Christians Mini-Kosmos




Von Mauerspechten und McDonald's









2004 treffen sich in Spremberg Veteranen der Waffen-SS-Division "Frundsberg". Es finden sich Gegendemonstranten ein. In der brandenburgischen Lausitz hatten 1945 erbitterte Kämpfe bis in die letzten Kriegstage gegen die Rote Armee stattgefunden. In den 90ern schlug ein CDU-Politiker vor, dafür einen Gedenkstein mit der SS-Parole "Unsere Ehre heißt Treue" aufzustellen.
Damals sieht sich das "Bündnis gegen Geschichtsrevisionismus" veranlasst, gegen derlei "Heldengedenken" öffentlich vorzugehen, und eine Totenwache der letzten überlebenden "Elitemörder" Hitlers für ihre Kameraden nicht ungestört hinzunehmen. Der Vorfall zeigt, wie umstritten die deutsche Geschichtspolitik an konkreten Orten immer noch ist. Ob Günter Grass, der zu Fragen der Vergangenheitsbewältigung immer wieder ausführlich Stellung nimmt - so verarbeitet er etwa in den Romanen seiner Danziger Trilogie den Krieg und den Nationalsozialismus literarisch - in Spremberg als Frundsberg-Veteran anwesend war, ist unbekannt.

Grass - links als junger Mann - gehörte nämlich selbst der SS-Division Frundsberg an, wie er 2006 eingesteht. Ist die Vorwegnahme wichtiger Passagen seiner kurz darauf erscheinenden Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" in diesem Gespräch und das späte Geständnis des Nobelpreisträgers etwa auch spektakuläres Marketing-Moment?
"Das musste raus, endlich"
Grass schildert in Formulierungen, die viele Details offen lassen, wie er sich als Fünfzehnjähriger freiwillig "zu den U-Booten" meldete, wie er stattdessen 1944 zur Waffen-SS eingezogen wurde und bei dieser auch von ihm als "Eliteeinheit" empfundenen Truppe in Dresden vor allem "Hundsschleiferei" erlebte.
Bis dahin galt für diese Jahre seiner Biografie, er wäre als Flakhelfer zum Einsatz gekommen - als typischer Vertreter dieser Generation der letzten Kriegs-teilnehmer. Die wenigen Sätze zum Thema haben ausgereicht, um die deutsche Öffentlichkeit zu spalten. Historiker Michael Wolffsohn: "Der Wahrheitströpfler Grass hätte 1985 eine goldene Gelegenheit gehabt, seine Waffen-SS-Mitgliedschaft einzuräumen. Damals diskutierten Deutschland und die Welt heftig über den Bitburg-Besuch von Bundeskanzler Kohl und US-Präsident Reagan. Durch sein beharrliches Schweigen wird Grass' moralisierendes, nicht sein fabulierendes Lebenswerk entwertet."
Grass' Biograf Michael Jürgs, der sich auf ausführliche Selbstauskünfte von Grass bezogen und dem Autor dessen bisher gültige Version der Kriegserlebnisse abgenommen hatte, sieht "das Ende einer moralischen Instanz" gekommen.
Grass verklagt den Verlag auf Unterlassung wegen der Waffen-SS-Passage in der Jürgs-Biografie. In Grass' eidesstattlichen Versicherung heisst es:
"Meiner Darstellung in meinem Buch "Beim Häuten der Zwiebel" liegen folgende, von mir klar erinnerte Fakten zugrunde: Ich habe mich als 15-Jähriger in Gotenhafen freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, und zwar zum Dienst bei der U-Boot-Waffe, ersatzweise zur Panzerwaffe. Mit einer Meldung zur Waffen-SS hatte das weder direkt noch indirekt irgendetwas zu tun. Die Einberufung zur Waffen-SS erfolgte ohne mein aktives Zutun erst im Zuge der Zustellung des Einberufungsbefehls im Herbst 1944." Verlag und Grass vergleichen sich.
Demnach muss Jürgs die Neuauflage der Biografie derart ergänzen: "Günter Grass schrieb, dass er als siebzehnjähriger Wehrpflichtiger zur Waffen SS-Division Frundsberg eingezogen wurde." Die zu korrigierende Passage lautet: "Günter Grass bekannte, seine Nuss knackend, sich als Siebzehnjähriger freiwillig zur Waffen-SS gemeldet zu haben" und war von Jürgs eingefügt worden, nachdem Grass seinerseits in "Beim Häuten der Zwiebel" seine SS-Vergangenheit gebeichtet hatte. (vgl. auch Grass' Häutung )
Das Eingeständnis von Grass beschämt aber nicht nur seine Biografen. Es wirft auch ein interessantes Licht auf sein literarisches Werk. Vor allem seine Novelle "Katz und Maus" verdient eine Neulektüre. Hier steht der 16-jährige Mahlke im Mittelpunkt, der einem U-Boot-Kommandanten das Ritterkreuz stiehlt und später (wie Grass selbst) zum Reichsarbeitsdienst einberufen wird.
Auch manche Formulierung aus seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung klingt nun ein wenig schal: "Hell ausleuchten, ans Tageslicht wollte ich das Verbrechen." Hat Grass Verbrechen begangen? Seine jugendliche Wahrnehmung des Nationalsozialismus verdient noch eine genaue Erörterung.
Die römische Zeitung „La Repubblica“: „Günter Grass, Nobelpreis-Symbol des wiedervereinigten Deutschlands und zugleich Schutzherr der linken Kultur und Literatur Europas, hat in seiner Jugend die Uniform der Waffen-SS angezogen. Das Bekenntnis von Grass ist wie ein globaler Schock. Mit schmerzhaftem Mut entschied sich Grass jetzt, jene Zweideutigkeit und Schuld seines Vaterlandes anzunehmen, die der Vergangenheit angehört, die aber unauslöschlich ist.“






Spätwerk - gescheitert?



