W.



Der Mann ist ein armer Wurschtl,
ein Hohlkopf,
der sich halt noch nie mit so etwas beschäftigt hat.
Im Grunde beuten die Medien ihn in seiner Rolle aus,
er muss immer den Deppen machen




Sebalds politische Leitmotive



... der Standpunkt scheint mir
die wesentliche Voraussetzung für
Sozialkritik überhaupt




Sebalds politische Leitmotive treten Indirekt in seinen Werken, deutlich aber in den Interviews zutage.

Sternheim attackiert das Bürgertum, gleichzeitig vertritt er selbst bürgerliche Maßstäbe. Werk eines Sozialkritikers, der das, was er attackiert, gleichzeitig verehrt und deshalb in ein emotionales Dilemma gerät. (1971)

Was heute im Fernsehen und ähnlichen lnstitutionen sehr häufig zu beobachten ist, nämlich etwas von Round-table-Diskussionen. Man setzt Figuren von möglichst disparaten Ideologien an einen Tisch zusammen und versucht derart, die Air von Objektivität herzustellen. Jesuiten zusammen mit Kommunisten, wenn möglich. Man versucht also, indem man die Meinungen miteinander konfrontiert, Objektivität zu schaffen und es dem Publikum zu überlassen, was denn nun das Richtige sei. (1971)

Herr Kunze, Sie publizierten sowohl in der Deutschen Demokratischen Republik als auch in der Bundesrepublik Deutschland. Das sind zwei verschiedene Bezugsfelder, in denen Ihre Lyrik in Erscheinung tritt. Sie haben in beiden Teilen Deutschlands einen ziemlich großen Erfolg zu verzeichnen und ich frage mich nun, ob es eine Differenz gibt in der Funktion, die ihre Lyrik in der Demokratischen Republik hat im Verhältnis zu der Funktion, die sie etwa in der Bundesrepublik hat.
Sie verhindern wollen, dass man sie im Westen zu einen Märtyrer des Ostens stilisiert umgekehrt, nicht? Diese Art von Bild ist Ihnen bestimmt also äußerst unlieb, nehme ich an. Genauso, wie sie Wolf Biermann sich verbeten hat.
(1975)

Rainer Kunze:
Ich glaube, in der Deutschen Demokratischen Republik wie in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in anderen westlichen Ländern, haben es die Menschen nötig, zu sich selbst zurückzufinden. Das Wort 'Muße' ist verschrien. ... Wenn ich - soweit ich mir überhaupt ein Urteil erlauben darf - an die Hektik im Westen denke, an den ungeheuren Leistungsdruck, an die Reizüberflutung, die ja auch negativ ist, an diese ungeheure Anhebung der Reizschwelle, so dass nur noch das Superhöchste und Superneueste auf den Menschen eine Wirkung ausübt, an die Manipulation durch die Medien, an den Drang nach immer höheren Level und höherem Lebensniveau - jetzt bezogen auf den Konsum -, so führt das doch alles weg vom Menschen, führt ihn selbst von sich weg.
In der DDR sind es andere oder zumindest zum Teil andere Gegebenheiten, die ihn von sich selbst wegführen, zum Beispiel ist eine bestimmte, sich ständig wiederholende, sich auch in der Wortwahl und Phraseologie wiederholende ... na, wie soll ich es genau oder am besten sagen, eine ständige politische Indoktrination.

Zu Karl Kraus:
...dass er manchmal die Dinge, an denen er so besonders interessiert ist, wie die Presse zum Beispiel oder die Prostitution, soziologisch eigentlich gar nicht so recht transparent machen kann. Er sieht das fast als Naturphänomene, nicht?, die Korrumpiertheit der Gesellschaft als fast einen Naturprozess. (1977)

