Sebalds Übersetzer muss sich an dem Text versündigen



Sebald der Trapper, der Fallensteller


von Vasile V. Poenaru


Sebalds Ringe des Saturn - eine Wallfahrt durch Wort und Gemüt

Der Autor dieser Zeilen (was hier wohl heißen will: ich – oder doch jedenfalls eine Instanz von mir, die sich in etwa mit dem deckt, was in der Linguistik als erste Person Singular bezeichnet wird) durfte vor kurzem Sebalds Ringe des Saturn für den Curtea Veche Verlag Bukarest aus dem Deutschen ins Rumänische übersetzen. Die notgedrungene Verlangsamung der Lektüre ließ dabei jedes Wort so lange um mich herum kreisen, dass ich bald nicht mehr wusste, ob die Wörter je verklingen oder auf immer und ewig in meinem Ohr leuchten werden, dass ich gar nicht mehr wusste, wo Sebald aufhört und wir, die anderen, anfangen.

Denn es geht ja bei Sebald im weitesten Sinne stets um uns alle, um uns Menschen, um die durch Reflexion festgehaltenen Konstrukte unserer Vorstellungsweisen, ihrer erzählbaren Geschicht-lichkeit.

Kollektive Identität bei Sebald: Wie definiert man sie, wie kommt man ihr auf die Schliche?

"W.G. Sebald. Austerlitz. Ich." . So formuliert es etwa Ulrich Schäfer-Newiger. Der Titel seines Aufsatzes bekundet die Befangenheit des Subjekts, des Lesers, des Übersetzers, das Gefühl, nein, die Gewissheit, dass diese Worte, Sebalds Worte, die nicht mehr weg wollen, die von nun an einfach da sind, einen angehen. Auf Schritt und Tritt begleitet den Leser das Echo der Geschichte, eine sich ins Unendliche steigernde und gleichsam im Nachhinein sinnstiftende Rekapitulation dessen, was war. Das Erstarren der Zeit in einer verhängnisvoll paradigmatischen Anschauungsweise eines Modells, in dem alles da ist, aber nicht (mehr) in Bewegung kommt. Der Text als Falle, als schwarzes Loch, als ein fernes Bezugsystem, zu dem der gesunde Menschenverstand auf begrifflicher Ebene kaum einen Bezug hat. Irgendwo liegt der Autor auf der Lauer: eine Instanz, in der mehr steckt als nur der Ich-Erzähler. Noch zappelt die Beute, die Leserschaft, der Übersetzer, doch weg kann man da nicht.

In Sebalds eigenartigen Reisen (und Teufelskreisen), in Sebalds eigenartigen Schriften geht es immer um mehr. Sein Satzbau ist oft kapriziös, seine Klarheit verwirrend, seine Intertextualität überwältigend. Es fällt schwer, derartig multidimensionale Welten in Griff zu bekommen, wie Sebald sie stiftet, entdeckt, zurück bringt ins Sagbare. Es fällt auch schwer, Sebald kritisch zu lesen, und zwar nicht nur weil er allgemein gepriesen wird, sondern vor allem auch, weil das, was er wirkt, irgendwie gleichsam als loses Konstrukt souverän dasteht. Bejahen: kein Problem. Anpacken: ja wie denn bloß?

Es wird was gewoben. Schwindel.Gefühle etwa, diesen Titel kann man ja eigentlich gar nicht übersetzen, denn die etwa durch die geltende englische Fassung, Vertigo, wiedergegebenen Schwindelgefühle sind zwar im deutschen Original durchaus enthalten, sagen jedoch bei Weitem nicht the whole story. Wenn Sebald historische, literarische und sonstige Szenen aus der Vergangenheit wiederbelebt, in den Vordergrund der Reflexion, besser, in den Vordergrund der Veranschaulichung, der Empfindung, der Aneignung fremder Begebenheiten und Befunde bringt, sie (erneut) Wirklichkeit werden lässt, sie sozusagen allgemein-verbindlich zur Schau stellt, blickt eine Begrifflichkeit durch, die das Wesen kommunikativer Prozesse aufzeigt, so wie sie u.a. auch in Kafkas