... so bereitet Fonty das weite Feld vor (in Kapitel 5 von "Effi Briest"):

Am Tag nach der Hochzeit von Effi und Innstetten sitzen ihre Eltern nach dem Frühstück am verglimmende Kaminfeuer. Er (schon bei der dritten Zigarette):
Nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natürlich die eigene ausgenommen.
Sie:
»Ich weiß nicht, Briest, wie du zu solcher Bemerkung kommst. Mir war ganz neu, daß du darunter gelitten haben willst. Ich wüßte auch nicht warum.« »Luise, du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts übel, auch nicht einmal so was. Im übrigen, was wollen wir von uns sprechen, die wir nicht einmal eine Hochzeitsreise gemacht haben. Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug ab. Sie müssen jetzt schon bei Regensburg sein, und ich nehme an, daß er ihr - selbstverständlich ohne auszusteigen - die Hauptkunstschätze der Walhalla herzählt. Innstetten ist ein vorzüglicher Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme Effi, ist ein Naturkind. Ich fürchte, daß er sie mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quälen wird.«
»Jeder quält seine Frau. Und Kunstenthusiasmus ist noch lange nicht das Schlimmste.«
»Nein, gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber nicht streiten; es ist ein weites Feld. Und dann sind auch die Menschen so verschieden. Du, nun ja, du hättest dazu getaugt. Überhaupt hättest du besser zu Innstetten gepaßt als Effi. Schade, nun ist es zu spät.«
»Überaus galant, abgesehen davon, daß es nicht paßt. Unter allen Umständen aber, was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist er mein Schwiegersohn, und es kann zu nichts führen, immer auf Jugendlichkeiten zurückzuweisen.«

»Ich habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen wollen.«
»Sehr gütig. Übrigens nicht nötig. Ich bin in animierter Stimmung. «
»Und auch in guter?«
»Ich kann es fast sagen. Aber du darfst sie nicht verderben. Nun, was hast du noch? Ich sehe, daß du was auf dem Herzen hast.«
In den folgenden Tagen treffen täglich Postkarten ein, aus Innsbruck, aus Verona, aus Vicenza, aus Padua, eine jede fing an: »Wir haben heute vormittag die hiesige berühmte Galerie besucht«, oder wenn es nicht die Galerie war, so war es eine Arena oder irgendeine Kirche »Santa Maria« mit einem Zunamen.
Aus Padua kommt ein Brief. » ... vor allem ist er engelsgut gegen mich und gar nicht überheblich und auch gar nicht alt. Ich habe noch immer das Ziehen in den Füßen, und das Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an. Aber es muß ja sein. Ich freue mich sehr auf Venedig. Da bleiben wir fünf Tage, ja vielleicht eine ganze Woche. Geert hat mir schon von den Tauben auf dem Markusplatz vorgeschwärmt, und daß man sich da Tüten mit Erbsen kauft und dann die schönen Tiere damit füttert. Es soll Bilder geben, die das darstellen, schöne blonde Mädchen, 'ein Typus wie Hulda', sagte er. Wobei mir denn auch die Jahnkeschen Mädchen einfallen. Ach, ich gäbe was drum, wenn ich mit ihnen auf unserem Hof auf einer Wagendeichsel sitzen und unsere Tauben füttern könnte. Die Pfauentaube mit dem starken Kropf dürft ihr aber nicht schlachten, die will ich noch wiedersehen. Ach, es ist so schön hier. Es soll auch das Schönste sein. Eure glückliche, aber etwas müde Effi.«
Sie:
»Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht.«
»Ja«, sagte Briest, »sie hat Sehnsucht. Diese verwünschte Reiserei ...«
»Warum sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so deine Art, hinterher den Weisen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.«

»Ach, Luise, komme mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser Kind, aber seit dem 3. Oktober ist sie Baronin Innstetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn daran nicht hindern. Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt. «
»Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du's immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei.« »Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld.«






Zwei koperte Marionetten: Fonty und Hoftaller

Theo Wuttke (genannt Fonty) [S. 9ff] * Neuruppin 30.12.1919 Tochter Mete. Gymnasium, Luftwaffe, Vortragsreisen Kulturbund, alter ego Fontanes
Öudwig Hoftaller [S. 11ff] Tagundnachtschatten Fontys, wird zu Beginn der 1940er tätig. Abbild von "Tallhover". dem Roman von Hans Joachim Schädlich, den Grass um Erlaubnis fragt, die Figur zu übernehmen. Schädlich später: "... dass Grass meine Tallhover-Figur populistisch verkehrt, also verfälscht hatte durch die Verharmlosung des Stasi-Systems und die Gleichsetzung des Spitzels mit dessen Objekt. ... Er habe bei seiner Erlaubnis nicht wissen können, dass Grass die Tallhover-Figur solcherart missbrauchen würde."

Handlung (keine)

Die Kopien identifizieren sich mit ihrem jeweiligen Vorbild, zitieren auf Schritt und Tritt, setzen die Geschehnisse des 20. in Beziehung zu denen des 19. Jahrhunderts. Unendliche Querverweise auf Historie (Beispiel: Herkuft der McDonalds und Campbells [S. 32ff])
Inhalt:
Was ein Spaziergänger und Zeitungsleser in der Zeit des Mauerfalls und kurz danach in Berlin sieht und liest: Mauerspechte und McDonald's . . .
Aber: Ideales Objekt für Dissertationen zu Fontane oder Geheimpolizei - unendlich viele Zitate aus den Werken Fontanes, teils kenntlich gamacht, teils nicht.

Beispiel:
Berlin [S. 12ff]



1) Otto-Grotewohl-Straße, heute Wilhelmstraße
2) Haus der Ministerien, heute Detlev-Rohwedder-Haus
3) Potsdamer Platz
4) Großer Tiergarten
Der zentral gelegene Stadtteil Tiergarten ist für den gleichnamigen Park bekannt; hier befinden sich der Zoologische Garten Berlin sowie die Siegessäule mit ihrer geflügelten Viktoria-Statue und das Café am Neuen See. Südlich des Parks, in der Gegend rund um die Potsdamer Straße, findet man Galerien und Designerläden, die bei Kunstliebhabern und ortskundigen Besuchern beliebt sind. Das Kulturforum am Potsdamer Platz umfasst mehrere staatliche Museen sowie die Berliner Philharmonie.
5) Brandenburger Tor



6) Siegessäule





7) Luisenbrücke (gemeint Luiseninsel!)
8) Rousseauinsel
9) Amazone



10) Sowjetisches Ehrenmal

11) Tunnel Großer Stern



S-Bahnhof Tiergarten:



