Leute



... wo, wider alles Erwarten, ein
mir in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes
Zimmer zu haben war und wo ich, der ich doch
zumeist schlecht bedient werde, von einem an
Ferdinand Bruckner mich erinnernden Portier
und der anscheinend eigens in der Halle sich
einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit
der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behan-
delt wurde, nicht anders, als hätten sie in mir
einen seit langem ihnen in Aussicht gestellten
und nun endlich eingetroffenen Ehrengast vor
sich.






Empfangsdamen



Penelope Peacefull, London

Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von mir seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu mir herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. (AUS S. 207)

Penelope und die fremden Wirtinnen

Wo immer es ihn hinträgt, erhofft und fürchtet der Sebaldsche Wanderer Selysses die Nymphe Kalypso oder die Göttin Kirke, erhofft Nausikaa, fürchtet die Sirenen. Um ihnen allen zu begegnen, heißt es aber zunächst Abschied nehmen von Penelope. Das findet statt, in überraschender Direktheit, im Austerlitzbuch auf S. 207. Penelope hat den Familiennamen Peacefull, und geschildert wird nichts anderes als ein letzter friedvoller Augenblick ehelichen Zusammenlebens. Die beiden, Penelope und Selysses, gehen in einer Atmosphäre tiefer Vertrautheit, aufgehoben in der liebevollen Nähe des anderen still ihrer jeweiligen Beschäftigung nach. Dann und wann geht der Blick auf die Gasse hinaus, offenbar, wenn schon nicht Ithaka so doch eher Delft als London, ein Interieur a la Vermeer oder de Hoch. Penelope Peacefull ist nicht nur ein spaßiger Name, sondern gleichsam auch der Titel eines kleinen spaßigen Gemäldes, angebracht an der Stelle und in dem Augenblick, als Sebald aufbricht zu seiner Höllenfahrt (man sollte ihn in seiner Inkarnation als Austerlitz vielleicht Sedante nennen, zumal er sich über längere Strecken in der Obhut seiner Beatrice Marie de Verneuil bewegt). Man darf sicher sein, daß Sebald dieser extreme stilistische Kontrast nicht etwa nur unterlaufen ist, wer in den überwiegend elegischen, vom Lamento geprägten Tonlagen diese ständigen kleinen Gegenmelodien nicht wahrnimmt, hört allenfalls die halbe Musik.

Luciana Michelotti, Hotel Sole Limone

... und drinnen, im Dunkel hinter der Theke, stand die Wirtin Luciana Michelotti, gleichfalls allein, und stocherte mit einem kleinen Silberlöffel gedankenverloren in der Espressotasse, die sie gerade ausgetrunken hatte. Die mir als resolut und lebensfroh in Erinnerung gebliebene Frau machte an diesem Tag, der, wie ich später erfuhr, ihr 44. Geburtstag gewesen war, einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte in Verwunderung vielleicht über meine Gleichaltrigkeit mit ihr, in meinem Paß, verglich mehrmals mein Gesicht mit der Photographie, wobei sie mir einmal lang in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in seiner Lade und händigte mir den Zimmerschlüssel aus. (SG S. 104 )


Die größte Gefahr, Penelope untreu zu werden, erlebt Sebald offenbar, möchte man meinen, in der Begegnung mit Luciana Michelotti, immerhin kommt es zur Trauung der beiden (SG S. 116). Die Szene weist aber wesentliche Merkmale der anderen nicht auf und fällt insofern aus dem Rahmen. Luciana bleibt nicht eingeschlossen in einen kurzen Augenblick des Empfangs, das Zusammensein mit Sebald erstreckt sich über mehr als zehn Seiten. Auch war man offenbar schon bekannt und kommt sich zum einem durch die momentane schwermütige Stimmung Luciana näher, während Sebald im weiteren dann von ihrer im Grunde lebensfrohen Art profitiert. Auch Lucianas zunächst verschwiegener Blick öffnet sich, nachdem er gleichsam hinter das schemenhafte Abbild der Photographie gelangt ist, in vollem Umfang und übertrumpft für einmal den Blick Sebalds. Hat hier schon der Ritorno, die Rückkehr nach Wertach-Ithaka begonnen, dämmert Penelope etwas?

