Christians Mini-Kosmos


Fehlurteil ?

In der Zeitung war Anfang des letzten Jahrhunderts zu lesen:

Die Monumentstraße 1 in Braunschweig heißt heute Kurt-Schumacher-Straße, in dem Neubau hat eine Fahrschule ihren Platz. Der Vorfall spielt sich am 17. Oktober 1905 ab.

Entsetzt über sein Tun und das viele Blut verlässt Karl das Haus, irrt die ganze Nacht in Braunschweig umher und stellt sich am nächsten Morgen der Polizei.

Ein knappes Jahr später erhängt er sich.

Am 26. Februar 2020 verkündet das BVerfG dieses bahnbrechende Urteil . Das höchste deutsche Gericht führt aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 GG das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse.
Dieses Recht schließe auch die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, sei im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasse auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.
Folglich sind damit auch Dritte, die zum Suizid Hilfe leisten, straflos.

Wie kam es zum Tun des Karl Brunke, der als "Mächenmörder Brunke" in die Kriminalgeschichte eingegangen ist?

Über ihn ist wenig bekannt. Der Sohn eines Schlossers wird 1887 geboren. Nach abgebrochener Oberschule beginnt er 1904 eine Bankenlehre. Seine Bewerbung bei der Marine war an seiner „schwächlichen Natur“ gescheitert. Karl Brunkes Lektüre sind philosophische Werke wie Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft", er spielt Klavier, schreibt Bühnenstücke, die er (erfolglos) an mehrere Theater verschickt.

Im Frühjahr 1905 erscheint eine Zeitungsannonce, womit ein Braunschweiger namens Haars für seine beiden Töchter einen Klavierlehrer sucht. Brunke meldet sich, er verspricht sich Frauenkontakt. Honorar für die Klavierstunden bekommt er keines. Er behauptet, in seiner Kindheit von einem Erwachsenen sexuell missbraucht worden zu sein und als Jugendlicher zahlreiche sexuelle Begegnungen mit gleichaltrigen Mädchen unterhalten und sein ausschweifendes Leben durch Unterschlagungen und Diebstähle finanziert zu haben. Die Töchter des Kaufmanns seien aber vollständig unschuldige, anständige Mädchen gewesen, unzüchtiger Verkehr habe sich verboten.

Da erhält Martha Haars einen Brief ihres Verlobten in Russland, der ihr mitteilt, sein Vater würde einer Eheschließung nicht zustimmen. In ihrer Verzweiflung wendet Martha sich an Karl, ihr Morphium zu beschaffen, um sich umzubringen zu können. Als dies nicht gelingt, bittet sie ihn, sie zu erschießen.

Zur selben Zeit teilt Karl ihrer jüngeren Schwester Alma seine eigene Verzweiflung mit. Überall lehne man ihn ab, versage ihm die Anerkennung als Schriftsteller. Daraufhin schlägt Alma vor, sie alle drei sollten sich umbringen.

Geplant ist das für Mitte Oktober. Sie gehen zusammen aus, sehen sich eine Vorstellung im Varieté an, trinken Wein, blasen dann das Vorhaben ab, verabreden es erneut für den 17. Oktober 1905.

Die 1. Stafkammer beim Landgericht Braunschweig - die Sitzung beginnt am 21. März 1906 - verurteilt Brunke wegen Diebstahls in 20 Fällen und wegen Tötung zu acht Jahren Gefängnis, am 1. August 1906 erhängt sich dieser in seiner Zelle.

Für die Strafkammer spielt die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten eine zentrale Rolle, das Gericht - unüblich in damaliger Zeit - erholt mehrere psychiatrische Gutachten, die den Angeklagten übereinstimmend als degeneriert und minderwertig, aber weder als geisteschwach oder -krank einstufen. Das Opfer Martha Haars schätzt die Kriminalpsychologin Helene Friederike Stelzner als pathologisch ein, Alma sei der Suggestion der älteren Schwester verfallen gewesen.
Zitat aus dem Gutachten Stelzners :
„Ganz anders liegt die Sache bei Brunke. Er ist ein ziemlich uninteressanter Typus des männlichen Hysterikers: eitel, verlogen, feig, selbstgefällig und willenlos. Seine Willenlosigkeit treibt ihn zu Lastern, die seinem ästhetischen Empfinden abstoßend erscheinen mußten; sie wird weiter repräsentiert durch seine starke Suggestibilität. Das induzierte Irresein ist ja schließlich nichts anderes als eine Suggestivwirkung, deren Stärke um so größer sein muß, je weniger die suggerierte Idee den Charakter des Natürlichen und Wahrscheinlichen hat, und je weniger die zu suggerierende Person Urteilskraft und Willen hat.“