Beispiel:
Mauerspecht [S. 9, 11]
Menschen, die nach dem Berliner Mauerfall 1989 die Mauer bearbeiten und zerkleinern.
Ihre Motivation grundlegend verschieden
- Souvenirjäger
- professionelle Händler
- Leute, denen es aus politischer Motivation um die Teilnahme an der volksfestähnlichen (symbolisch schnellstmöglichen) Zerstückelung der Mauer vor allem im Bereich Potsdamer Platz und Checkpoint Charlie ging
- Künstler
Regelmäßige Durchsagen der West-Berliner Polizei „Unterlassen Sie sofort das Mauerklopfen…“ zeigten kaum Wirkung. Besonders beliebt bei Souvenirjägern und teuer bei Händlern sind Außenstücke mit Bemalungsresten („Mauergraffiti“). Hierbei färbten Unbekannte auch nachts an der Mauer oder sogar nachträglich nach. Der Wert der entsprechenden Mauerteile, die die Farbe auch auf tags zuvor erzeugten Bruchflächen trugen, lag daher hinsichtlich des historischen Wertes bei fast Null. Und – ob gefärbt oder nicht – die Echtheit von als „Mauerstücke“ angebotenen Steinen ist oft zweifelhaft, auch wenn sie angeblich durch „Zertifikate“, die in der Regel die Händlern selbst gefertigten, belegt wird.
Zeitweise findet auch ein florierender Verleih von Hämmern und Meißeln statt. John Runnings bearbeitet bereits 1986 die Mauerkrone mit einem Vorschlaghammer und wird neben „Mauerläufer“ auch „Vater der Mauerspechte“ genannt.







Beispiel:

Fontane [S. 5ff]

Birnenballade [S. 10]
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Ballade von 1889, in der Fontane die Geschichte des freigiebigen Herrn von Ribbeck erzählt. Dieser verschenkt die Birnen des Baumes in seinem Garten an vorbeikommende Kinder, die er in märkischem Platt anspricht („Lütt Dirn, kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn“). Sein Sohn dagegen ist geizig. Als der alte Ribbeck seinen Tod nahen fühlt, verfügt er, dass ihm eine Birne mit ins Grab gelegt werde. Aus dieser sprießt ein neuer Birnbaum, von dessen Früchten sich die Kinder weiterhin frei bedienen können, obwohl sein Erbe den Garten und den dortigen Baum fortan unter Verschluss hält.
„So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“

Cécile [S. 10] Roman von 1886, in dem Fontane das Schicksal einer Frau behandelt, die ihre Vergangenheit immer einholt und die schließlich daran zerbricht.

Dubslav von Stechlin [S. 10]
"Der Stechlin", Fontanes letzter Roman, der 1895 bis 1897 entsteht und 1898 als Buch erscheint. Die Hauptfigur, der alte Dubslav von Stechlin, trägt den gleichen Namen wie der nahegelegene See, stimmungsvoll in die märkische Landschaft eingebettet. Der Roman spielt in der Zeit seiner Niederschrift. Leichthin geführte Unterhaltungen und tiefsinnige Gespräche vermitteln die Melancholie einer Spätzeit, voll Skepsis und doch versöhnlich. Die mit Sympathie gezeichnete Hauptfigur trägt Züge ihres Autors, der im Monat vor der Veröffentlichung stirbt.




Effi [S. 10]
Effi Briest, Roman Fontanes von 1896, der als Höhe- und Wendepunkt des poetischen Realismus der deutschen Literatur gilt: Höhepunkt, weil der Autor kritische Distanz mit großer schriftstellerischer Eleganz verbindet; Wendepunkt, weil Fontane damit zum bedeutendsten Geburtshelfer des deutschen Gesellschaftsromans wird, der wenige Jahre später mit Thomas Manns Roman Buddenbrooks erstmals Weltgeltung erlangen soll. Thomas Mann verdankt Fontanes Stil zahlreiche Anregungen. Auch der Familienname der Buddenbrooks stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Effi Briest: In Kap. 28 erwähnt Fontane eine Person namens Buddenbrook.
Fontane beschreibt das Schicksal Effis, die als 17jähriges Mädchen auf Zureden ihrer Mutter den mehr als doppelt so alten Baron von Innstetten heiratet. Dieser behandelt Effi nicht nur wie ein Kind, sondern vernachlässigt sie zugunsten seiner karrierefördernden Dienstreisen. Vereinsamt in dieser Ehe, geht Effi eine flüchtige Liebschaft mit einem anderen Mann ein. Als Innstetten Jahre später dessen Liebesbriefe entdeckt, ist er außerstande, Effi zu verzeihen. Zwanghaft einem überholten Ehrenkodex verhaftet, tötet er den verflossenen Liebhaber im Duell und lässt sich scheiden. Effi ist fortan gesellschaftlich geächtet und sogar ihre Eltern verstoßen sie. Erst drei Jahre später sind diese bereit, die inzwischen todkranke Effi wieder aufzunehmen.
Rechtsgeschichtlich spiegelt der Roman die harten Konsequenzen wider, mit denen die Wilhelminische Ära Übertretungen des bürgerlichen Moralkodex ahndet.



Friedlaender [S. 9]
Fontane reist seit 1872 regelmäßig ins Riesengebirge, in das vertraute Krummhübel. 1884 verbringt er als 64jähriger seinen Urlaub dort, frischt alte Bekanntschaften auf und gewinnt neue hinzu. Unter anderem lernt er Amtsrichter Dr. Georg Friedlaender aus dem benachbarten Schmiedeberg kennen. Die Reisebekanntschaft entwickelt sich später zu einer ganz innigen Freundschaft. Fontane und Friedlaender kennen sich insgesamt 14 Jahre bis zu Fontanes Tod 1898.
Georg Friedlaender, 1843 geboren, 23 Jahre jünger als Fontane, gebürtiger Schlesier aus altberliner, angesehenen jüdischen Gelehrtenfamilie. Geht in Berlin zur Schule und studiert Jura. 1877 bis 1914 (Tod) Amtsrichter in Schmiedeberg. Friedlaenders Herkunft eng mit der Kultur, Geschichte und der Gesellschaft des alten Berlin verknüpft, was Fontanes Interesse auf sich zieht. Aber nicht die Vergangenheit, sondern das zeitgenössische Geschehen und die gesellschaftliche Zukunft bewegt und verbindet die Freunde. Fontane sieht in Friedlaender einen freisinnigen und für alles Neue aufgeschlossenen Intellektuellen, von dem er fasziniert ist.
Die Freundschaft wird wohl durch Friedlaender inszeniert, der dafür bekannt ist, Urlaubsgäste mit bekannten Namen in die höhere Gesellschaft einzuführen. Dieser personale Hintergrund spiegelt sich auch in den Briefen wider. Friedlaender ist ein Plauderer - in Fontanes Sinne ist dies nur positiv zu bewerten -, der sich in gehobenen gesellschaftlichen Kreisen bewegt. Aber er kann mehr als nur das, sonst hätte sich die Bekanntschaft zu Fontane sicherlich nicht zu einer richtigen Freundschaft entwickeln können. Fontane hält Friedlaender für eine derartige Plaudertasche, dass er einmal von sich selbst sagt, als er besonders viel geschrieben hatte, er habe die "Friedlaendergrenze" überschritten.
"Sie haben ja das berühmte "talent épistolaire", mit diesen Worten vom 7.12.1887, also bereits zu einem recht frühen Zeitpunkt der Beziehung, bescheinigt Fontane seinem schmiedeberger Freund, wie wertvoll ihm seine Briefe sind. Am 16.6.1888 schreibt er anlässlich eines Schriftstellerwettbewerbs, an dem sich Friedlaender beteiligen möchte, sogar: "Nur machen Sie sich, und wenn Sie schreiben wie ein Gott, keine Hoffnung auf einen Preis und Gewinn."

