Enteignung durch den offiziellen kommunistischen Apparat entziehen, ohne sich als "Verräter" an der Sache der Weltrevolution zu fühlen – zumal angesichts der realpolitischen Bedeutungslosigkeit des "Trotzkismus" keine Gefahr bestand, dass sie ihre Ideen dem Tauglichkeitstest der Wirklichkeit würden aussetzen müssen. Mittels des "Trotzkismus" können sie an ihrer Verachtung des amerikanischen Kapitalismus festhalten und zugleich ihrer instinktiven Abwehr des kommunistischen Totalitarismus Ausdruck geben, der ihre Daseinsform als freischwebende, urbane Intellektuelle bedrohte.

Erst später geht den meisten von ihnen auf, welchem Missverständnis sie aufgesessen sind: Trotzki hegte, ganz in der Manier der alten bolschewistischen Parteiführer, in Wahrheit einen tiefen Affekt gegen Intellektuelle, die er für „kleinbürgerliche“ unzuverlässige Elemente hielt. Dennoch erfährt der Trotzki-Mythos in den rebellischen 68er-Jahren noch einmal eine Renaissance. Peter Weiss schildert den schillernden Verlierer der Geschichte in seinem Stück „Trotzki im Exil“ als einsamen Bewahrer des revolutionären Funkens in düsterer Zeit. Dieses geschönte Idealbild Trotzkis wird wohl weiterwirken, solange der romantische Glaube fortlebt, es könne jenseits der totalitären realen Sozialismen aller Couleur dereinst doch noch so etwas wie die wahre egalitäre Befreiung der Menschheit geben.




Hier ein Auszug aus Der zweite Tod des Ramón Mercader von Semprún: