... mir beim Wiederlesen von Maxens Briefen
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Ich lernte ihn 1966 kennen, als wir beide im German Department der Universität Manchester die Tätigkeit als Lektoren aufnahmen. Zwar hat ihm das preußische Milieu, dem ich – sechs Jahre älter als er – entstammte, nie sehr behagt (wie man seiner Magisterarbeit über Sternheim und seiner Doktorarbeit über Döblin ablesen kann), doch verstanden wir uns von Anfang an so gut, dass wir im Januar 1967 zusammenzogen und bis zum Juli Zimmer an Zimmer in dem Vorort Didsbury wohnten.
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Im Sommer 1968 zog Max Sebald in die Schweiz. Er nahm einen Posten als Lehrer an einer Privatschule in Sankt Gallen an. Er meldet, dass er den angekündigten Theatermonolog aus den Lügen-Erzählungen des k. u. k.-Veteranen Friedrich Schiel, den er während der Ferien in Jugoslawien kennen gelernt hatte, vollendet hat:
Als mir beim Wiederlesen von Maxens Briefen seine Neigung zum Rollenspiel bewusst wurde, erinnerte ich mich an Fotografien, für die er an einem Frühlingstag 1967 in meinem Zimmer in Didsbury posiert hatte. Vor dem zugenagelten Kamin setzte er sich in Positur, doch der Sesselkorb wurde im Handumdrehen zum Requisit weiterer Selbstdarstellungen, in die er nun Witz investierte.
Am 8. Mai 1968, dem Tag, an dem in Paris die erste der großen Demonstrationen von Studenten und Arbeitern stattfand, schrieb mir Max einen Brief, in dem er auf meine Mitteilung reagierte, dass meine eingereichte Doktorarbeit über Harold Pinter wegen der Verwendung des Entfremdungsbegriffs auf Vorbehalte gestoßen war:
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S’hofen I. VIII. 68 Dear R.O.P., Grad bloß einen winzigen Brief. Wir sind eben aus Jugoslawien retourgekommen. Wir haben zwar in einem gottverlassenen Nest gehaust, aber selbst bis dorthin, bis in die schierste Unzugänglichkeit, waren sie gedrungen, die Touristen, und vor allen die Deutschen und mit ihnen die Bildzeitung. Am 15. d. M. ziehen wir nach St. Gallen, und es bleiben bis dorthin noch derart viele Dinge zu erledigen, dass es leider mit einem Besuch in T. vorerst nichts werden kann. Kaum komm ich dazu, ein Buch aufzuschlagen. In Jugoslawien ist es mir aber, trotz widrigster Zwischentöne gelungen den Radetzkymarsch, die Kapuzinergruft und den Benvenuto Cellini zu lesen. – Übrigens habe ich in Pag auf Pag einen kuk Veteranen getroffen, und diesem Friedrich Schiel ist es zu verdanken, dass mich die Reise eher freut als reut. Es war dieser Wiener nämlich der schrecklichste Lügner, der mir in meinem Leben bisher vorgekommen ist. Und er hat Geschichten erzählt, monströs und gedunsen vor phantastischer Unwahrheit. F. Schiel geht auf die achtzig und war unter anderem Weltmeister im Gewichtreissen. Aber ich will Dir mit keinen Details den Mund wässrig machen. Wahrscheinlich will ich versuchen, aus seinen Geschichten einen Einakter zu basteln, der ins Absurde übergeht. Den M. A. habe ich übrigens, ich weiß nicht, ob ich es schon schrieb, mit distinction, und ich bin es also zufrieden. Je näher übrigens das Datum des 1. Sept. kommt, desto mehr scheint es mir, als hättest Du und Deine weitblickende Signora mit den Prophezeiungen bez. meiner neuen Existenz als Lehrer recht. Irgendwie sausen mir die Hosen; auch habe ich bereits wieder meine alten Schulträume. Es wird übel enden, sag ich mir, es wird übel enden. Da kommt mir gleich die Geschichte in den Sinn von der hässlichen (und bösen) Prinzessin, der sich alle Wörter, die sie sagte, beim Aussprechen in Frösche verwandelten. So wird es mir also gehen. Ich werde lange Ketten von Fröschen meinen Mund verlassen sehen, wenn ich im Begriff zu sprechen bin. Zum äußersten Erstaunen meiner Zuhörer werden