Grete Minde [S. 9]
Die Novelle Theodor Fontanes handelt von einer jungen Frau, die, nachdem ihr bitteres Unrecht geschehen ist, aus Verbitterung und Vergeltungsdurst in der altmärkischen Stadt Tangermünde Feuer legt und, gemeinsam mit vielen Tangermündern, in den Flammen umkommt. In Anlehnung an die Begebenheiten um die historische Margarethe Minde beginnt die Handlung der Novelle Grete Minde am Anfang des 17. Jahrhunderts und endet mit dem Brand der Stadt im Jahre 1617. Fontane, der die Erzählung 1879 schreibt, weicht in seiner Darstellung des Schicksals der Grete allerdings deutlich von den historischen Begebenheiten ab.

Herwegh-Klub [S. 26]
Fontane: „Hermann Schauenburg, Hermann Kriege, Dr. Georg Günther, das waren die drei, mit denen mich der erste literarische Teeabend bei Robert Binder und Frau bekannt gemacht hatte. Diese drei waren aber nur ein Bruchteil eines literarischen Vereins, dessen geistiger Mittelpunkt Georg Herwegh war, weshalb ich denn auch diesen Leipziger Dichterverein als einen »Herwegh-Klub« bezeichnen möchte. In diesen Klub sah ich mich natürlich alsbald eingeführt und machte da die Bekanntschaft von einem Dutzend anderer Studenten, meistens Burschenschafter, einige schon von älterem Datum. Es waren folgende: Köhler (Ludwig), Prowe, Semisch oder Semig, Pritzel, Friedensburg, Dr. Cruziger, Dr. Wilhelm Wolfsohn, Max Müller. Alle haben in der kleinen oder großen Welt von sich reden gemacht.“ Im Gedicht spricht er von den jungen Leuten, bei denen damals kein Rang zählte, sondern nur das eigene Dichten: „Und ich war ein kleines Kirchenlicht.“



Heyse [S. 26]
Paul Johann Ludwig von Heyse (1830 - 1914) Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Der einflussreiche Münchener „Dichterfürst“ pflegt zahlreiche Freundschaften und ist auch als Gastgeber berühmt.
Fontane glaubt 1890, dass Heyse seiner Epoche „den Namen geben“ und ein „Heysesches Zeitalter“ dem Goetheschen folgen werde. 1910 als erster deutscher Autor Nobelpreis. 1849 schließt Heyse sich ihrem Dichterkreis an, dem 'Tunnel über der Spree' (siehe dort).
1861 lernt Heyse bei einem Besuch in Wien Grillparzer und Hebbel kennen. Auf Heyses Zureden übernahm der Verleger Wilhelm Ludwig Hertz Fontanes Balladen in seinen Verlag. Fontane: „… auch der Eitelste empfand es als ein Vergnügen, ihn sprechen zu hören.“
Heyse bietet auch über München hinaus zahlreichen zeitgenössischen Autoren Hilfe und Freundschaft. Beim bayerischen König Maximilian II. versucht Heyse dem damals mittellosen Theodor Fontane eine Stellung zu verschaffen. Theodor Storm verdankt ihm den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst von 1883, die wichtigste Auszeichnung zu seinen Lebzeiten. Heyse ist Fontane bis zum Tod ein ebenbürtiger Partner. Sie tauschen Manuskripte aus und begutachten sie kritisch. Anregungen für neue Novellen, aber auch literaturtheoretische Diskussionen finden sich in vielen der Briefe. Dem Umfang nach wird er Fontanes zweitwichtigster Briefpartner.
Heyse erregt zuerst mit seinen Gedichten Aufmerksamkeit, so bei seinen ersten Auftritten im Berliner „Sonntags-Verein“ Tunnel über der Spree. Mit der Ballade "Das Tal des Espingo" setzt er sich 1851 bei einem Wettstreit im „Tunnel“ gegen Fontanes "Tag von Hemmingstedt" und Bernhard von Lepels "Dänenbrüder" durch. Heyses Gedichte können sich in den Augen der sachverständigen Dichterkollegen mit den sehr geschätzten Balladen Fontanes messen.
Heyses Jugenderinnerungen und Bekenntnisse (1900) sind eine spannende Autobiografie. Der Dichter, selbst ein Prominenter, der viel in den arrivierten Kreisen verkehrte, liefert genaue Beschreibungen berühmter Männer seiner Zeit, unter anderem literarische Porträts des Freundes Theodor Fontane u. a. Die Erzählung seines Lebens ist zugleich ein aufschlussreiches Dokument über die Verhältnisse in Berlin und München.

Lepel [S. 26]
Georg Friedrich Gustav Bernhard von Lepel (1818 - 1885) Preußischer Offizier und Schriftsteller.
Mit 18 Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment Nr. 2. Teilnahme am dänischen Feldzug 1848, beendet im selben Jahr seine aktive Militärlaufbahn. Lebt als Privatier bis 1873 im ererbten Schlösschen Bellevue bei Köpenick. Dann wieder Militärdienst bei der Provinzial-Invaliden-Kompagnie in Prenzlau als Chef und Hauptmann. Hier tritt er der Freimaurerloge Zur Wahrheit bei.
Als Mitglied der Berliner literarischen "Gesellschaft Tunnel über der Spree" - sein Poetenname dort Schenckendorf - führt er seinen lebenslangen Freund Fontane dort ein. Beide unternehmen einige gemeinsame Reisen; über die Reise nach Schottland verfasst Fontane seinen Bericht "Jenseit des Tweed - Bilder und Briefe aus Schottland", den er Lepel widmet. Häufig begleitet er auch Fontane bei dessen Wanderungen durch die Mark Brandenburg.
Zunächst äußert sich Fontane kritischer über seinen Freund: „ ... er war immer absolut schief gewickelt und arbeitete für die „Loge“. Da mag er sich ein Denkmal verdient haben, sonst leider nicht. Und doch war er reich beanlagt und hatte schöne Gottesgaben. Aber wie die Engländer sagen‚ sein Controll-Apparat arbeitete nicht richtig‘.“ (Brief an Mathilde von Rohr, 23. Mai 1885)
Später (1898) revidiert Fontane sein Urteil über ihn in "Von Zwanzig bis Dreißig": „Er war ein wirklicher Humorist, von jener feinsten Art, die meist gar nicht verstanden oder wohl gar mißverstanden wird. Abgesehen davon, daß ihm dieser nicht verstandene Humor oft direktes Ärgernis schuf, empfand er nebenher noch eine ernsthafte und doch auch wieder das Komische streifende Künstlertrauer darüber, gerade seine glänzendste gesellschaftliche Seite nur immer sehr ausnahmsweise gewürdigt zu sehen, und daß ich der war, der diese feinen Dinge jederzeit mit dankbarster Zunge kostete: das gewann mir recht eigentlich sein Herz. Er sammelte Geschichten für mich, erst um mir und dann gleich hinterher auch um sich selber eine Freude zu machen, eine Freude über meine Freude. ‚Ich seh dich so gerne lachen‘, hab ich ihn wohl hundertmal sagen hören.“