Engelwirtin, Wertach

Hinter der Rezeption im Engelwirt war, nachdem sich auf mein Läuten lang nichts gerührt hatte, eine sehr wortkarge Dame aufgetaucht. Ich hatte nirgends eine Tür gehen hören, nirgends sie hereinkommen sehen, und doch war sie auf einmal dagewesen. Mit unverhohlener Mißbilligung musterte sie mich, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Ich verlangte ein Zimmer zur Straße hinaus im ersten Stock, vorerst auf unbestimmte Zeit. Obzwar es ohne weiteres möglich sein mußte, meinem Wunsch zu entsprechen, weil auch im Gastgewerbe im November der Totenmonat ist, in welchem das in dem leeren Haus verbliebene Personal den abgewichenen Gästen nachtrauert, als seien sie wirklich auf ewig abgereist, obzwar also ein zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte die Rezeptionsdame vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie mir die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir mir schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. Den ausgefüllten Anmeldezettel, auf dem ich als Berufsbezeichnung "Auslandskorrespondent" und meine komplizierte englische Adresse angegeben hatte, studierte sie mit hochgezogenen Augenbrauen ... (SG S. 208)


Die Engelwirtin in Wertach ist jedenfalls nicht Penelope, eher schon eine der lockeren Mägde des heimkehrenden Weltendurchmessers. Die erotischen Implikationen der Engelwirtszene sind für Sebalds Verhältnisse schon geradezu drastisch zu nennen. Die ambivalente Geste der über der Brust zusammengenommenen Jacke der Dame im Gast-Gewerbe, Abwehr und Einladung zugleich, die daraus resultierende Einhändigkeit, die zur endlosen Dehnung des Augenblicks führt. Auf der anderen Seite Sebald mit allen Merkmalen des potentiellen Vergewaltigers, heruntergekommen von langer Reise, mittellos wie ein Bettler, offenbar listenreiche Lügengeschichten (Auslandskorrespondent) erzählend, bartstoppelig, den Jäger Hans Schlag schon vorwegnehmend und die wüste Geschichte, die er auslöst. Indem Sebald mit dem Jäger Hans Schlag verschmilzt, verschmilzt er auch mit dem ewigen Jäger Gracchus, der im Jäger Schlag in Wertach seinen Tod findet, soweit nicht entfernt vom Schwarzwald, wo er ihn zunächst verfehlt hatte. Aber hatte Sebald nicht schon sehr früh seine Nachfolge angetreten? Unmittelbar nach dem Tod des Jägers Schlag-Gracchus war der Knabe einer lebensbedrohlichen Krankheit verfallen und als Sebald-Schlag-Gracchus: Seracchus vom Tode wieder auferstanden. – Mit unserem Blick aus der Peripherie der Erzählung wollen wir nicht versuchen, zu tief in ihr Inneres einzudringen. Allerdings besteht auch keine besondere Gefahr. Sebalds Bedeutungsgewebe sind so luftig und unverwüstlich zugleich, daß sich, anders als beim Totentuch des Laertes, in der Nacht und auch am Tage beliebig viele und lange Fäden ziehen lassen, ohne das Prosakleid nur irgend zu mindern.

Namenlos, Kissingen

Das Hotel war soeben von Grund auf renoviert worden in dem in Deutschland unaufhaltsam sich ausbreitenden neuimperialen Stil, welcher diskret mit Blaßgrün und Blattgold die Geschmacksverirrungen früherer Jahre überblickt. Die Empfangsdame, die etwas von einer Oberin an sich hatte, maß mich mit ihren Blicken, als befürchte sie einen Hausfriedensbruch, und als ich den Lift betrat, befand ich mich einem gespenstischen alten Ehepaar gegenüber, das mich mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrte.

Die Szene in Kissingen ist, bei all ihrer Herrlichkeit, in unserem Zusammenhang eher unergiebig, hier geht es vordringlich um das Feindschaftsverhältnis zwischen Deutschland und Sebald. Auch von einer Verschwiegenheit des Blicks kann bei einer derart offenen Konfrontation nicht die Rede sein.