Ich weiß natürlich nicht, was 2013 bringen wird. Aber es ist nicht sicher, ob wir individuell und kollektiv noch so lange durchhalten. Es ist doch erstaunlich, dass wir in der Schule noch gelernt haben, die Welt wäre ewig, und wir alle sehr gut im Gleichgewicht der Natur aufgehoben. Kein halbes Jahrhundert später ist diese beruhigende Gewissheit einfach verschwunden, und eines Tages wird uns die Rechnung präsentiert. Seit wir zu dieser Einsicht gekommen sind, stehen wir unter einem enormen psychischen Druck. Ich glaube, dass uns dadurch das letzte Fundament unserer verbürgten Existenz auf dieser Welt genommen ist. Die theokratischen Stützen sind schon früher weggefallen, danach konnten wir uns mit der Vorstellung trösten, dass man als sterbliches Individuum Teil eines größeren Prozess ist, der in einer sehr beruhigenden Form abläuft.
Inzwischen steht auch diese Tendenz nicht mehr fest,
Rational gesprochen sehe ich nicht ein, warum ein anderes Wesen, das auf diesem Planeten herumirrt, weniger Lebensrecht haben sollte als wir. Es sind die Machtverhältnisse, die bestimmen, wer eingesperrt und wer gefressen wird, wer frisst und wer einsperrt. Wir sitzen alle ganz oben als die obersten Parasiten.
(1992)

Mich berührt das Verhältnis zwischen den politisch und rassisch Verfolgten und dem Volk, aus dem ich stamme. Und mich betrifft diese fast pathologische Dimension der späten Erinnerung, die Leute einholt und in den Selbstmord treibt. Ich habe dieses Verhältnis lange Zeit als eine Art Abstraktion empfunden. Wir wussten bis zum Alter von 16 Jahren überhaupt nicht, was da geschehen war. Dann wurden uns irgendwann mal in der Geschichtsstunde die Leichen auf die Schulbank geschoben.
Als ich 1966 zum ersten Mal nach Manchester kam, hatte ich einen Hauswirt, dem im Alter von 15 Jahren die Flucht aus München nach England gelungen war, seine Eltern wurden irgendwo in Litauen erschossen. Mit ihm habe ich immer nur Englisch geredet, ich habe mich nicht getraut zu fragen ...
(1993)

Heute fahren die Bauern BMW und haben schweinisch viel Geld. Das ist am schwersten zu verkraften: Dass man aus dem 19. innerhalb weniger Jahrzehnte in das 21. Jahrhundert muss. Die heutigen Verhältnisse halte ich für katastrophal, schon gar nicht mehr reformierbar.
In England sieht man das ganz genau. Das Land zerfällt, die Gesellschaftsstruktur zerfällt, der 'National Health Service' gerät in die Havarie, das Bildungssystem liegt darnieder, eine Katastrophe. Die Leute, die im Unterhaus sitzen und versuchen sollen, etwas dagegen zu unternehmen, sind rat-, hilflos, wissen nicht, wo es langgeht. Wie sollen sie es auch wissen. Die haben vier Jahre in Cambridge studiert und sind dann in die Politik eingestiegen und haben im Grunde von nichts eine Ahnung. Das ist einfach ein Missverhältnis zwischen der zur Verfügung stehenden Intelligenz und der Größe, der Frequenz der Probleme.
(1993)

Die Wiedervereinigung hatte mit Politik wenig zu tun. Es war zunächst ein Wirtschaftsphänomen, dass halt das Geld, dass hier im Westen in großen Mengen in den Kellern lag, schließlich die Mauer unterspült hat. Ich wusste immer, dass die Attraktionskraft von McDonald’s, Coca-Cola und dem MarlboroMan derartig groß ist, dass die im Osten auf-gerichteten Popanze dagegen auf die Dauer nicht ankommen konnten. Es handelte sich um eine Ausweitung des Marktes. Dass der Markt nun gefährdet ist, weil man nicht weiß, ob das Chaos des Ostens das neu gewonnene Wirtschaftsterritorium nicht wieder zerreißt, das steht auf einem anderen Blatt. (1993)

Der Fremdenhass in Rostock oder Mölln oder Solingen ist nur die Spitze dessen, was im Kopf eines jeden Normalbürgers vorhanden ist, der sich zum Beispiel darüber aufregt, dass in den Coburger Kaffeehäuser nur mehr Türken hocken. Wo man früher in Ruhe seinen Kaffee trinken konnte, da kann man das nicht mehr, weil da jetzt die Türken sitzen, die haben nichts zu tun, leben von dem Geld des Staates und sind für den Normalbürger eine Provokation. Das kann man wie eine Rache der Geschichte sehen: Das Land, das in der faschistischen Zeit versucht hat, möglichst homogen zu sein und alles auszumerzen, was nicht Deutsch ist, wird nun aufgrund der historischen Entwicklungen das Gasthaus für die ganze Welt. Das ist eine der in den Abläufen der Geschichte immer wieder feststellbare Ironien. (1993)