Lene Nimptsch [S. 9]
Eine der Hauptfiguren in "Irrungen, Wirrungen", dem Roman Fontanes von 1888, der von der nicht standesgemäßen Liebe zwischen dem Baron und Offizier Botho von Rienäcker und der kleinbürgerlichen Schneidermamsell Lene handelt. Beide können und wollen ihre Standesgrenzen nicht überwinden und heiraten schließlich einen anderen Partner, mit dem sie ein mäßig glückliches Leben bestreiten, denn: „Die Sitte gilt und muß gelten, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart.“

Mathilde [S. 10]
"Mathilde Möhring" gehört zu den wichtigsten Texten aus Fontanes Nachlass, erstmals postum 1906 veröffentlicht, 1969 2. Fassung, 2008 3. Fassung. Die Handlung des Romans spielt zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs zwischen Oktober 1888 und Oktober 1890.
Fontane erzählt von der jungen, klugen, praktisch veranlagten und energischen, dabei aber wenig anziehenden Mathilde Möhring, die mit ihrer Mutter in einer kleinen Berliner Wohnung in der Georgenstraße in der Nähe des Bahnhofes Friedrichstraße lebt. Mathildes Vater, ein Buchhalter, ist schon seit einigen Jahren tot, weshalb die Möhrings regelmäßig Untermieter aufnehmen müssen. Zu Beginn der Erzählung ist dies Hugo Großmann, ein Jura-Student kurz vor dem Examen, der jedoch die Lektüre literarischer Werke denen der Juristerei und abendliche Theaterbesuche dem Besuch der Universität vorzieht. Mathilde schätzt ihn in dieser Beziehung von Anfang an richtig ein, sieht in ihm dennoch die Möglichkeit, aus ihren beschränkten Verhältnissen herauszukommen.

Opitz [S. 10] Förster Opitz, eine der Hauptfiguren in Fontanes Roman "Quitt" von 1891.
Die Handlung beginnt in den 1870ern in Wolfshau (Wilcza Poreba) bei Krummhübel im schlesischen Riesengebirge. Der 27-jährige Stellmacher Lehnert Menz, ein stolzer und leicht reizbarer junger Mann, hadert mit der autoritären Ordnung in Staat und Gesellschaft Preußens. Er liest liberale Blätter und hat undeutliche Ideen von einer freiheitlichen Republik, die er in dem »glücklichen Amerika« verwirklicht glaubt, über das er ein Buch besitzt, in dem er oft liest. Sein Nachbar, der gräfliche Förster Opitz, ein hochmütiger, engstirniger und ehrpusseliger Mittdreißiger, ist für ihn nicht nur die Verkörperung des preußischen Obrigkeitsstaates, sondern auch sein persönlicher Feind, der ihn mit unversöhnlichem Hass verfolgt, weil er ihm die Unterwerfung und Ehrerbietung versagt, auf die Opitz als gräflicher Forstbeamter Anspruch zu haben glaubt. Schon im Deutsch-Französischen Krieg wurde Menz von Opitz schikaniert und um die verdiente Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz gebracht. Nach dem Krieg hat Opitz ihn wegen Wilddieberei angezeigt und dafür gesorgt, dass er zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Als er ihn wegen einer Lappalie erneut anzuzeigen droht, bricht sich der auch auf Menz' Seite aufgestaute Hass schließlich Bahn: Er schießt seinen Widersacher bei einer nächtlichen Begegnung im Gebirge nieder. Opitz verblutet qualvoll. Da es keine Augenzeugen der Tat gibt, hofft Menz, die Sache aussitzen zu können. Doch nachdem sich die Indizien verdichten, kann er nur durch trickreiche Flucht seiner unmittelbaren Verhaftung entgehen. Er verlässt seine Heimat und emigriert nach Nordamerika, wo er als Goldgräber ein Vermögen macht und es wieder verliert. Schließlich findet er Aufnahme in »Nogat-Ehre«, einer von deutschstämmigen Mennoniten gegründeten Siedlung im Indian Territory. Dort lebt und arbeitet er als Verwalter auf dem Hof des Gemeindeoberhaupts Obadja Hornbostel, unter dessen Dach eine bunt gewürfelte Gesellschaft friedlich zusammenlebt, darunter auch der ehemalige Pariser Kommunarde Camille L'Hermite, mit dem Lehnert Freundschaft schließt. Durch seine Persönlichkeit und seinen Fleiß erwirbt er sich die Achtung und Wertschätzung seiner Hausgenossen und ihres Oberhaupts. Geplagt von seinem Gewissen, beichtet er Obadja Hornbostel seine Mordtat und tritt der mennonitischen Gemeinde bei. Als er kurz vor der Hochzeit mit Obadjas Tochter Ruth steht, verunglückt er in der Wildnis bei der Suche nach dem bei einem Jagdausflug vermissten Sohn des Hauses, Tobias Hornbostel, und stirbt ähnlich langsam und qualvoll wie Opitz. Und wie dieser hinterlässt er einen Zettel, auf dem er seine letzten Gedanken notiert hat: Die mehrmalige Bitte um Vergebung, die Hoffnung auf Erlösung und darauf, dass er mit Opitz nun »quitt« sei, d. h. seine Tat mit seinem eigenen Tod gesühnt habe. Er wird in der Familiengruft der Hornbostels begraben. Am selben Tag schreibt Obadja Hornbostel einen Brief an Lehnerts Heimatgemeinde mit der Nachricht von seinem Tod.