Namenlos, Viktoriahotel Lowestoft

Eine ganze Zeitlang habe ich in dem leeren Entree gestanden und bin durch die sogar mitten in der Saison – wenn von einer Saison in Lowestoft überhaupt die Rede sein kann – völlig verlassenen Räume gewandert, ehe ich auf eine verschreckte junge Frau stieß, die mir nach einigem zwecklosen Herumsuchen im Register der Rezeption, einen mächtigen, an einer hölzernen Birne hängenden Zimmerschlüssel reichte. (RS S. 57)


Die Lowestoftszene ist in gewissem Sinn eine Kurzfassung der Engelwirtszene. Auch hier ruft der Wanderer Schrecken hervor. Das Bild wird nicht weiter vertieft. Während aber die Engelwirtin nach Aushändigung des Zimmerschlüssels aus der Erzählung verschwindet oder allenfalls in älteren Inkarnationen von Engelwirtinnen und Engelwirtsbedienerinnen fortlebt, reicht die Victoriawirtin Speis und Trank, ist also nicht nur Wirtin der Nacht, und leitet damit eine der für die Wanderungen Sebalds in ihrem katastrophalen Verlauf typischen Mahlzeiten ein.

Dame mit Schwein, Café des Sports Evisa

Eine Stunde später, als ich gerade beim Ausbrechen des Unwetters Evisa erreichte und dort im Café des Sports Zuflucht gefunden hatte, schaute ich lange durch die offene Tür hinaus auf den schräg in die Gasse rauschenden Regen. Der einzige Gast außer mir war ein greiser, mit einem wollenen Kittel und einem ausgedienten Armeeanorak bereits für die Wintermonate gerüsteter Mann. Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Es schien mir nicht, als ob er die seltsam theatralisch wirkende weibliche Person wahrgenommen hätte, die nach einiger Zeit unter ihrem Regenschirm draußen vorbeiging, oder auch das halbwüchsige Schwein, das ihr auf dem Fuß folgte. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Aus dem Kassettenrekorder hinter der Theke drang eine Art von türkischem Trauermarsch und zwischendurch eine hohe, aus dem Kehlkopf hervorgepreßte Männerstimme ... (CS S. 223)


Die Szene im Café des Sports von Evisa bringt die letzte Steigerung der mehr oder weniger desolaten Szenerien. Sünde und die Strafe Gottes liegen über dem Land. Sergio Leones Bild- und Sebalds Sprachvisionen scheinen verschmolzen. Es könnte die Eingangsszene zum Lied vom Tode sein, und es ist die Eingangsszene zu den Moments Musicaux, also durchaus verwandt. Es ist ein Augenblick völliger Verlorenheit. Der Tod dreht ein mit Pastis gefülltes Stundenglas, das Cafe ist ohne Bedienung, die Bedienerin Kirke ist offenbar durch die Hintertür verschwunden und zieht nun mit einem Schwein am Fenster vorbei, wer mag der so schrecklich Verzauberte sein?

Mrs. Irlam, Manchester

... und wirklich mußte ich mehrmals und anhaltend den Klingelknopf drücken, ehe drinnen etwas in Bewegung geriet und nach einigem Rasseln und Riegelschieben die Tür aufgetan wurde von einer vielleicht nicht ganz vierzigjährigen, blondgelockten, auch sonst irgendwie gewellt und loreleiartig wirkenden Dame. Eine Zeitlang standen wir uns wortlos und wohl beide mit dem Ausdruck des Unglaubens im Gesicht gegenüber, ich neben meinem Reisegepäck und sie in ihrem rosafarbenen Morgenmantel, der geschneidert war aus einem frotteeähnlichen, einzig in den Schlafzimmern der unteren englischen Klassen Verwendung findenden und unerklärlicherweise mit dem Wort candlewick bezeichneten Stoff. Mrs. Irlam – Yes, Irlam like Irlam in Manchester, hörte ich sie später immer wieder am Telefon sagen -, Mrs. Irlam brach das Schweigen zwischen uns mit der ihre Aufgeschrecktheit und ihre Belustigung über meinen Anblick in eins zusammenfassenden Frage: And where have you sprung from?, die sie gleich selbst beantwortete, daß es nur ein Ausländer – an alien, wie sie sagte – sein könne, der mit solchem Koffer und zu einer solchen Unzeit am heiligen Freitagmorgen vor der Tür stehe. Und dann wandte sich Mrs. Irlam mit einem geheimnisvollen Lächeln, das ich als ein Zeichen auffaßte, ihr folgen zu dürfen, ins Innere des Hauses ... (AW S. 223)


