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Können Fotos lügen?



Oder: Schuldhafte Phantasterei?


Ueli Raz aus Bern*) - dem gescholtenen Autor nicht unähnlich - schreibt:
"Bis zum Tod 2001 durch einen Autounfall erscheinen vier überaus erfolgreiche, und zwar in verschiedenen Sprachregionen sehr schnell gefeierte Prosawerke: Schwindel. Gefühle (1990), Die Ausgewanderten (1992), Die Ringe des Saturn - Eine englische Wallfahrt (1995) und Austerlitz (2001).
Der Übergang zu ihnen von den akademisch-essayistischen Texten geschieht kaum merklich, so dass dem Genuss der literarischen Werke ohne Trübung ein solcher der ersten Arbeiten folgen kann.
Als Zusätze erscheinen der Autor selbst - zuweilen ein ganzes Knäuel von Erzählenden -


und die Lüge.

Ich war damals, im Oktober 1980 ist es gewesen, von England aus, wo ich nun seit nahezu fünfundzwanzig Jahren in einer meist grau überwölkten Grafschaft lebe, nach Wien gefahren in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen.

Ende September 1970, kurz vor Antritt meiner Stellung in der ostenglischen Stadt Norwich, fuhr ich mit Clara auf Wohnungssuche nach Hingham hinaus.

In August 1992, when the dog days were drawing to an end, I set off to walk the county of Suffolk, in the hope of dispelling the emptiness that takes hold of me whenever I have completed a long stint of work.

In der zweiten Hälfte der sechzigerjahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, von England aus wiederholt nach Belgien gefahren, manchmal bloß für ein, zwei Tage, manchmal für mehrere Wochen.

In allen Stücken gibt es einen Icherzähler, der zu einem realen Zeitpunkt, meistens nach 1980, entweder sich an einem realen Ort aufhält, den er beschreibt, oder sich in einem Raum bewegt als Reisender, als Verreisender, als Wanderer, als Auswanderer, als Rückkehrer, als Heimatloser.

Sebald gibt seiner gewöhnlichen biographischen Herkunft aus einem bayrischen Voralpenkaff eine Bedeutung, von der er nicht lassen will:
Auch diese abgelegenen Flecken der Welt waren Nester des Faschismus, auch ihre verstreute Bevölkerung von Armen stellte zuhauf Akteure der Schuld des Faschismus (nach 1970 unterdrückte er seine deutschtümelnden Vornamen und liess sich Max rufen).

Orte und einzelne Menschen, Räume und erinnerte Lebensgeschichten - das sind keine komplexen Beziehungs- und Gedankengebilde, die ein gesellschaftliches Gefüge besser verstehen lassen würden. Anstoss zum Erzählen bilden Einzelheiten, die in einen Verlauf gestellt werden. Und so sind Sebalds Stücke idealtypische Verlaufsgeschichten, zuweilen linear und kurz, dann gebrochen, aufgeschichtet oder mit Einschüben versehen, die selbst auch vielfältig auswachsen und komplex dastehen dürfen, zumal alle Prosatexte mit Fotos des Autors durchsetzt sind, entweder die äussere Wirklichkeit abbildend oder bloss Dokumente, die im Text zur Sprache kommen, also auch Fotos beziehungsweise Bilder und Zeichnungen aus Dokumenten.







Je verzweifelter und abgründiger sich die Lebensgeschichte und der Terror gegen sie entfalteten, desto mehr machte sich ein Misstrauen breit. Die Bestätigung dann im Internet, dass Sebald in allen Prosatexten die Fakten mit Phantasien erweitert, brachte wieder Ruhe in den Lesefluss, so dass ganz der objektiven Erfordernis der Stücke gefolgt werden konnte, die Darstellung von Stimmungslagen genau ins Auge zu fassen und nicht die Einzelfakten auf ihre Verlässlichkeit hin zu überprüfen.
Man akzeptiert, dass in einem Text konstruiert wird, um einen komplexen Zusammenhang wie den Lebensverlauf (recte: Sterbensverlauf) im Holocaust als Gesamtbild darzustellen, dessen Grauen nicht durch die Summe empirischer Gegebenheiten als verständliches Gebilde füglich gezeichnet werden könnte; denn das Grauen selbst ist nicht mehr verständlich und zuinnerst also die


Lüge

selbst.

Doch wie weit darf ein Autor im literarischen Erfinden der Lüge Raum geben?

Wenn erst einmal deutlich geworden ist, dass die Lüge als Fiktion ihren Platz im Textgefüge innehat, wo immer sie hineinpasst, wird die Lektüre strapaziert, weil es meistens nicht möglich ist, sie zu durchschauen oder dann, wenn man eine vermutet, ihren Sinn klar zu erkennen.