Jetzt fällt an Deutschland vor allem auf, dass das Land voll ist. Dass es sich in sich hin und her bewegt wie wahnsinnig und dass es ein sehr reiches Land ist, was man hier nicht so sehr sieht. Es hat eine unheimliche Wirtschaftsmacht, und in den Kellern in Stuttgart liegen tonnenweise das Geld gestapelt, bei den Daimler-Leuten und sonst irgendwo. Ich kenne solche Leute. Da fragen sich die Engländer auch: Wie haben die Deutschen das auf die Reihe gekriegt, und warum können wir das nicht?
Die Haupterklärung dafür ist, dass Deutschland als Sozialgefüge durch die Faschismuserfahrung total homogenisiert worden ist. Im Faschismus ist eine klassenmäßig völlig durchlässige Gesellschaft entstanden, jeder Bauer konnte Feldmarschall werden, wenn er den richtigen Zug hatte. Das hat 1945 nicht aufgehört. Sie haben eine Gesellschaft, wo ein Großteil der Bevölkerung in die gleiche Richtung marschiert, was gefördert wurde durch die extreme Verdrängungsleistung, denn es gab das Tabu, über die Schulter zu schauen; mindestens 20 Jahre nach dem Krieg noch.

... um auch eine Vorstellung davon zu bekommen, was die Spezies insgesamt ausgelöst. Das ist im Grunde ja ein sehr viel realeres Problem. Die Vorstellung, dass das Individuum, das einzelne autonomes Wesen, das Übergeordnete ist, das ist ja nur ein Wunschtraum, den wir in der bürgerlichen Zeit entwickelt haben. In Wirklichkeit ist das Phänomen Mensch ein kollektives, und dieses Kollektivum löst die unwahrscheinlichsten Dinge aus.
Die ganze Menschheitszivilisation war von Anfang an nicht als ein von Stunde zu Stunde intensiver werdendes Glosen, von dem niemand weiß, bis auf welchen Grad es zunehmen und wann es allmählich ersterben wird. Die Dinge sind an einem Endpunkt angelangt. Das ist eine Perspektive, über die man kaum nachdenken kann, ohne verrückt zu werden. Es gibt als Reaktion darauf zum einen den Zynismus, andererseits gibt es eine Form wissenschaftlicher Indifferenz: So ist es, und jetzt schaun wir mal, was wir machen können.

Diese Seidengeschichte ist für mich ein Paradigma des Übergangs von Natur zur Industrie. Seiden Manufaktur und Porzellanindustrie waren die ersten richtigen Industrien. An so einem Beispiel kann man gut sehen, wie wahnsinnig das ist, wenn der Mensch etwas im großen Maßstab organisiert. Wie das dann auf und ab ging mit der Seidenindustrie – das ist ein Modellfall für unser Verhalten gegenüber der Natur und für unseren Versuch, die Natur in etwas zu überführen, das wir völlig unter Kontrolle haben. Da wird produziert bis zum Umfallen, dann schmeißen wir's wieder weg, wenn wir's nicht mehr brauchen, und später pflanzen wir wieder sechs Milliarden Bäume. Es ist also eine Spezies im Kontext der Natur, die alle diese Dinge anrichtet.

Ja, die Katastrophen, die sichtbar werden, sind eigentlich … sind tatsächlich nur die Spitze der Eisberge, nicht? Der Verfallsprozess und der Auflösungsprozess ist ein sehr schleichender, der Minute für Minute, Sekunde für Sekunde tickt – und es überhaupt nicht absehbar ist, dass man dem in irgendeiner Form Einhalt gebieten könnte, nicht? Währen sie also im Allgäu in einer kleinen Stadt ein neues Kraftwerk bauen, das CO2-neutral mit Holzspänen, Holzspanverwertung arbeitet, wird im Dorf nebendran eine neue Schneeschleuder gebaut, nicht? Es ist also fortwährend irgendetwas zu Gange oder im Gange, was den negativen Gradienten der Entwicklung noch negativer macht. Und insofern ist das einfach nicht aufhaltbar.