In Manchester klopft ein noch nicht wettergegerbter Sebald an die Tür des Nachtquartiers, seine Name ist vermutlich Joseph und es dürfte Potiphars Weib sein, das ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln ins Innere des Hauses lockt, obwohl es keinerlei Anzeichen eines Mr. Potiphars gibt. Der unerklärlicherweise mit dem Wort /candlewick/ bezeichnete rosarote und frotteeähnliche, einzig in den Schlafzimmern der unteren englischen Klassen Verwendung findende Stoff, dürfte die Unschuld besser als jeder Panzer schützen und wird Joseph auch von den von Potiphars Weib ohne das geringste Anzeichen von Ironie mit dem von ihr selbst geprägten Sammelbegriff the gentlemen's travelling companions bedachten bunten Damen fernhalten. Keuschheit leicht gemacht im Bordell. – Gracie Irlam kehrt im übrigen noch einmal zurück in der Erzählung, zunächst in dem Gemälde G.I. on her Blue Candlewick Cover (AW S. 264) und dann, kurz darauf und ohne weitere Erklärung, als die Flügelhornistin Gracie Irlam; eine Karriere wie die der Rachel im Temps Perdu, freilich im Miniaturformat.

Namenlos, Goldene Traube Verona

... in die Goldene Traube gefahren, wo, wider alles Erwarten, ein mir in jeder Hinsicht zusagendes Zimmer zu haben war und wo ich, der ich doch zumeist schlecht bedient werde, von einem an Ferdinand Bruckner mich erinnernden Portier und der anscheinend eigens in der Halle sich einfindenden Geschäftsführerin des Hotels mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt wurde, nicht anders als hätten sie in mir einen seit langem ihnen in Aussicht gestellten und nun endlich eingetroffenen Ehrengast vor sich. (SG S. 131)


In der Goldenen Traube zu Verona wird dem überwiegend höllennah wandernden Sebald/Sedante für einmal ein überwältigender Empfang bereitet. Die Geschäftsführerin des Etablissements kommt nur ganz flüchtig ins Bild, es muß gleichwohl Nausikaa sein. Sie breitet das Dach der Goldenen Traube als einen in den schönsten Braun- und Ziegeltönen gefärbten Fittich über den Schlaf des Wanderers und kredenzt ihm ein ans Wunderbare grenzendes Frühstück. Er wird nun keinen Fuß mehr verkehrt setzen.

Namenlos, Palace Hotel Marienbad

Es brauchte eine geraume Zeit, bis der Empfangsportier, der in seiner engen Loge an einem Stehpult stand, von seiner Lektüre aufblickte, um sich den späten Gästen zuzuwenden mit einem kaum hörbar gemurmelten Dobry vecer. Dieser ungemein magere Mann, an dem einem als erstes auffiel, wie sich, trotzdem er nicht mehr als vierzig sein konnte, seine Stirne fächerförmig in Falten legte, erledigte mit der größten Langsamkeit, beinahe so als bewegte er sich in einer dichteren Atmosphäre, ohne ein weiteres Wort die notwendigen Formalitäten, verlangte unsere Visa zu sehen, blätterte in den Pässen und in seinem Register herum, machte mit einer kraxligen Schrift einen längeren Eintrag in ein kariertes Schulheft, ließ uns einen Fragebogen ausfüllen, kramte in seiner Schublade nach dem Schlüssel und brachte schließlich durch das Läuten einer Klingel einen krummen Dienstmann herbei, der einen mausgrauen, ihm bis zu den Knien reichenden Nylonkittel trug und, nicht anders als der Empfangschef des Hauses, geschlagen war von einer seine Glieder lähmenden krankhaften Müdigkeit. (AUS S. 300)


Signora mit Vogelblick und Orlando, Hotel Boston Mailand

Wie hielten vor dem Hotel Boston, einem ungut und schmalbrüstig aussehendem Haus. Ich stieg die paar Stufen zu dem seltsamen Hospiz hinauf und wartete drinnen in dem kaum beleuchteten Foyer, bis die Signora, ein fat völlig ausgetrocknetes Wesen von sechzig oder siebzig Jahren, aus dem Fersehzimmer hervorgekommen war. Skeptisch hielt sie den Vogelblick auf mich gerichtet und rief ihren Mann, der auf den Namen Orlande hörte und nun ebenfalls aus dem Fersehzimmer herauwankte, wo er, wie die Signora, in tiefem Dämmer versunken gesessen war. Eine ungehuer lange Zeit schien es mir zu dauern, bis er den kleinen Vorraum durchquert und neben seiner Frau hinter dem hohen, den beiden nahezu bis zu den Schultern reichenden Rezeptionspult Aufstellung genommen hatte. (SG S. 124f)