sie meinem Mund enthüpfen und darauf nicht etwa verschwinden, sondern herumsitzen, und weitläufig untereinander in ihrer eigenen Sprache Gegenstände verhandeln, die mit denen, die ich im Sinne habe, kaum zu verbinden sein werden. So wird es enden, übel, mit einem quakenden Feld schwabbeligen Grüns. Vielleicht verstehst du meine Vorsorge. Ich will mich aber nicht wickeln lassen und, sollte die Sache zu schlecht sich anlassen, im nächsten Jahr die Profession wechseln. Ich mag mir auf keine Weise den Garaus machen lassen. Bleibt mir also bloß noch, Euch ein schönes Sizilien zu wünschen. Als Reiselektüre darf ich vielleicht die Nausikaa empfehlen, wenn ich dadurch nicht zu naseweis bin. Tanti saluti cordiali Max x fiancée |
7. 4. 70 Dear R.O.P. Jetzt hat der Osterhas das Weite gesucht und bloß eine Schale Nachgeschmack hinterlassen. Vom Frühling nicht zu reden. Seit Januar druckst er herum. Aber heut sind die Fenster wieder angelaufen, und die Wolken fahren mit einer gottlosen Geste über den Himmel, äs if there were no end to anything. It is difficult to abstain from poetical lamentation. Disappointed by the small flutter of voices spreading rhymes and rhymes over the roads and into the trees and houses. Suffocating the fragments of what a German scholar called unsere kurze und arme Kindheit. No. I am by no means mute, nor am I altogether speechless. But I am beginning to have much to think and little to say. Daß die Bäume nicht in den Boden wachsen, ist schon ein Wunder. Manchester hat sich verändert, seit Du hier mit Deiner chinesischen Nudelkiste abgereist bist. The bus fare has doubled. The Times costs eight pence. The precinct is growing. Buildings are getting face-lifts. Stations are being closed. Foreign newspapers are sold. Business is thriving. Continental shops open up. Und so weiter. Aber das nächtliche Gemurmel der urbs sacra mancuniensis ist geblieben, und auch das Gefühl, daß etwas Barbarisches passiert im Bezirk der Conurbation. Man hat die ganze Information zur Hand, aber sie verbindet sich nur dann zu einem Muster, wenn man ihre Trostlosigkeit mit der Hoffnungslosigkeit der Phantasie noch unterbietet. It seems unavoidable. This summer I shall try to find the house of Consul Meyer in Bordeaux, where Hölderlin was Hofmeister for a couple of months. Probably will tell me more about him to look at the facade of this place, than to read the latest news from the intellectual stock-exchange. The Tui-business. Most of its agents can't think further than a London pigeon can fly. So they can't imagine Hölderlin, walking, in midwinter, from Frankfurt to Bordeaux. Max. |
Poststempel : Wymondham 14.5.1974 DEAR ROP, BRIGITTE AND SO ON – DA MUß MAN JA DIREKT GRATULIRN & EIN FEINS LEM WINSCHEN DEM AHNUNGSLOSES KIND. WAS KANN EIM NICHT ALLS BLIHN!! OBER SI HAT JA EIN KREFTIGEN VATTER: SOLL ER GUT OBACHT GEM. – MEINIGE FRAU & KINDERLACH SIN IN DEITSCHLAND. ICH MUß BEI DI GESCHÄFTE BLEIM: DER HUND IST EIN RUHIGER PARTNER MEINER SOLITUDE. DISDERM, SOLLZ LEM. VORWEG DOS KLEINES & DIE MUTTER. SALUTATIONE. SAMMI OHNVERZAGT. HOFFAKTOR IN KANDIDIERTE FRICHTE |
In Sebalds Briefen ist die Neigung, in Rollen zu schlüpfen, weiterhin lebendig geblieben, wie sein Brief vom 1. Oktober 1973 mit seiner surrealen Beschreibung eines Besuchs in Prag zeigt. In der wiedergegebenen Gratulations-Postkarte zur Geburt unserer Tochter, mit Poststempel vom 14. Mai 1974, tritt das Rollenspiel noch prägnanter in Erscheinung - in einer Schreiberrolle, die besonders Maxens Beschäftigung mit der jüdischen Kultur verrät. Zur Geburt unseres Sohnes Urs Daniel hatte er am 3. Januar 1972 geschrieben: You could have called the boy Bär in good Jewish tradition:
Rabbi Bär Tabbert, dixit Danielus.
Reinbert Tabbert, Literaturen 05/2004 S. 46ff |