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Sebald


Rembrandt
Die Anatomie des Dr. Tulp
(Die Ringe des Saturn S. 22f, 102)

Im Januar 1632 ... wurde im Amsterdamer Waagebouw eine öffentliche Prosektur vorgenommen an der Leiche des wenige Stunden zuvor wegen Diebstahls gehenkten Stadtgauners Adriaan Adriaanszoon alias Aris Kindt. ... spektakulären, von Rembrandt in seiner Porträtierung der Chirurgengilde festgehaltenen Ereignis ..., zumal die alljährlich in der Tiefe des Winters stattfindende anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp ... ein bedeutendes Datum im Kalender der damaligen, aus dem Dunkel, wie sie meinte, ins Licht hinaustretenden Gesellschaft gewesen ist. Zweifellos handelte es sich bei dem vor einem zahlenden Publikum aus den gehobenen Ständen gegebenen Schauspiel einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus.

Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründlichere Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten - die Chirurgen sind in ihrem besten Staat, und Dr. Tulp hat sogar seinen Hut auf dem Kopf - ebenso wie die Tatsache, daß nach der Vollendung der Prozedur ein feierliches, in gewissem Sinne symbolhaftes Bankett abgehalten wurde.





Bekanntlich lehrte Descartes in einem der Hauptkapitel der Geschichte der Unterwerfung, daß man absehen muß von dem unbegreiflichen Fleisch und hin auf die in uns bereits angelegte Maschine, auf das, was man vollkommen verstehen, restlos für die Arbeit nutzbar machen und, bei allfälliger Störung, entweder wieder instand setzen oder wegwerfen kann.

Stehen wir heute im Mauritshuis vor dem gut zwei mal eineinhalb Meter messenden Anatomiegemälde Rembrandts, so stehen wir an der Stelle derer, die im Waagebouw seinerzeit dem Vorgang der Sezierung gefolgt sind, und meinen zu sehen, was diese gesehen haben: den grünlichen, im Vordergrund daliegenden Leib Aris Kindts mit dem gebrochenen Nacken und der in der Todesstarre furchtbar hervorgewölbten Brust. Und doch ist es fraglich, ob diesen Leib je in Wahrheit einer gesehen hat, denn die damals gerade aufkommende Kunst der Anatomisierung diente nicht zuletzt der Unsichtbarmachung des schuldhaften Körpers. Bezeichnenderweise sind ja die Blicke der Kollegen des Doktors Tulp nicht auf diesen Körper als solchen gerichtet, sondern sie gehen, freilich haarscharf, an ihm vorbei auf den aufgeklappten anatomischen Atlas, in dem die entsetzliche Körperlichkeit reduziert ist auf ein Diagramm, auf ein Schema des Menschen, wie es dem passionierten, an jenem Januarmorgen im Waagebouw angeblich gleichfalls anwesenden Amateuranatomen René Descartes vorschwebte.




Der seltsamen Ausgrenzung des doch offen zur Schau gestellten Körpers entspricht es auch, daß die vielgerühmte Wirklichkeitsnähe des Rembrandtschen Bildes sich bei genauerem Zusehen als eine nur scheinbare erweist. Entgegen jeder Gepflogenheit nämlich beginnt die hier dargestellte Prosektur nicht mit der Öffnung des Unterleibs und der Entfernung der am ehesten in den Verwesungszustand übergehenden Eingeweide, sondern (und auch das deutet möglicherweise auf einen Akt der Vergeltung) mit der Sezierung der straffälligen Hand.

Und mit dieser Hand hat es eine eigenartige Bewandtnis. Nicht nur ist sie, verglichen mit der dem Beschauer näheren, geradezu grotesk disproportioniert, sie ist auch anatomisch gänzlich verkehrt. Die offengelegten Sehnen, die, nach der Stellung des Daumens, die der Handfläche der Linken sein sollten, sind die des Rückens der Rechten. Es handelt sich also um eine rein schulmäßige, offenbar ohne weiteres dem anatomischen Atlas entnommene Aufsetzung, durch die das sonst, wenn man so sagen kann, nach dem Leben gemalte Bild genau in seinem Bedeutungszentrum, dort, wo die Einschnitte schon gemacht sind, umkippt in die krasseste Fehlkonstruktion.