Namenlos, Guesthouse Ithaca

Es dauerte eine beträchtliche Zeit, bis aus dem Inneren des offenbar schon schlafenden Hauses ein greiser Portier herbeikam, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Aufgrund seiner Behinderung hatte er, bereits vor er sich anschickte, die Halle zu durchqueren, den draußen vor der halbverglasten Türe wartenden späten Gast von unten herauf mit einem kurzen, aber um so durchdringenderen Blick ins Auge gefaßt. Wortlos begleitete er mich über eine wunderbare Mahagonistiege – man hatte auf ihr gar nicht das Gefühl des Treppaufgehens, sondern schwebte gewissermaßen hinan – in die oberste Etage, wo er mir ein geräumiges, nach hinten hinaus gelegenes Zimmer anwies. (AW S. 156 )

Gewohnt an die Bebilderung von Sebalds Bücher, mag man sich einen Augenblick wünschen, all diese Menschen im Empfang nicht nur mit den inneren Augen zu sehen. Als darstellenden Künstler denkt man naturgemäß an Jan Peter Tripp, aber eine solche Aufgabe läge wohl nicht auf seiner Linie. Robert Crumb hat uns Kafkas Frauen gezeichnet, für Sebalds flüchtige, oft durchsichtige Frauengestalten wäre er wohl zu grob. Der Wunsch nach optischer Vergegenwärtigung wird auch kaum Bestand haben, Sebald selbst gehört zweifellos zu den Malern, Philosophen und Dichtern, die mit unverwandt forschendem Blick und vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Der Blick des Dichters ist der Blick des Weltenwanderers, το βλεμμα του Οδυσσεα. Sebalds Blick wird, so scheint es, unmittelbar in Worte umgeprägt, die Bebilderung seiner Bücher ist eine hinzukomponierte Zweitstimme, die zum Worttext in einer wechselnden, aber kaum je in der einfachen Beziehung bloßer Illustration steht. Die aufgeführten Empfangsszenen sind durchweg solche einer geradezu hilflos ihrer eigenen Intensität ausgelieferten Wahrnehmung, in deren Licht Blickwechsel und erwiderter Blick allerdings kaum aufscheinen oder jedenfalls oft verschwiegen bleiben.



Die Empfangszenen weisen leicht erkennbare Züge der Verwandtschaft auf, allerdings ist kaum ein Merkmal durchgehend anzutreffen, auch nicht das für diesen Aufsatz titelgebende. Nicht in jedem Fall sind es Frauen an der Rezeption. Sofern wir aber auf Männer treffen, sind sie irgendwie fehl am Platz, fast durchweg stark verkrüppelt und beinahe schon eher Fabelwesen. In zwei Szenen (Prag und Verona) sind sie zudem nur vorbereitend da und übergeben, nachdem ihr Ungenügen sich erwiesen hat, an eine Frau. Mailand, Hotel Boston, scheint die Umkehrung zu sein, die Frau ruft den Mann herbei, tatsächlich aber handelt es sich um zwei geschlechtslose Gespenster, die bei einem insgesamt gespenstischen Aufenthalt in der Stadt Sebald für eine gespentische Nacht erwarten. In den anderen Szenen ist männliche Anwesenheit jeweils aus der Erzählung heraus nicht nur besonders begründet, sondern zwingend. In der Marienbader Empfangsszene ist Sebald für einmal nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau, Marie de Verneuil, und aus erzählerischer Notwendigkeit nicht für die nie unerotisch verlaufende Begegnung mit einer weiteren Frau an der Rezeption des Hotels eingestellt. Ithaca schließlich ist Geschehensort in der von einer gelinden, in den Luxushotel- und Casinoszenen gegen Proust und in der Orientpassage gegen Gide



hin verdichtenden Homosexualität überschwebten, von Heterosexualität aber gänzlich freien Erzählung vom Ambros Adelwarth. Die in dieser Erzählung auftretenden Frauen sind ausschließlich Verwandte des Icherzählers, die Tanten Fini, Theres und Lina sowie Rosa, die Mutter, und es bleibt offen, ob das Inzestgebot sie zu asexueller Tantenhaftigkeit bewegt, oder ob eine spontane Tantenhaftigkeit das Inzestverbot überflüssig macht. Jedenfalls ist in der Rezeptionsszene in Ithaca ist jeder heteroerotische Funken zu vermeiden, Sebald, auf den Spuren des Ambros Adelwarth reisend, darf von daher nicht behelligt werden.