Schach [S. 10]
Schach von Wuthenow, Erzählung Fontanes von 1883.
Spielt 1806 kurz vor dem Ausbruch des 4. Koalitionskrieges, als die bevorstehende Niederlage Preußens gegen Napoleon für viele noch unabsehbar ist. Der Protagonist, ein adeliger Offizier namens Schach von Wuthenow, Rittmeister im feudalen Regiment Gensdarmes. Damit gehört er der höheren Gesellschaft an, verkehrt mit Prinz Louis Ferdinand, gilt als ausnehmend schöner, attraktiver Mann. Vor Ehe und Familie scheut er zurück, nicht aber vor amourösen Abenteuern. So umwirbt er die geistreiche Witwe Josephine von Carayon, in deren Salon er regelmäßig verkehrt. In einem Moment romantischer Gefühlsverwirrung verführt er deren Tochter Victoire von Carayon, die als junges Mädchen eine gefeierte Schönheit gewesen war, deren Gesicht jetzt jedoch Blattern entstellen.

Sedanstag [S. 21]
Gedenktag, im Deutschen Kaiserreich (1871–1918) jährlich um den 2. September gefeiert. Er erinnerte an die Kapitulation der französischen Armee am 2. September 1870 nach der Schlacht bei Sedan, in der preußische, bayerische, württembergische und sächsische Truppen nahe der französischen Stadt Sedan den entscheidenden Sieg im Deutsch-Französischen Krieg errangen. Nach der Kapitulation seiner Armee überlässt sich der französische Kaiser Napoleon III. der persönlichen Gefangenschaft des preußischen Königs Wilhelm I.
Anlässlich dieses Tages ab 1871 im ganzen Deutschen Kaiserreich an zentralen Plätzen Siegesdenkmäler errichtet und meist mit feierlichen Zeremonien am Vortag des Sedantages eingeweiht, u.a. in Berlin.

Stine [S. 10]
Roman Fontanes, zwischen 1881 und 1888 verfasst, erschienen 1890, der im Berlin der Gründerzeit spielt.
Stine zählt den realistischen Romanen, die sich dem märkischen Adel und dem Berliner Kleinbürgertum in einer innerlich brüchigen Zeit widmen. Fontane machte wie in seinem 1888 erschienenen Roman "Irrungen, Wirrungen" die unmenschlichen Grenzen der Standesgesellschaft zum Thema und löst erneut einen Skandal aus. Obwohl dieser Roman, wie er es selbst an seinen befreundeten Kritiker Paul Schlenther schrieb, „bei Lichte besehen, (…) noch harmloser als Irrungen, Wirrungen ist“, kann Stine erst 1890 erscheinen.
Aus Fontanes Briefzeugnis Theodor Wolff 1888 ist nachzuvollziehen, dass schon nach frühen Anfängen an Stine im Jahr 1881 verschiedene Arbeiten folgten und Fontane erst 1885 in einem wahren Arbeitsschub die Hauptkapitel (bis zu dem Dialog der Witwe Pittelkow mit dem Grafen Sarastro am Ende der Novelle) verfasste.

Tunnel über der Spree [9]
Sein Freund Lepel führt Fontane dort ein. Hier wird er einflußreichen Persönlichkeiten begegnen, deren Bekanntschaft entscheidenden Einfluss auf seinen weiteren Lebensweg haben wird.
Der Schriftsteller und Verleger Gottlieb Saphir gründet diese Dichtervereinigung 1827. Der eigentümliche Name des Klubs spielt satirisch auf den einige Jahre zuvor gebauten Tunnel unter der Themse an, eine Meisterleistung der damaligen Ingenieurskunst.
Der literarische Gesellschaft, unter der Bezeichnung „Sonntags-Verein zu Berlin“ 1827 gegründet, im Laufe der Zeit 214 Mitglieder als "Tunnelbrüder", prägt über 70 Jahre das literarische Leben Berlins mit. Der Verein legt sich in seinen Statuten strenge Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit auf und beschränkt sein Vereinsleben im Wesentlichen auf interne Aktivitäten. Im Zuge der 48er Revolution Pläne diskutiert, sich nach außen zu öffnen, ein eigenes Blatt herauszugeben und sogar richtungsweisend für ganz Deutschland zu werden. Es bleibt am Ende jedoch beim alten, vormärzlichen Standpunkt.
Der Schriftsteller und Satiriker Moritz Gottlieb Saphir hebt zusammen mit den Hofschauspielern Friedrich Wilhelm Lemm und Louis Schneider diese Vereinigung in seiner Privatwohnung aus der Taufe und wird auch deren erster Vorstand. Julius Eduard Hitzig hat Saphir kurz zuvor die Mitgliedschaft in der ‚Neuen Mittwochsgesellschaft‘ verweigert, und Saphir will wohl damit einen Gegenpol schaffen. Nach einem Bonmot Theodor Fontanes wollte Saphir mit dieser Gründung nur eine persönliche „Leibgarde“ um sich scharen. Ein weiteres Mitglied, Emanuel Geibel, bezeichnete diese Gesellschaft als „Kleindichterbewahranstalt“.
Die Mitglieder sagten nicht „die“, sondern „Der Sonntagsgesellschaft“, um nicht mit der Hofopernsängerin Henriette Sontag in Verbindung gebracht zu werden. Als Motto wählte man den Spruch Unendliche Ironie und unendliche Wehmut sowie Till Eulenspiegel als Schutzpatron.
Mit der Bezeichnung „Tunnel über der Spree“ wollte man darauf hinweisen, dass Berlin eben noch keinen Tunnel unter der Spree vorzuweisen hatte. Gleichzeitig war der Name eine Parodie auf den Bau des ersten Tunnels unter der Themse in London durch Marc Isambard und Isambard Kingdom Brunel. Für Zeitgenossen schien der Name umso ironischer, als 1828, drei Jahre nach ihrem Beginn, die Bauarbeiten aus finanziellen Gründen für sieben Jahre unterbrochen werden mussten.
Vereinigung durch Fontane so bekannt geworden, dass das Literarische Colloquium Berlin seinen seit 1991 stattfindenden Schriftstellertreffen denselben Namen gegeben hat
Saphir scheid 1829 aus dem Tunnel aus, woraufhin die mit übertriebener Parodie und "etwas zu gewolltem Humor" (Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, Berlin-Weimar 1982, S. 159) versehenen Gewohnheiten und Späne abnahmen, wobei die künstlerischen Arbeiten der Tunnel-Mitglieder, die diese dem Verein vorlegten, auch weiterhin Späne genannt werden.
Im Verein waren Ärzte, Pädagogen, Pfarrer, Kaufleute und Professoren. In erster Linie stellte der Tunnel also keinen Verein von Literaten, sondern von Liebhabern der Literatur und der Kunst dar. Fontane meint, dass im Jahre 1844 "die Gesellschaft ihren ursprünglichen Charakter bereits stark verändert und sich aus einem Vereine dichtender Dilettanten in einen wirklichen Dichterverein umgewandelt hat. Auch jetzt noch, trotz dieser Umwandlung, herrschten `Amateurs' vor, gehörten aber doch meistens jener höheren Ordnung an, wo das Spielen mit der Kunst entweder in die wirkliche Kunst übergeht, oder aber durch entgegenkommendes Verständnis ihr oft besser dient als der fachmäßige Betrieb" (Von Zwanzig bis Dreißig, S. 154).
Stilistisch befand sich der Tunnel in der Nachfolge der klassischen und romantischen deutschen Literatur, was durchaus der eher konservativen Einstellung seiner Mitglieder entsprach. Entscheidend auf die Anhebung des Niveaus des Vereins wirkte sich die Mitgliedschaft einiger sehr talentierter Männer aus. Für die Dichtung ist insbesondere Fontane, Emanuel Geibel, Moritz Graf von Strachwitz, Christian Friedrich Scherenberg, der spätere Nobelpreisträger Paul Heyse und eventuell auch noch Fontanes langjähriger Freund und Korrespondenzpartner Bernhard von Lepel zu nennen. Insbesondere der Balladenkunst im Tunnel kann Bedeutung nicht abgesprochen werden. Dabei steht Fontane zweifellos an erster Stelle. Wie von anderen war auch von ihm im Tunnel einiges erstmals zu hören, was später im Druck erschien:
Der Tower-Brand, Der Wettersee, Der Wenersee, Der Tag von Hemmingstedt, Archibald Douglas, Schloß Eger
Fontane ist über 20 Jahre (1844-1865) Mitglied des Tunnels.
Währenddessen fungierte er auch als das angebetete Haupt (1859-1860), also als Vorsitzender des Vereins und überdies dreimal als Sekretär bzw. dessen Stellvertreter, wobei er die Protokolle zu führen hatte. Er entwickelt ein Gefühl der Zugehörigkeit, da der Tunnel für ihn "eine Art literarische Heimat darstellte, die Stätte, an der er als Schriftsteller aufwächst, sich das Handwerkliche der Dichtkunst aneignet, aus der Kritik an seinen Gedichten lernt und sich selbst als Kritiker versucht. Hier erntet er seine ersten und zum Teil sehr ermutigenden Erfolge, hier wird er mit der Welt der Literatur und dem literarischen Leben eingehender und in breiterem Maße vertraut".