Daß Rembrandt sich hier irgendwie vertan hat, ist wohl kaum möglich. Vorsätzlich erscheint mir vielmehr die Durchbrechung der Komposition. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren cartesischen Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht den Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.

Ich bin daher in einer ziemlich schlechten Verfassung gewesen, als ich am nächsten Vormittag im Mauritshuis vor dem beinahe vier Quadratmeter großen Gruppenporträt Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp stand. Obzwar ich eigens wegen dieses Bildes, das mich in den nächsten Jahren noch viel beschäftigte, nach Den Haag gekommen war, gelang es mir in meinem übernächtigten Zustand auf keine Weise, angesichts des unter den Blicken der Chirurgengilde ausgestreckt daliegenden Prosektursubjekts irgendeinen Gedanken zu fassen. Vielmehr fühlte ich mich, ohne daß ich genau gewußt hätte warum, von der Darstellung derart angegriffen, daß ich später bald eine Stunde brauchte, bis ich mich vor Jacob van Ruisdaels Ansicht von Haarlem mit Bleichfeldern einigermaßen wieder beruhigte.




Rembrandt van Rijn, Die Anatomie des Dr. Tulp
1632. Öl auf Leinwand, 169,5 cm × 216,5 cm
Mauritshuis Den Haag.


Rembrandt nimmt direkt auf den Holzschnitt Bezug, der Vesalius darstellt.
Andreas Vesalius (Vesal) 1514 - 1564 flämischer Anatom der Renaissance
gilt als Begründer der neuzeitlichen Anatomie und des morphologischen Denkens
in der Medizin. Leibarzt Karls V. und Philipps II. von Spanien.



The Gross Clinic

Das realistische Ölgemälde aus dem Jahr 1875 stammt vom amerikanischen Maler Thomas Eakins (1844 - 1916), der in dem Gemälde sein wichtigstes Werk sah.
Und die heutige Kunstgeschichte sieht es als eines der bedeutendsten Werke eines amerikanischen Künstlers im 19. Jahrhundert an. (Zur Jahreswende 2006/2007 wird es für den Rekordpreis von 68 Mio US-Dollar verkauft!).
Auch medizingeschichtlich ist es ein wichtiges Bild.
Das Gemälde zeigt den 70-jährigen Samuel D. Gross, einen berühmten Chirurgen, der eine Vorlesung vor einer Gruppe Studenten hält. Gross trägt einen Gehrock, der zugleich sein Maskottchen ist: “a veteran of a hundred battles”. Seine Augen liegen im Schatten und sind nicht zu erkennen. Um den Operationstisch Ärzte, hinter der Schulter von Gross der Protokollant. Im Zugangstunnel des Operationstheaters stehen ein Krankenpfleger und der Sohn von Gross, ebenfalls Chirurg. Am rechten Bildrand sitzt der zeichnende Eakins selber.
Gross' Hand mit dem Skalpell ist blutverschmiert, hell durch ein Deckenfenster beleuchtet.