Reisen ist gegenüber dem Daheimbleiben immer der unwahrscheinlichere Zustand. Daß man zu diesem Ort gelangt und nicht zu einem anderen, in dieses Hotel oder diesen Gasthof eintritt und nicht in einen anderen, dort auf diesen Mann oder diese Frau trifft und nicht auf eine andere, erhöht die Unwahrscheinlichkeit jeweils immens. Sebald, wie wir begonnen haben, Sebalds Wanderer, seine verschiedenen Erzählinkarnationen übergreifend zu nennen, läßt sich meistens nicht anmerken, die Verarbeitung der Unwahrscheinlichkeit wird auf die andere Seite verlegt, wo sie in der Tat nicht geringer ist: Diese Person, Sebald, konnte nicht daheim bleiben, mußte in diese Stadt reisen, mußte bei uns, in diesem Gasthof absteigen und, um das Maß voll zu machen, nun gerade auf mich treffen.

Dieser sich in dem Augenblick bündelnden hohen Unwahrscheinlichkeit entsprechen in fast allen Rezeptionsszenen Momente der Verzögerung. Die Damen und Herren stellen sich nicht gleich ein, haben Schwierigkeiten, die räumliche Distanz zum Gast zu überwinden, können sich von einer anderen Beschäftigung nicht lösen, verrichten die Rezeptionsformalitäten mit äußerster Umständlichkeit. Die Wirkung dieser Verzögerungselemente ist ambivalent. Einerseits scheint Zeit gewonnen, den Unwahrscheinlichkeitsaugenblick in die Wirklichkeit einzupassen, andererseits gewinnt aber auch der unwahrscheinliche Augenblick Raum zu atmen, entfaltet sich und entschwebt ins unwirklich Phantastische, dies wiederum Entfaltungsraum für erotische Unterströmungen. Wir befinden uns in Übergangsräumen, in einer Art von Raum- und Zeitschleusen. Die Empfangsdamen, mehr noch die phantastischen Männer sind wie eingeschlossen in kleine Sicherheitskuben, man spürt das archaische Motiv der Gastfreundschaft und des Gastrechts, eine der frühesten zivilisatorischen Leistungen, entwickelt, um der Begegnung von Fremden das Mörderische zu nehmen.

Die bereits erwähnte Verschwiegenheit des Blicks bei den Empfangsdamen (die nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit der weiblichen Auges, SG S. 87) ist ein erstes Element der Erotisierung. Bei den männlichen Personen in der Rezeption treten dagegen durchweg offene Wahrnehmungsschwierigkeiten auf. Sie scheinen sich zu verstecken, in ihrem Verschlag zu knien (Prag), wollen von ihrer Lektüre nicht aufblicken (Marienbad), sind so gebeugt, daß sie den Oberkörper und das Gesicht ihres gegenüber gar nicht ins Auge fassen können (Ithaca). Der Unterschied im Schauen von Frauen und Männern ist eine dichterische Obsession, die Sebalds Gesamtwerk durchzieht, siehe auch schon in NN, die drei Nothelferinnen Barbara, Katharina und Margarethe stecken ihre Köpfe zusammen und sind im Blick verschworen gegen Blasius, Achaz und Eustach, Pantaleon, Aegidius, Cyriax, Christophorus und dem wirklich schönen heiligen Veit mit dem Hahn.