Die Rechtsprechung unterscheidet verschiedene Fallgruppen straffreier Sterbehilfe. Sie umfassen einerseits die indirekte Sterbehilfe als Inkaufnahme eines früheren unbeabsichtigten Todeseintritts bei einem sterbenden oder todkranken Menschen infolge einer medizinisch indizierten schmerz- oder in sonstiger Weise leidensmindernden Therapie, andererseits den sogenannten Behandlungsabbruch als jede aktive oder passive Begrenzung oder Beendigung einer lebenserhaltenden oder lebensverlängernden medizinischen Maßnahme im Einklang mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen. Jenseits dieser Fallgruppen ist die einverständliche Fremdtötung als Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB strafbar.

Damit hat Brunke sich - gemäß damaligem wie heutigem Rcht - nach § 216 StGB strafbar gemacht (heute: 6 M bis 5 J Freiheitstrafe). Er hat 2 Menchen getötet, weil er die Herrschaft über den sog. „point of no return“ innehatte. Die Getöteten haben dies auch verlangt, d.h. sie haben nicht nur eingewilligt, sondern aktiv auf Brunke eingewirkt und zwar ausdrücklich durch eindeutige und unmissverständliche Worte.
An der Ernstlichkeit ihres Verlangens könnten Zweifel bestehen (vgl. Gutachten Stelzner), nämlich wegen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit von Alma und Martha, sie dürfte aber bei beiden Mädchen vorgelegen haben.

Etwa ein Jahrhundert nach diesen Ereignissen schreibt ein bekannter Schriftsteller, der sich nur im Chaos merkt, folgendes Buch:

Dirk C. Fleck hat ihn hierzu interviewt.

Er schreibt:
"Wir saßen am selben Tisch und führten das beeindruckendste Interview, das mir je passiert ist.
Zu dieser Zeit hatte der deutsche Literaturbetrieb seinen ehemaligen Shootingstar längst vergessen. Dabei war der streitbare Dissident nach seiner Aussiedlung aus der DDR (1976) vom westdeutschen Feuilleton geradezu verhätschelt worden. Sein Prosaband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ stürmte die Bestsellerlisten, seine Theaterstücke „Lovely Rita“ und „Lieber Georg“ erreichten die großen Bühnen und mit seinen Filmen „Engel aus Eisen“ und „Der Passagier – Welcome to Germany“ vertrat er die alte Bundesrepublik bei den Filmfestspielen in Cannes. Thomas Brasch, so gestand er mir, war in aller Munde und hatte plötzlich „richtig viel Geld“.
Nach der Wende wurde es still um den Hochbegabten...

Brasch: 'Das Rauchen hat eine Struktur in den Tag gebracht. Beim schreiben ist es am schwersten darauf zu verzichten. Erst recht, wenn man Brunke zu fassen kriegen will...'
Ein Spatz hüpfte auf den Tisch und schaute den Mann, der aussah, als beginne der Tag für ihn wie selbstverständlich mit einer Schürfwunde, mit schräggestelltem Kopf an. „Wir kennen uns,“ sagte Brasch, „ich kenne alle Spatzen hier. Dieser hockt die meiste Zeit bei mir auf dem Fensterbrett, ich wohn ja um die Ecke”. Nach einer kleinen Pause fügte er unvermittelt hinzu: „Wir reden aber nur über Brunke, alles andere interessiert mich nicht“. Und als wollte er die 14.000 Seiten, die ihm der Mädchenmörder Brunke inzwischen abverlangt hatte, rechtfertigen, zitierte er einen Satz von Robert Musil: Prosa ist keine Kunstform, sondern eine Existenzform.