Ja, es ist ja tatsächlich so, wie Canetti mal gesagt hat, dass man – allen absehbaren Katastrophen zum Trotz – immer noch annehmen muss, dass die Zukunft gespalten ist; dass also hinter der nächsten Ecke irgendwelche Wunder sind, mit denen wir nicht gerechnet haben. Im politisch-historischen Gebiet haben wir das ja in den letzten Jahren sattsam gesehen, dass es immer anders gehen kann, als irgend jemand das auch nur vermutet hat. Und mit der wissenschaftlichen Bewältigung der Welt ist es möglicherweise auch ähnlich. Es ist also nicht so, dass – deshalb meine ich auch, dass die Haltung eines Apokalyptikers die verkehrte ist –, es ist nicht so, dass man nicht um, wie gesagt, irgendwelche nächsten Ecken Dinge erscheinen können, von denen wir uns nichts träumen ließen.
Ja es sind winzige Dinge, nicht? Unser ganzes historisches Verständnis ist anders trainiert werden. Wir mussten ja immer glauben, dass die großen Männer und die großen Dinge die Geschichte bewegen. In Wirklichkeit ist es natürlich so, dass es winzige, unwägbare Details, Einzelheiten sein können, die riesige Probleme über viele Ecken herum, periskopisch, in eine andere Richtung lenken. Und auf diesen winzigen, unsichtbaren, unwägbaren Einzelheiten ruht die Hoffnung, wenn sie überhaupt auf etwas ruht.
(1996)

Dem Menschen ist das Zerstörerische eben leider auch mitgegeben. Wie kann er sich da loslösen von? Ja, das ist mir natürlich ein absoluter Schleier, wie man so sagt. Es ist tatsächlich der Mensch eine perverse Spezies, einen um ihren gesunden Tierverstand gekommene Spezies. Und wie man die Menschheit kollektiv in irgendeine Form der Therapie schicken kann, das weiß, glaube ich, noch niemand von uns. (1996)

Dieses Defizit reiht sich ein in eine lange Reihe von anderen Defiziten, nämlich in die Tatsache, dass überhaupt sehr wenig nachgedacht worden ist über diese Zeit. Man kann sich ja aus der ganzen deutschen Nachkriegsliteratur kaum eine auch nur halbwegs zureichende Vorstellung machen von dem Ausmaß der Verheerung und noch weniger über das mit diesen Verheerungen verbundene Grauen. Die Kehrseite davon war das so genannte deutsche Wirtschaftswunder. Enzensberger hat darauf verwiesen, dass man die rätselhafte Energie der Deutschen nicht begreife, wenn man sich gegen die Einsicht sträubt, dass sie ihren Defekt zur Tugend erhoben haben. "Die Bewusstlosigkeit", schreibt er, "war die Bedingung ihres Erfolgs". Die Quelle der psychischen Energie ist aber das Geheimnis von den in die Grundfesten des deutschen Staates eingemauerten Leichen. Ein Geheimnis, dass die Deutschen nach dem Kriege fester aneinander band und immer noch bindet als jede positive Zielsetzung, etwa die Verwirklichung der Demokratie, das jemals vermochte.(1997)

Man sieht, wie absurd das von uns organisierte gesellschaftliche Leben ist, abgrundtief absurd. Und es hat wiederum Alexander Kluge, der klügste Schriftsteller in der deutschen Nachkriegszeit, mit großer Deutlichkeit gesagt, dass es uns als Spezis offenbar möglich ist, zur Herstellung von Zerstörung die kompliziertesten und fantastischen Dinge zu organisieren, aber nicht zur Verbesserung der Gesellschaft oder der Lebensverhältnisse. Das ist ein Paradox, das in sich ein Geheimnis birgt. Und wenn wir hinter diese Geheimnis unserer inneren Konstitution kommen könnte, wäre einiges gewonnen. (2000)

Wenn man sich überlegt, was die Deutschen von allen anderen europäischen Völker unterscheidet, so bleibt vor allem, dass sie eine ungeheure Schande zu tragen haben. Das ist das polare Gegenteil zu dem, woran eine Nation sich üblicher Weise ausrichtet. Nehmen Sie Frankreich: Wenn man in Paris in der Metro sitzt, fährt man sämtliche Stationen in der französischen Ruhmesgeschichte ab. Von dieser Idee der "gloire" zehren die Franzosen heute noch. Die Legitimierung einer Nation ist ihr Selbstbewusstsein, das, woran man zurückdenkt, wovon man sich herschreibt. Das fehlt uns vollkommen, unsere Geschichte ist eine Geschichte der Schande. Es ist ja nicht nur die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, sondern es ist das Debakel der Weimar Republik, die Lächerlichkeit des Kaiserreichs, das Krähwinkelhafte des Biedermeiers, das führt zurück bis in den Dreißigjährigen Krieg. Und dann natürlich diese zwölfjährige Phase, in der man glaubte, sich zur Herrschaft über den Rest des Erdballs auf schwingen zu können. (2000)