in die Wege geleitet wird – in die sich in düsteren Mäandern des Konjunktivs verlierenden Wege des kaiserlichen Boten, der andauernd in einem dem Empfänger der Nachricht, dem Individuum, dem Einzelnen gegenüber disjunkten Modus der Formulierung befangen ist. Wie der Jäger Gracchus ist dieser Bote, "der dich nie und nimmer erreichen wird", für Sebalds Werk eines der wichtigen, der maßgebenden, gerade in seiner Vermessenheit, in seiner grundlegenden Unbehaglichkeit richtungweisenden Bezugsysteme.

Kollektive Erinnerung potenzieren, generieren, produzieren, das basiert immer wenigstens zum Teil auf Schwindel. Gefühle werden in der Gruppe der Rezipierenden wachgerufen, gleichschaltende Gefühle, die zu standardisierten "Erinnerungen" führen. Das Individuum, der Einzelne, wird nicht individuell erreicht, und es sind auch nicht individuelle Bilder, an die er, der Einzelne, seine Vorstellungen von der Wirklichkeit klebt, sondern Sinnbilder: allgemein-zugänglich, allgemein-verbindlich.

Die Ringe des Saturn stehen im Zeichen der Melancholie (des Hundssterns), doch sie stehen zugleich im Zeichen des Ringens um Sagbarkeit, um Luft, um geschichtliche Einsicht, um carthesianische Klarheit, um intuitive Wahrheit, um Sinn, um Sein. Ein multidimensionaler Hilfeschrei des Menschen, dieses gebrechlichen, dieses reflektierenden Lebewesens kommt dadurch zu Stande, dem der Leser in der Zweidimensionalität eines gedruckten Redetextes Hoffnung abgewinnen muss. Das fällt nicht leicht.

Durch dick und dünn. Durch das, was mal war und ungesagt blieb, durch das, was mal wird, was sich als Schmetterling entpuppt, entwickelt, entfaltet und dahin fliegt. Ein Werdegang. Eine Verwandlung. Eine Wanderung.

Sebald erkennt Zusammenhänge, er geht aufs Ganze, bannt Zeitgeschehen in die stille Geworfenheit seines zeitlosen Konstrukts. Es ist stets eine inwendige Landschaft, die (auch) ermessen wird, es handelt sich stets um ein Abenteuer des Geistes, um einen anderen Sinn, den es da noch hinter dem Klang der Worte zu erhaschen gilt: um ein anderes Wort, ein besseres Wort, nach dem der Übersetzer Ausschau halten muss.

Die Lektüre der Ringe des Saturn gleicht einer Initiation, sie hat etwas Esoterisches an sich, man verliert beim Lesen seinen objektiven Standpunkt, wird zwingend aufgeklärt (was oft heißen will: zwingend irregeführt), meint gerade das sagen zu wollen, was Sebald sagt, meint es schon immer gewusst zu haben, so, in dieser Art und Weise, und nicht anders. Es geht um eine tiefere Authentizität als diejenige der Tatsachen. Und doch: Jene gründet auf dieser.

Auf Seite 21 seines Reiseberichts besonderer Art (so der Klappentext zu diesem vielfach ergreifenden und erwiesenerweise durchaus eine breitere Leserschaft ansprechenden), an einem guten Stück nicht nur britischer und europäischer kulturhistorischer Bedingtheit unternommenen Sezierungs-versuchs, den er Die Ringe des Saturn (Untertitel: Eine englische Wallfahrt) nennt, thront


Brownes Schädel.