Wolfsohn [S. 26]
Wilhelm Wolfsohn (Pseudonym: Carl Maien 1820 - 1865) Jüdischer Journalist, Dramendichter, Übersetzer und Vermittler deutsch-russischer Literaturbeziehungen. Medizinstudium in Leipzig. Aufsätze in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums. Im Leipziger „Herwegh-Klub“ lernt er 1841 Fontane kennen, mit dem er sich anfreundet und dessen früher Förderer er wird. Seit 1852 in Dresden wohnhaft, wo er auf dem Alten Jüdischen Friedhof begraben ist.









Zitate

Herr Seydlitz auf dem Falben [S. 22]

Herr Seydlitz auf dem Falben
Sprengt an die Front heran,
Sein Aug' ist allenthalben,
Er mustert Roß und Mann,
Er reitet auf und nieder
Und blickt so lustig drein,
Da wissen's alle Glieder:
Heut wird ein Tanzen sein.

Noch weit sind die Franzosen;
Doch Seydlitz will zu Ball,
Die gelben Lederhosen,
Sie sitzen drum so prall;
Schwarz glänzen Hut und Krempe,
Im Sonnenschein zumal,
Und gar die blanke Plempe
Blitzt selbst wie Sonnenstrahl.

Sie brechen auf von Halle,
Die Tänzer allbereit,
Bis Gotha hin zu Balle
Ist freilich etwas weit.
Doch Seydlitz, vorwärts trabend,
Spricht: »Kinder, wohlgemut!
Ich denk', ein lust'ger Abend
Macht alles wieder gut.«

Die Nacht ist eingebrochen;
Zu Gotha, auf dem Schloß,
Welch Tanzen da und Kochen
In Saal und Erdgeschoß,
Die Tafel trägt das Beste
An Wein und Wild und Fisch -
Da, ungebetne Gäste
Führt Seydlitz an den Tisch.

Die Witz- und Wortspieljäger
Sind fort mit einem Satz,
Die Schwert- und Stulpenträger,
Sie nehmen hurtig Platz;
Herr Seydlitz bricht beim Zechen
Den Flaschen all' den Hals,
Man weiß, das Hälsebrechen
Verstund er allenfalls.

Getrunken und gegessen
Hat jeder, was ihm scheint,
Dann heißt es: »Aufgesessen
Und wieder nach dem Feind!«
Der möchte sich verschnaufen
Und hält bei Roßbach an,
Doch nur, um fortzulaufen
Mit neuen Kräften dann. -

Das waren Seydlitz' Späße;
Bei Zorndorf galt es Zorn,
Als ob's im Namen säße,
Nahm man sich da aufs Korn;
Das slawische Gelichter -
Herr Seydlitz hoffte traun
Noch menschliche Gesichter
Aus ihnen zuzuhaun.

Des Krieges Blutvergeuden,
Die Fürsten kriegten's satt;
Nur Seydlitz wenig Freuden
An ihrem Frieden hat;
Oft jagt er drum vom Morgen
Bis in die Nacht hinein,
Es können dann die Sorgen
So schnell nicht hinterdrein.

Er kam nicht hoch zu Jahren,
Früh trat herein der Tod:
Könnt' er zu Rosse fahren,
Da hätt's noch keine Not;
Doch auf dem Lager, balde
Hat ihn der Tod besiegt,
Der draußen auf der Halde
Noch lang' ihn nicht gekriegt.