Man muss sich das einmal vorstellen, diese Euphorie bei den Deutschen im Jahre 1941: Das muss ungeheuer gewesen sein, nicht nur bei den Aufmärschen, sondern unter dem Zwerchfell eines jeden einzelnen, der sich schon als Gouverneur von Kiew oder sonstwo sah. Die Möglichkeiten für den Einzelnen, nach oben zu steigen, waren nie zuvor in der europäischen Geschichte – nicht einmal in der napoleonischen Zeit – derart ausgeprägt. Und dann dieser totale Kollaps innerhalb von zwei Jahren! Zudem die Tatsache, dass diese Geschichte auf der Wahnidee aufgebaut war, aus Europa ein sauber ausgekehrtes Haus zu machen, in dem es keinerlei "zwielichtige Elemente" mir geben sollte, eine Art Hygienesierung Europas. Und dann der eigene Absturz in eine soziale Existenz, die absolut schandbar war! Man lebte in Kellerlöchern, die Ratten liefen überall herum und ernährten sich von Dingen, die man sich besser nicht ausmalen wollte. Das war das Gefühl in der unmittelbaren Nachkriegszeit: Aus diesem Loch werden wir nie herauskommen! Das kollektive Empfinden muss ein Empfinden der Schande gewesen sein. (2000)

Belgien ist für mich so ein Paradigma für Europa. ...mit der Festung Breendonk beschäftigt. Was wiederum für mich so eine Art Metapher ist für den Wahnwitz unserer kollektiven Bemühungen als Spezies. Die Menschen sind ja eine verrückte oder nicht mehr normale Spezies und entwickeln dauernd irgendwelche bizarren Projekte, für die vielleicht dann der Festungsbau und ein solch scheußlich es Gebäude wie Breendonk ein sehr gutes Beispiel ist. Der Festungsbau ist ja in seiner ganzen Anlage, also in den Plänen, die für die Festungen gemacht wurden, geradezu das Exempel für den rationalen menschlichen Geist. Wenn man so einen von Vauban gezeichneten Plan vor sich sieht, dann staunt man über die geometrische Detailliertheit, mit der diese Pläne ausgearbeitet wurden nach einem vollkommen rationalen System. Dass das Ganze trotzdem wahnsinnig ist, ist dem Vauban nicht in den Kopf gekommen.

Und so ist das natürlich überhaupt mit der ganzen Geschichte der Aufklärung, die auch von vollkommen rationalen Prinzipien ausgeht, aber sich dann im Laufe ihrer Entwicklung zu immer unsinnigeren Mustern entfaltet. Also die Strafanstalten, die Irrenanstalten, die Schulen, die Waisenhäuser, all diese Institutionen wurden ja, aus guten Motiven heraus, und in dem Glauben, dass man mit der Vernunft alles regeln können, gebaut. Und überall, nicht? In England haben wir die workhouses. Wenn Sie hier in der Gegend von Norwich herumfahren: Alle fünf Meilen steht hier so ein altes riesiges workhouse, wie bei Dickens. Das sind heute flats, drinnen gibt es Wohnungen oder Hotels, aber das heißt, dass im 18., 19. Jahrhundert die ganze verarmte Bevölkerung interniert wurde. Also das heißt, diese von den Menschen ausgedachten Systeme annullieren sich selber in ihrer Entwicklung, sie tendieren vom Sinn zum Unsinn, immer prinzipiell. Das ist so ein Grundgesetz wahrscheinlich dessen, was wir tun. Wenn wir immer nur wie eine Amsel dasselbe Nest bauen würden, dann würde uns dieses Problem nicht passieren, aber wir müssen uns immer entwickeln. Breendonk ist so ein Ort, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass es sie überhaupt gibt. Für mich ist es, was diese deutsche Geschichte, die Verfolgung der Juden, der Homosexuellen, der Zigeuner und so weiter betrifft, immer unmöglich gewesen, Orte wie Treblinka oder Auschwitz mir vorzustellen, weil die Dimensionen einfach zu unfassbar sind.