Ungleich Goethe, der ja bekanntlich


Schillers Schädel

nach dessen frühzeitigem Ableben vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte (und auch mal ein Gedicht darüber verfasste), ihn aber (fast) niemandem zeigte, bindet Sebald die im Kontext etwas schockierende, ja geradezu naturalistische Abbildung des Schädels in den öffentlichen Diskurs rund um Thomas Browne und die zeitgenössische Rezeption seiner Werke ein.

Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute,
Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute.

Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten,
Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen,
Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.

Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen,
Fragt niemand mehr, und zierlich tätge Glieder,
Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen.

Ihr Müden also lagt vergebens nieder,
Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben
Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder,

Und niemand kann die dürre Schale lieben,
Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte,
Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben,

Die heilgen Sinn nicht jedem offenbarte,
Als ich inmitten solcher starren Menge
Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte,

Daß in des Raumes Moderkält und Enge
Ich frei und wärmefühlend mich erquickte,
Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge,

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,

Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?

Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend
Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.

Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.


Bei Sebald ist alles ein bisschen anders. Sein von der Norm abweichender Satzbau zwingt die Leser aus eingebürgerten Typologien der Lektüre, aus den grundlegenden Intuitionen dessen, was als wahrhaftig zu gelten hat, heraus. Sebalds Übersetzer muss sich an dem Text versündigen, denn solcherlei Abweichungen von der Norm können in der Zielsprache nicht gut sinngemäß entsprechend beibehalten werden, zumal es ohnehin problematisch ist, dabei den zufälligen Einfluss des Englischen von zweckmäßiger Intention zu unterscheiden, etwa auf S. 295: Es war daher mit einer gewissen Erleichterung, dass ich am folgenden Morgen das Swan Hotel verließ.

Die Bedeutungskonstellation der Unwillkürlichkeit schwingt oft mit und zeitigt ein Erlebnis subjektiv differenzierter, umständlicher Wahrnehmung.

Die innere Wallfahrt ist eine Verwandlung. Sebald geht einfach davon aus, dass der Leser weiß, wer Sebald ist (wobei der zweite Sebald dieses kurzen Satzes sich wohlgemerkt nicht hundertprozentig mit dem ersten deckt). Der lange Weg vom Ich zum Wir: Hier fängt er an.

Sebald stellt es schlau an. Er geht aufs Ganze und hat gerne mal auch Zeit fürs Detail, für die Bausteine seines Schnapschusses menschlichen Werdens. Man kann die Ringe (oder sagen wir mal das Schwindeln rund um die Gefühle) unter Heranziehung vorzüglicher relevanter Studien erkenntnistheoretisch und stilistisch um die großen Themen Leben, Krankheit, Tod, Schuld, Krieg, Zerstörung, Schreibenkönnen und Weiterreichen von Erinnerung kreiseln lassen – oder sich einfach dem Genuss der Lektüre hingeben, was ja abgesehen von ein paar wenigen Stellen so im großen Ganzen auch ohne Vorwissen erstaunlich gut klappt.





Sebald ist eben einmal der Trapper, der Fallensteller, wir, die Leser, sind sein Wild – in den Ringen befangen, die die Zeit aufhalten – oder doch jedenfalls anhalten. Sebalds Schilderungen greifen durch die politics of memory, durch die Vorstellungswelt einer begrifflich übertragbaren Geschichtlichkeit, der Entwicklung im progressiven, im linearen Sinne. Eingewickelt in den Bildern dieser Welt, die ein Mann entwirft, dem ein Übermaß an stilisierter und immer wieder vom Autor als solcher ausgewiesener Subjektivität der Darreichung seiner Geschichte dient.

WIENZEILE

Vasile V. Poenaru, geboren 1969, österreichisch-rumänischer Germanist, Autor, Übersetzer. Hochschullehrer an der Universität in Toronto (Translations-wissenschaft, Deutschsprachige Literatur und DaF), wo er lebt. Redakteur und Kolumnist bei kanadischen Zeitungen.
2013 Antoaneta Ralian-Übersetzerpreis für die beste Übertragung eines fremdsprachigen literarischen Werkes ins Rumänische.