'Wenn man sich in diesem Wald aus Wörtern verläuft, wenn man das wirklich zulässt, und ich habe es zugelassen, bricht man mit der Zeit mit allem: mit seinen Beziehungen zum Beruf, mit der Stadt, mit den Frauen und vielem mehr. Das wusste ich am Anfang nicht'.
Die Beziehung Brunke-Brasch war das Ergebnis eines folgenschweren Fehltritts. 'Ich habe 1970 eine Freundin aus der Stadtbibliothek abholen wollen. Es hatte sehr stark geregnet, ich bin auf dem Hof in eine Pfütze getreten, mein Schuh lief voll Wasser. Vor mir entdeckte ich eine Plane, unter der alte Zeitschriftenbände zum auslagern gestapelt waren. Ich griff mir ein Exemplar, es waren die Braunschweiger Neuesten Nachrichten von 1906. In einer Gerichtsreportage las ich dann die folgenden Sätze: Er verließ das Haus und lief in Richtung Buchhorst. Dann besann er sich und lief wieder Richtung Braunschweig. Im Stadtpark geriet er in eine schlammige Gegend, sodass sein Schuh mit Wasser voll lief. In diesem Augenblick meinte er, das Richtigste wäre, sich auf kürzestem Wege zur Polizeistation zu begeben und seine Tat zu gestehen.
In diesem Augenblick meinte Thomas Brasch, dass es das Richtige wäre, sich auf kürzestem Wege dem Fall Brunke zuzuwenden...

Mit jeder Einzelheit, die er dem vermoderten Kriminalfall entriss, wuchs in ihm die Gewissheit, dass er in dem jungen Mädchenmörder jemand gefunden hatte, der eine Art Kunstherz darstellte, das ihn mit ureigenen Impulsen versorgte. Dem Magazin Stern gestand er 1999, dass er die letzten sieben Jahre Krieg geführt hatte. „Krieg mit meiner literarischen Figur und Krieg mit meinem Talent“. Einer der Kriegsschauplätze war San Francisco. „Ich dachte mir, wie Brunke für mich wohl von dort aus aussehen würde,“ sagte er. In San Francisco traf er einen schwarzen Straßenfeger. „Er setze sich zu mir und fragte, warum ich so traurig bin. Ich sagte, ich komme mit einer Geschichte nicht klar. Ich erzählte ihm, dass im Polizeibericht steht, Brunke hätte sich mit einem Bindfaden erhängt. Und wissen Sie, was er geantwortet hat? Vielleicht hat er sich so leicht gefühlt, dass ein Bindfaden ausgereicht hat. Irre, oder?“
Es war nicht möglich, Thomas Brasch zu einer kontinuierlichen Schilderung seiner Monsterarbeit zu verleiten. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war zu groß, sie traf ihn wie ein Meteoritenschwarm, den es demütig auszuhalten galt. Er hatte bis zu unserem Treffen mit 282 Menschen über den Fall gesprochen und ihre Vermutungen notiert. Er hatte Prostituierte bezahlt, um Brunke aus deren Sicht kommentiert zu sehen. Er hatte seinem Helden 640 Gedichte geschrieben, die dieser korrigiert zurück schickte, wie er gequält lächelnd anfügte.

Sindbad
Dies ist der Aufstieg jedes Falles,
nichts ist das Ziel, der Weg ist alles.
32. Versuch, auf einem untergehenden Schiff
aus der eigenen Haut zu kommen

Er hatte 32 Aussagen von Brunke gefunden, zum Beispiel diese: „Ich verstehe das Aufhebens nicht, das man hier von mir veranstaltet. Ich bin doch nichts anderes, als der misslungene Held eines Hintertreppenromans!“ Thomas Brasch schaute mich an, als schulde er mir eine Erklärung. „In einer meiner Fassungen heißt es: Was bist du anderes, Brunke, als einer der die Hintertreppe hinunterläuft und alle sind hinter dir her und stürzen sich über dich, sodass von dir nichts mehr sichtbar ist. Und du wolltest doch nur über die Hintertreppe ins Freie…“
Nach dem Mord an den Mädchen war Brunke laut eigener Aussage fest entschlossen, sich selbst umzubringen. „Der Mut kam mir dann schnell abhanden,“ gestand er vor Gericht, „denn ich hörte in diesem Moment in der Gasse einen Spaziergänger das Wort Mutter sagen. In diesem Augenblick dachte ich an meine Mutter und wollte ihr kein Leid bereiten.“ Hatte Karl Brunke ihn mal gebeten, ihn in Ruhe zu lassen, fragte ich in eine lang anhaltende Stille hinein. „Ja natürlich, klar,“ antwortete Brasch ohne zu zögern, „er war immer fair zu mir. Bereits in seinem ersten Brief hatte er prophezeit, ich würde an diesem Unternehmen scheitern. Er sagte, es gebe keine Hauptfiguren im Leben, was ja auch stimmt. Ich habe versucht, aus der Mücke Brasch einen Elefanten Brunke zu machen oder umgekehrt.“