Empfangsdamen in Archiven und Museen
Namenlos, Ghettomuseum Theresienstadt

Ich stieg die Stufen hinab und betrat den Vorraum, in dem hinter einer Art Kassentisch eine Dame unbestimmten Alters saß in einer lilafarbenen Bluse und mit einer altmodisch gewellten Frisur. Sie legte die Häkelarbeit, mit der sie beschäftigt war, beiseite und reichte mir, indem sie sich ein wenig verneigte, das Eintrittsbillet. (AUS S. 285)


Diese Begegnungen sind weitaus unverfänglicher. Auf keiner der beiden Seiten ist eine besondere Verpflichtung erforderlich oder angebracht. Man trifft sich bei Tageslicht und wird bei Tageslicht wieder auseinander gehen. Die Damen tragen altmodisch gewelltes Haar oder sind beinahe transparent. Wir können noch die blaßblau ondulierte Dame an der Rezeption der nervenärztlichen Praxis hinzuzählen, die freilich angesichts der umgebenden mental disease sichtlich entsetzt ist. (AW S. 158) Die Szenen Staatsarchiv Prag und Casa Bonaparte Ajaccio weisen eine eigenartig sich kreuzende Parallelität auf. Die beiden Empfangsmenschen sind für den Besucher wegen ihrer niedrigen Position zunächst unsichtbar, der eine kniet in seinem Verschlag, die andere liegt in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel. Der Mann wird gegen eine Frau, Tereza Ambrosova, ausgetauscht, die Frau erweist sich als der Mann Bonaparte.

Namenlos, Casa Bonaparte Ajaccio

Die dämmrige Vorhalle war verlassen. Auch der Platz an der Kasse schien leer. Erst als ich unmittelbar am Tresen stand und gerade meine Hand ausstreckte nach einer der dort ausgestellten Ansichtskarten, sah ich, daß hinter dem Tresen in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau saß, ja, beinahe hätte man sagen können, lag. Man mußte förmlich über den Tresenrand zu ihr hinunterschauen, und dieses Hinunterschauen auf die wahrscheinlich nur vom vielen Stehen ausruhende und vielleicht ein wenig eingeschlummerte Kassiererin der Casa Bonaparte war einer jener seltsam zerdehnten Augenblicke, an die man sich Jahre später noch manchmal erinnert. Als die Kassiererin sich erhob, zeigte sich, daß sie eine Dame war von sehr stattlichem Format. Man konnte sie sich vorstellen auf einer Opernbühne, wie sie, erschöpft vom Drama ihres Lebens, lasciate mi morir oder sonst eine letzte Arie singt. (CS S. 12)


Die Szenen Staatsarchiv Prag und Casa Bonaparte Ajaccio weisen eine eigenartig sich kreuzende Parallelität auf. Die beiden Empfangsmenschen sind für den Besucher wegen ihrer niedrigen Position zunächst unsichtbar, der eine kniet in seinem Verschlag, die andere liegt in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel. Der Mann wird gegen eine Frau, Tereza Ambrosova, ausgetauscht, die Frau erweist sich als der Mann Bonaparte.

Tereza Ambrosova, Staatsarchiv Prag

Man mußte sich weit hinabbeugen zu dem viel zu niedrigen Schalter, wenn man mit dem Türhüter sprechen wollte, der allem Anschein nach in seinem Verschlag auf dem Fußboden kniete. Obzwar ich meinerseits bald dieselbe Stellung einnahm, gelang es mir auf keine Weise, mich verständlich zu machen, sagte Austerlitz, weshalb der Türhüter schließlich mit einer langen Suada, aus der ich nichts als die mehrmals mit besonderem Nachdruck wiederholten Worte anglicky und Anglican heraushörte, aus dem Inneren des Hauses eine der Archivangestellten herbeitelephonierte, die tatsächlich gleich darauf, noch während ich auf dem Pult eines der Besuchsformulare ausfüllte, wie aus dem Boden gewachsen, wie man sagt, sagte Austerlitz, neben mir stand. Tereza Ambrosova, so stellte sie sich mir vor, indem sie mich zugleich in ihrem etwas ungelenken aber sonst durchaus korrekten Englisch nach meinem Anliegen fragte, Tereza Ambrosova war eine blasse, beinahe transparente Frau von vielleicht vierzig Jahren. (AUS S. 213)


Funktionärinnen des Verkehrs
Namenlos und dunkel, U-Bahnschacht in London

Jetzt also stand ich auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der fraglichen Station und brauchte, um mir die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. (SG S. 283 )