Gross behandelt die Osteomyelitis des Oberschenkelknochens, das heißt, er entfernt nekröses Knochengewebe.
Alle Welt vergleicht das Bild immer wieder mit der Anatomie des Dr. Tulp, die Eakins höchstwahrscheinlich von seiner Europareise kannte. Dort zeigt Rembrandt jedoch keine Operation, sondern eine anatomische Vorlesung, der Eingriff hat noch nicht begonnen. Interessanterweise ist das Geschlecht des Patienten durch nichts im Bild selbst bestimmt, was das Bild einzigartig macht, da es dem Betrachter einen nackten und entblößten Körper präsentiert, aber dieser dennoch nicht als männlich oder weiblich erkennbar ist. Ein anderes verblüffendes Element des Bildes ist die einzelne Frau in dem Gemälde, zu sehen im Mittelgrund links, sich in Bedrängnis krümmend. Sie kann als Verwandte des Patienten gesehen werden, die als Begleitperson auftritt. Ihre dramatische Figur stellt einen starken Kontrast dar zum ruhigen, professionellen Verhalten der Männer um den Patienten. Diese blutige und sehr unverblümte Darstellung der Chirurgie war zur Zeit ihrer ersten Ausstellung schockierend und ist es für viele Betrachter noch heute.
Das Gemälde hat für die Kunstabteilung der Centennial Exhibition in Philadelphia 1876 nicht angenommen. Die Juroren waren von dem blutigen Sujet entsetzt. Gross machte seinen Einfluss geltend, so dass das Gemälde in der medizinischen Abteilung der Ausstellung berücksichtigt wurde.
„Wir kennen keine Porträtarbeit, die in dieser Stadt, oder sogar in diesem Land, versucht worden wäre, die es in irgendeiner Weise erreicht. … Dieses Porträt von Dr. Gross ist ein großes Werk—wir kennen keine größere, die je in Amerika ausgeführt worden wäre. ...
eines der stärksten, schrecklichsten, dabei faszinierendsten Bilder, die in diesem Land gemalt wurden … aber je mehr man es preist, desto mehr muss man verdammen, dass es in eine Galerie zugelassen wurde, in der Männer und Frauen schwacher Nerven gezwungen sind, es anzusehen, denn es nicht anzusehen ist unmöglich.“
Kontroversen um das Gemälde haben sich um seine Gewalttätigkeit gedreht und um die melodramatische Anwesenheit der Frau. Elizabeth Johns sieht in dem Bild eine Feier eines Helden des modernen Lebens. Heutige Gelehrte schlagen vor, das Bild in der Begrifflichkeit von Kastrationsangst und Fantasien der Herrschaft über den Körper (beispielsweise Michael Fried) zu lesen, und dass es Eakins’ Ambivalenz bei der Repräsentation von Geschlechtsunterschieden dokumentiert (beispielsweise Jennifer Doyle). Des Weiteren sieht man das Gemälde als Analogie zwischen dem Malen und der Chirurgie an, dass die Arbeit des Künstlers mit dem Aufkommen der Chirurgie als eines respektierten Berufs identifiziert.



Nackte Tatsachen: Deutschlandfunk 2019



Bei der Berlinale 2012 gewinnt Regisseur Christian Petzold für seinen Film „Barbara“ den Silbernen Bären.
Die Filmnovelle spielt 1980 in der DDR, wo die Ärztin Barbara (Nina Hoss) mit ihrem Geliebten aus dem Westen (Mark Waschke) Fluchtpläne schmiedet.

Petzold zeigt „Die Anatomie des Dr. Tulp“ als Gegenstand einer Bildinterpretation, die als Dialog zwischen den beiden Hauptpersonen stattfindet. Fazit: Die Wissenschaftler auf dem Gemälde schauen in ein Anatomiebuch, während der Leichnam nur vom Betrachter wirklich gesehen wird. Ecce Homo.

Petzold: "Das ist ursprünglich eine Passage aus dem Buch „Die Ringe des Saturn“ von W.G. Sebald. Mein Koautor Harun Farocki und ich haben uns diesmal gesagt: Jetzt reicht's, dass wir immer alles an Recherche aus den Filmen raushalten wollen. Warum sollen sich zwei Filmfiguren nicht drei Minuten über ein Bild unterhalten? „Die Anatomie“ hat immer schon zu Diskussionen darüber angeregt, ob Rembrandt eine moralische Position gegenüber der Aufklärung einnimmt.


Und Sebalds Essay passte hervorragend in die Geschichte. Barbara lebt in einem aufgeklärten, sozialistischen Land. Dieses Land ist am Zusammenbrechen, weil die Aufklärung in die Hände von Kleinbürgern geraten ist. Wenn man liest, wie schwer es die DDR-Behörden Schriftstellern wie Werner Bräunig oder Christa Wolf gemacht haben, wird einem bange. Wolf hat sich in eine Krise gerettet, aus der sie letztlich gestärkt hervorging, Bräunig hat sich totgesoffen. Anhand des Rembrandt-Gemäldes deuten wir an, was für eine Katastrophe das ist, die Versachlichung der Aufklärung in der Alltagspolitik. Am Schluss der Sequenz zeigen wir die Ärzte im Rembrandt-Bild. Jetzt starren sie in die Luft, wie enttarnte Funktionäre."