Der Spatz, der für gewöhnlich auf seinem Fensterbrett saß, stieß mit dem Schnabel gegen seinen kleinen Finger, als wollte er ihn an etwas erinnern. „Ich habe mich an dem Phänomen Brunke so richtig müde gedacht und geschrieben“, sagte mein Gegenüber, und erklärte die Arbeit an Mädchenmörder Brunke für beendet. Die 14.000 Seiten, das wusste er, würden niemals erscheinen. Eine Leidenschaft, die einen so voluminösen Auswurf zustande bringt, ist nicht medienkompatibel. Der Suhrkamp Verlag, bei dem Thomas Brasch mit Mädchenmörder Brunke im Wort stand, hatte in seiner Ungeduld 1999 kurzerhand ein 80-seitiges Büchlein unter diesem Titel herausgebracht, was Brasch, wie er sagte, als ungeheure Frechheit empfand, als gezielten Messerstich in ein vibrierendes Herz. Aber es gab eine gebundene Ausgabe vom Mädchenmörder Brunke, er hatte sie selbst hergestellt, es waren vierzehn Bände und sie befanden sich oben bei ihm in der Wohnung.
„Ich zeige es Ihnen gern,“ sagte er und entschuldigte sich. Der Spatz folgte ihm. Fünf Minuten später kam Thomas Brasch und reichte mir einen grünen Leinenband, einen von den vierzehn, die bei ihm zuhause lagerten. Ich blätterte darin und stieß umgehend auf die Passage, in der Brunke aus dem Munde eines Passanten das Wort Mutter hörte. Thomas Brasch musste schmunzeln. „Zufälle“ dieser Art waren ihm mit Brunke geläufig.

Wir tranken noch einen und schwiegen. Schließlich bedankte ich mich für das Gespräch und da mit entgegengebrachte Vertrauen. „Brunke hats gebracht,“ sagte ich. – „Ja logisch…“ antwortete er und ging. Ich habe noch nie jemanden so unkompliziert verschwinden sehen. Wenige Tage später erfuhr ich, das Thomas Brasch gestorben war. Ich war wohl der letzte Journalist, mit dem er gesprochen hatte. Also bot ich das mit ihm geführte Interview den einschlägigen Kulturredaktionen in diesem Land zur Veröffentlichung an. Vom Spiegel bis zur FAZ, vom Stern bis zur Süddeutschen. Keine Reaktion, nicht eine. Alles was ich zum Tode von Thomas Brasch in unseren Medien fand, war eine vierzeilige Meldung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

„Brunke ist ein Buch, in dem man rumblättern muss,“ hatte Thomas Brasch mir verraten. „Das ist nichts, was man von vorne bis hinten lesen kann. Es ist wie eine Kugel, die kein Anfang und kein Ende hat“. Und mit der man ein Genie wie Thomas Brasch zum Schweigen bringen konnte …

Zum Thema Liebesmaschine, die elektrisch ist und auf einem Berg steht, hat der Kindermund das Entscheidende gesagt. Wer möchte mit ihm konkurrieren? Thomas Brasch tut es in seinem "Mädchenmörder Brunke" und bietet dazu auf knapp hundert Seiten allerlei Einfälle auf, um Qual und Lust, Mord und Mechanik novellistisch zusammenzuzwingen und auch eine Moral loszuwerden. Nämlich: "wie nah die Gefahr bei der Lust wohnt, wenn man sich auf der Suche nach dem Schönsten in das Schlimmste verrennt".
Der sich verrennt, und zwar gründlich, ist der Architekt D. H., dem nach dem Mauerfall das Laubengrundstück seiner verstorbenen Großmutter zufällt. Von seiner Verlobten im Streit getrennt, vernachlässigt er seine Arbeit völlig, um sich den Nachforschungen über einen gewissen Karl Brunke zu widmen, der anno 1905 in Braunschweig zwei Schwestern auf ihren Wunsch erschoss. Die dritte, die überlebende Schwester - so mutmaßt er - war seine Großmutter, die ihm ein Kistchen mit den alter Prozessberichten hinterließ.
Was Braschs Architekten, der sich nicht ohne Anlass über das "Elend zwischen den Geschlechtern" erregt, an diesem Fall fasziniert und zur Identifikation mit dem Mädchenmörder führt, ist die von Brunke erfundende Liebesmaschine, die den Menschen Liebesschmerz und -trennung ersparen sollte. Eine Erfindung, deren Bedeutung der Architekt den Entdeckungen Freuds und Einsteins gleichsetzt. Über solche Exzentrik verwundern wir uns nicht weiter, denn wir kennen bereits sein Ende. D. H. ist jener in einem Waldstück aufgefundene Tote auf einem Holzgestell, das als "Exekutions- oder Erektionsstuhl" bezeichnet wird. Und das zwischen seinen Beinen deponierte, von Regen und Sperma gezeichnete Manuskript ist ebendas, was wir lesen: die Geschichte Brunkes, nachgefühlt und nachgeschrieben von seinem Imitator, der die Liebesmaschine noch einmal erfinden wollte.