Da die Fotos keine Quellenangaben enthalten, betrachtet man sie des öfteren mit Verärgerung, insbesondere in den zwei Büchern Austerlitz und Die Ausgewanderten, da sie Authentizität suggerieren sollen, zuweilen aber, ist man erst dem Trick auf die Schliche gekommen, in aller Offensichtlichkeit vom Autor fingiert worden sind, manchmal launisch und ohne rechte Intention, manchmal den Gang der Geschichte erst konstituierend.
Dieses schuldhafte, lügenhafte Phantasieren kippt in Phantasterei um, wenn Ereignissen und Gegebenheiten Koinzidenzen und Beziehungen unterschoben werden, wo es peu à peu doch allen Lesern dämmert, dass weder die eine noch die andere Seite solcher Beziehungen der Realität entnommen ist. Nur der Autor scheint unverfroren an seine Texte zu glauben, in denen er sich hütet, aus einer zwar warmen und angenehmen, nichtsdestotrotz wabernden Sprache der Romantik auszubrechenden und in ihr selbst anzudeuten, wie denn dem Geschilderten begegnet werden müsste.

Alles geht in den Texten seinen normalen, realen Gang, der das Reale selbst darstellen soll. So wundert es denn mit der Zeit nur wenig, dass das Unglück der gejagten Juden nicht mehr aus den Handlungen bestimmter gesellschaftlicher Akteure abgeleitet wird, sondern als Unglück an sich in der Existenz überhaupt gesehen wird (dem historischen Existentialismus hatte der junge Sebald noch widersprochen), ganz aus dem romantischen Abhub herausgefischt in der unendlichen und abgründigen Natur des Menschen.

Bisweilen ist es mir in den Tagträumen, denen ich mich in dem Lesesaal überließ, so gewesen, sagte Austerlitz, als sähe ich, auf den schräg vom Erdboden zu dem Nadeldach aufsteigenden Seilen, Zirkusartisten, die sich mit ihren an den Enden zitternden Balancierstangen Fuß vor Fuß in die Höhe tasteten oder als huschten einmal da und einmal dort, immer an der Grenze der Unsichtbarkeit, jene beiden Eichkatzen herum, von denen eine apokryphe Geschichte, die mir zu Ohren gekommen ist, behauptet, daß man sie hier ausgesetzt hat in der Hoffnung, sie würden sich vermehren und zur Zerstreuung der gelegentlich von ihren Büchern aufblickenden Leser eine zahlreiche Kolonie ihrer Artgenossen begründen in diesem künstlichen Pinienhain. Mehrfach ist es auch vorgekommen, sagte Austerlitz, daß Vögel, die sich in den Bibliothekswald verirrten, in die in den Glasscheiben des Lesesaals sich spiegelnden Bäume hineingeflogen und, nach einem dumpfen Schlag, leblos zu Boden gestürzt sind. Ich habe an meinem Platz in dem Lesesaal viel über das Verhältnis nachgedacht, sagte Austerlitz, in welchem solche, von niemandem vorhergesehene Unfälle, der Todessturz eines einzigen aus seiner natürlichen Bahn geratenen Wesens ebenso wie die in dem elektronischen Informationsapparat immer wieder auftretenden Lähmungserscheinungen, zu dem cartesischen Gesamtplan der Nationalbibliothek stehen ...



Es gibt aber das Recht nicht, die Dialektik von Natur und Geschichte ausser Kraft zu setzen.
Man muss benennen: es sind die brüllenden Führer, die die Parolen ausgeben, es sind die Medien, die sie wie Mist übers Volk verzetteln, und es sind im Staatsapparat die Wissenschaftler, Techniker, Ärzte und Dienstpersonen, die die immer faschistischer werdenden Regeln in den Alltag überführen. Man darf sich nicht dazu verleiten lassen, alles als schlecht zu qualifizieren, wenn das gesellschaftliche Schlechte zur Sprache kommen soll. Bei Sebald, der das Unglück von Anfang an zum Thema hatte, dünkt es einem in zunehmendem Masse vernebelt."

*)Ueli Raz

PS

Wegen der auffälligen Parallelen zwischen Verfasser und Ich-Erzähler, aber auch wegen der vermeintlich durch Fotografien eingeführten visuellen Beglaubigung des Erzählten sind gerade Die Ausgewanderten von den ersten Lesern als authentische Lebenszeugnisse W. G. Sebalds rezipiert worden. Dass auch professionelle Leser vor einer solchen Fehllektüre nicht gefeit sind, belegt Heinrich Detering. Er schreibt:
"Das Erstaunlichste an diesen Geschichten ist der Umstand, daß sie allesamt wahr sind. Henry Selwyn und Paul Bereyter, Max Aurach und Ambros Adelwarth: Sebald ist ihnen allen irgendwann begegnet und hat Jahre damit verbracht, ihre Geschichten anzuhören, die Schauplätze zu bereisen und die kostbaren kleinen Fundstücke zu sichern, die er in sein Buch eingefügt hat. Nicht bloß Illustrationen sind diese unscharfen Photographien und Visitenkarten, diese Zettelchen und Zeitungsausschnitte, sondern Teil der Geschichten, deren unglaubliche Wahrheit sie beglaubigen." (FAZ 17.11. 1992)