Für mich aber ist es sehr wichtig, wenn ich irgendwo hinfahre zu begreifen, was das Land für eine Geschichte hat, was es für Zusammenhänge gibt zwischen dem walisischen, extremen Puritanismus und der Art, wie die Waliser Berge ausschauen. Für mich sind das endlos interessante Dinge, und vor allem – da es ja so ist, dass die Unterschiede immer weiter eingeebnet werden – habe ich immer das Gefühl, dass man jetzt gerade noch sehen kann, wo man herkommt. Noch mal 50 Jahre, und keiner von uns wird mehr wissen, wo er herkommt. Das ist mir wichtig, für mich persönlich. Ich kann nicht anders leben, als dass ich mir über diese Dinge Gedanken mache. Ich glaube, dass uns das vorgeschrieben ist, d.h., dass mehr oder weniger mit der Generation der jetzt 40-, 50-jährigen das Geschichtsbewusstsein nach und nach aufhören wird. Ich kann mir das nicht genau erklären, aber ich fühle mich jetzt selbst schon etwas schuldig in dieser Hinsicht.

Das Wissenschaftsideal, mit dem wir alle aufgewachsen sind, ist ja eine sehr abstrakte Sachen gewesen. Wir wissen alle, dass wir in unseren Universitätsarbeiten nie "Ich" schreiben durften, das wurde uns von Anfang an eingebläut, dass das die falsche Annäherung an die Gegenstände des Studiums sei. Alles Subjektive musste aus der Wissenschaft heraus, und die Wissenschaft in dieser Abstraktionsform ist natürlich so etwas wie eine sich immer weiter fortwälzende Akkumulation von Fach- und Sachwissen. Nun ist diese Form der Material-sammlung natürlich nicht vollkommen unnütz, aber ich glaube, sie wird für uns produktiv erst in dem Augenblick, indem wir unsere subjektive Erfahrung hineindenken in das von uns erforschte Umfeld. Anders geht es nicht. Und das waren ja auch Gedanken, die Adorno sehr einschneidend verfolgt hat. Einerseits forderte er so etwas wie einen materialistischen Diskurs, den der deutsche Idealismus und seine Nachgeborenen aber nicht hochkommen ließen; und andererseits die Interpolation einer radikal subjektiven Erfahrung in diesen Diskurs: der eigenen Psychologie, der eigenen Trauer, der eigenen Hoffnung, der eigenen Lust und so weiter.

Der Bumerang - er kommt zurück

Fridolin Schley und Mario Gotterbarm:
Beide wollen Sebald eigennütziges Verhalten feldstrategischer Art nachweisen. Nur scheinbar der Wahrheitsliebe verpflichtet, gehe es ihm beim Abwerten von Autoren wie Andersch oder Becker in Wirklichkeit um Selbstinszenierung als akademischer Ketzer, und in seiner Doppelrolle als Germanist und Schriftsteller darum, durch Herabsetzung von Erzählern der Gruppe 47 die legitime Holocaustliteratur zu monopolisieren. Für Gotterbarm ist das Image vom sensiblen Erinnerungskünstler grob falsch. Sebald tut, so Gotterbarm, den betroffenen Schriftstellern „hermeneutische Gewalt“ an. Auch in seinen den Erzählungen übe der vorgebliche Moralist Gewalt aus - indem er als impliziter Autor ins Leben jüdischer und nichtjüdischer Realpersonen einwandert, ihr biografisches Material auf „unmoralische Art“ verbiegt.
Richtig ist, dass viele sich ärgern sich über Sebalds wiederholte Polemik gegen unsere einheimische Autorenprominenz.
Gotterbarm dich ihrer ...

Bei seinen Annäherungen an Sebald hat Uwe Schütte folgendes Zitat von Sebald aufgefischt:
Für eine Dissertation ist es eine gute Strategie, sich einen Autor zu suchen, den man verachtet; dies gibt Energie, sich der lustvollen Demontage von dessen Werk zu widmen.
1992 flüstert Sebald seinem Vertrauten Schütte zur Qualität eines Enzensberger-Auftritts zu:
Sieht du, Uwe, auch große Geister können manchmal einen ganz schönen Scheiß erzählen!