Soweit die Moritat. Brasch hat sich mit ihr nicht begnügen, sondern sie zur Novelle erheben wollen. Da wird die Liebesmaschine zum Anlass tiefsinniger Reflexionen über die Vertreibung aus dem Paradies. Da schwärmt der Architekt vom anderen, vom Unnennbaren, "das all dies zeigt, aber gleichzeitig verbirgt, und doch ein drittes anderes sein muss, aber gleichzeitig verbirgt, und doch ein drittes anderes sein muss, aber verschollen scheint wie in dem Märchen vom dritten Wunsch oder dem verschlossenen Zimmer". Da sieht der Autor den einen seiner Helden als "in den Gynäkologenstuhl gekreuzigten" Architekten und den anderen, dem die Irrenärzte aus Königslutter nachstellen, offenbar als einen neuen Lenz oder Woyzeck. Und zur politischen Aktualisierung der Sache raunt Brasch vom dunklen deutschen Wald, vom "Gefängnis unseres ängstlichen und traurigen Volkes" und von der Zelle, "in der seine Verbesserer hausen".
Zu solchen angestrengten Bedeutsamkeiten passt die krude Liebesmaschine denn doch nicht so recht. Also wird sie im Schlusskapitel "Wort und Totschlag" zur "Zeit- und Ortsmaschine" erhoben, und endlich wird uns reiner Wein eingegossen, rein wie Messwein, nämlich die Botschaft: "Denn es gibt keine Liebesmaschine, außer man ist selbst eine andere, eine aus Fleisch, Lust und Hoffnung."
Ganz zuletzt wird noch eine Erklärung nachgeschoben. In einer, freilich durchgestrichenen, Verfügung überlässt der Architekt sein beflecktes 2000-Seiten-Manuskript einem Schriftsteller zur Restaurierung, "der eine Pause braucht beim Herstellen künstlicher Charaktere". Der pausenbedürftige Restaurator, der uns nur knappe hundert Seiten mitteilt, erscheint dafür auf dem Titel. Ein schönes Paradox: Thomas Brasch, von dem wir lange nichts lesen konnten, ist der Füller seiner Pausen. Des Architekten Verfügung, wonach der Restaurator die entstehende Veröffentlichung zwar "der erbarmungslosen Kritik des Lesers aussetzen", nicht aber in das "Gefängnis der Buchdeckel" spannen dürfe, hat der Verlag freilich ignoriert.

Harald Hartung

PS
Das geschah 2013 im schönen Gimmlitztal:
Detlev G., Schriftsachverständiger beim Landeskriminalamt Sachsen, tötet den 59jährigen Wojciech S. aus Hannover auf seinem Grundstück, wo er mit seinem Ehemann eine Pension für homosexuelle Kundschaft betreibt.
Er berief sich darauf, das Opfer habe verlangt, getötet und verspeist zu werden. Detlev G. schneidet seinem Bekannten die Kehle durch, zerstückelt sein Opfer dann über 4 bis 5 Stunden sehr kleinteilig und vergräbt die Leichenteile schließlich auf der Wiese hinter dem Haus.
Urteil: lebenslange Freiheitsstrafe.

War der „Kannibale von Rotenburg“, der wegen Mordes 2002 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Computertechniker, Vorbild? Er hat Teile der Leiche seines Opfers gegessen...