Die Schwärze der Negerin ist ästhetisch, sozusagen farbtechnisch instrumentalisiert. Zugleich aber ist es eine Szene der Einkerkerung und Versklavung die damit einerseits vor dem Hintergrund des großen Kongokapitels im Saturnbuch steht, während sie andererseits sich abhebt von den befreiten, in großen Limousinen und Vans dahinrollenden Negern, Freunde Sebalds, die eine Lebensfreude ausstrahlen, die Europa vergessen und auf die es auch kein Anrecht mehr hat. Im selben Buch, nur wenige Seiten zuvor (SG S. 267) war es eine allseits weitausladende lila Limousine mit einem hellgrünen Dach, und drinnen an dem elfenbeinfarbenen Lenkrad saß ein Neger, der mir, als er vorbeifuhr, lachend seine gleichfalls elfenbeinfarbenen Zähne zeigte. In der Adelwartherzählung (AW S. 154) befindet sich Sebald auf dem Highway 17 einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder ihm durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie ihn als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herz geschlossen hatten.

Namenlos und unsichtbar, Flughafen Schiphol

Ab und zu wurde von den offenbar körperlosen, engelsgleich ihre Botschaften intonierenden Stimmen jemand aufgerufen. Passagiers Sandberg en Stromberg naar Copenhagen. Mr. Freeman to Lagos. La senora Rodrigo, por favor. Über kurz oder lang würde die Reihe an jeden der hier Versammelten sein. (RS S. 111)


Der Flughafen Schiphol scheint das genaue Gegenteil der Londoner U-Bahn. Licht durchflutet den Terminal. Die Funktionärinnen des Flugverkehrs sind unsichtbar und vorhanden nur als engelhafte Stimmen. Der da über kurz oder lang jeden aufruft kann aber nur der Tod sein. Auch Sebald wird schließlich beim Namen gerufen und nach dem Start trägt ihn der Flug über ein Gelände nicht weniger menschenfrei als die U-Bahn aus Antimaterie. Offenbar sind die Sammelplätze des Massenverkehrs Todeszonen und der Gegensatz besteht nicht zwischen London und Amsterdam, zwischen Verkehr unterhalb oder oberhalb der Erde, sondern zwischen den reisenden Massen und dem einsamen Wanderer Sebald.



Die Empfangsdamen und ihre fabulösen männlichen Substitute stellen innerhalb der Reisebekanntschaften eine klar umrissene Sondergruppe dar. Die hohe Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens ist gleichwohl erheblich herabgesetzt, da sie sich an professionellen Treffpunkten befinden. Wie Kalypso, Kirke und Nausikaa sind sie von den Reisegöttern vorbestimmt. Innerhalb der Gruppe der Empfangsdamen sind wiederum mehrere Untergruppen zu unterscheiden. Die weitaus tiefste Beziehung ergibt sich zweifellos zu den Wirtinnen, die den Gast immerhin für die Nacht in ihr Haus nehmen. Kein Wunder also, wenn sie die Identität des Reisenden zu ergründen suchen, die Sebald aber kaum je preisgibt und die auch Penelope nur erahnt. In der Goldenen Traube in Verona trägt er sich als der Historiker und Weltenwanderer Jakob Philipp Fallmerayer ein, verstorben bereits 1861, in Wertach als Auslandskorrespondent. Dabei handelt es sich kaum um Lug und Trug, denn eine stabile Identität hat Sebald nicht.

Auch wenn man an anscheinend belanglosen Nebeneingängen der Sebaldschen Prosa nestelt, erweist sie die gleiche Dichte und Unauflösbarkeit der Textur wie in den zentralen Themenbereichen. Das Pisanello abgewonnene Ideal, allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zuzusprechen (SG S. 84), ist in Sebalds Worttableaus realisiert. Wie ist das möglich, wie läßt sich ein Text bis in die letzten Einzelheiten beherrschen? Einerseits sind Sebalds Arbeiten extrem durchdacht und kalkuliert, andererseits aber ergibt sich ab einer bestimmten semantischen Dichte über die geplanten Beziehungen hinaus durch die Systemaktivität des Textes ein immenser, letztlich unendlicher Überschuß weiterer Beziehungen, man könnte sagen, die semantische Dichte verdichtet sich selbständig weiter. Wo diese Schwelle erreicht und überschritten wird, wird man auch heute noch von Dichtung sprechen wollen.

Oberschelp