Theodor Fontane
Plempe: Seitengewehr, Säbel



Einzug (16. Juni 1871) [S. 19]

Und siehe da, zum dritten Mal
Ziehen sie ein durch das große Portal;
Der Kaiser vorauf, die Sonne scheint,
Alles lacht und alles weint,

Erst die Garde. Brigaden vier,
Garde und Garde-Grenadier':
Elisabether, Alexandriner,
Franziskaner, Augustiner,
Sie nahmen, noch nicht zufrieden mit Chlum,
Bei Privat ein Privatissimum. -
Mit ihnen kommen, geschlossen, gekoppelt,
Die Säbel in Händen, den Ruhm gedoppelt,
Die hellblauen Reiter von Mars la Tour,
Aber an Zahl die Hälfte nur.

Garde vorüber. - Garde tritt an:
Regiment des Kaisers, Mann an Mann,
»Kein Schuß; Gewehr zur Attacke rechts.«
Die Siebner , die Phalanx jedes Gefechts,
Die Sieben ist eine besondere Zahl,
Dem einen zur Lust, dem andern zur Qual;
Was von den Turkos noch übrig geblieben,
Spricht wohl von einer bösen Sieben.

Blumen fliegen aus jedem Haus,
Der Himmel strömt lachende Lichter aus,
Und der Lichtball selber lächelt in Wonne:
»Es gibt doch noch Neues unter der Sonne.«

Gewiß. Eben jetzt einschwenkt in das Tor,
Keine Linie zurück, keine Linie vor,
En bataillon, frisch wie der Lenz,
Die ganze Armee in Double-Essenz.
Ein Korps bedeutet jeder Zug,
Das ist kein Schreiten, das ist wie Flug,
Das macht, weil ihnen ungesehn
Dreihundert Fahnen zu Häupten wehn.

Bunt gewürfelt Preußen, Hessen,
Bayern und Baden nicht zu vergessen,
Sachsen, Schwaben, Jäger, Schützen,
Pickelhauben und Helme und Mützen,
Das Eiserne Kreuz ihre einzige Zier;
Alles zerschossen; ihr ganzes Prahlen
Nur ein Wettstreit in den Zahlen,
In den Zahlen derer, die nicht hier.

Zum dritten Mal
Ziehen sie ein durch das große Portal;
Die Linden hinauf erdröhnt ihr Schritt,
Preußen-Deutschland fühlt ihn mit.

Hunderttausende auf den Zehenspitzen!
Vorüber, wo Einarm und Stelzfuß sitzen,
Jedem Stelzfuß bis in sein Bein von Holz
Fährt der alte Schlachtenstolz.
Halt,
Vor des Großen Königs ernster Gestalt.

Bei dem Fritzen-Denkmal stehen sie wieder,
Sie blicken hinauf, der Alte blickt nieder;
Er neigt sich leise über den Bug:
»Bon soir, Messieurs, nun ist es genug. «

Theodor Fontane








Günter Grass



Der gelernte Steinmetz und Bildhauer, geboren 1927 in Danzig-Langfuhr als Günter Wilhelm Graß, der seinen Lebensunterhalt während des Studiums an der Kunstakademie zeitweise auch als Türsteher in der Düsseldorfer Altstadt verdient, hat 6 leibliche Kinder von 3 Frauen. 2 Mal ist er verheiratet.
Von 1956 bis 1960 lebt er mit der Schweizer Balletttänzerin Anna Schwarz, die er 1954 heiratet, in Paris. In dieser Zeit entsteht "Die Blechtrommel". Später erzählt Grass in verschiedenen TV-Interviews, dass diese Zeit nicht von finanziellen Nöten geprägt war, sondern von der ständigen Angst vor einer Schwangerschaft. Dennoch werden in Paris die Zwillingssöhne Raoul und Franz geboren.
1960 zieht die Grass-Familie nach dem überwältigenden Erfolg der "Blechtrommel" nach Berlin. Im Ortsteil Friedenau kauft er ein "kleines, romantisches" Landhaus. Grass kennt Berlin. Er bewohnt in der Karlsbader Straße 16 in Schmargendorf eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock samt Atelier unterm Dach und in den 1950ern arbeitet er für das Berliner Handelsunternehmen Bolle als Reklamemann.
Das Haus in Friedenau wird schnell zum Treffpunkt der Berliner Bohème, die Grass mit großer Leidenschaft bekocht. Gourmet Grass: "Wenn wir am Sonnabend auf unseren Friedenauer Wochenmarkt gehen, dann kaufen wir Dill und Gurken, Havelaal und Heilbutt, Birnen und Pfifferlinge, Hasenläufe und Vierländer Mastenten, wo wir wollen und lustig sind." In Friedenau ist er zugleich engagierter Schriftsteller, Bohemien und Nachbar. Max Frisch gesteht, wegen Grass und Co. nach Friedenau gezogen zu sein. Dort geht es denn auch gleich auf den Wochenmarkt am Breslauer Platz.
Seine erste Begegnung mit Grass in Warschau schildert Reich-Ranicki in seinen Memoiren. Grass habe "nicht wie ein Schriftsteller aus dem Wirtschaftswunderland ausgesehen, sondern wie ein ehemaliger bulgarischer Partisan". Er sei "nachlässig gekleidet und auch nicht rasiert" und keineswegs nüchtern gewesen: "Er hatte, was er mir freilich erst zwei Stunden später sagte, zum einsamen Mittagessen eine ganze Flasche Wodka getrunken."
1961 wird in Berlin die Tochter Laura geboren, vier Jahre später Sohn Bruno. 1972 trennen sich Günter Grass und Anna Schwarz. Er zieht mit seiner neuen Liebe, der Architektin und Malerin Veronika Schröter, nach Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. 1974 wird die gemeinsame Tochter Helene geboren. 1979 kommt die Grass-Tochter Nele Krüger zur Welt, ihre Mutter ist die Lektorin Ingrid Krüger. Noch im selben Jahr heiratet Grass die Organistin Ute Grunert, die zwei Söhne mit in die Ehe brachte. In seinem autobiografischen Roman "Die Box" lässt Grass seine 6 leiblichen Kinder und die Söhne von Ute Grunert als "seine 8 Kinder" auftreten. Nach einem gemeinsamen Intermezzo in Indien, meist in Kalkutta (1986/1987) zieht das Paar in ein Haus in Behlendorf im Kreis Herzogtum Lauenburg, etwa 25 Kilometer südlich von Lübeck. Dort lebt Günter Grass bis zu seinem Tod 2015.
Die Grass-Werke verkaufen sich blendend. Experten schätzen die Gesamtauflage auf über 10 Millionen. Hinzu kommt, dass Grass ein erstklassiger Bildhauer ist, der mehrere öffentliche Aufträge wahrnimmt. Das Vermögen des Dichters dürfte weit über 1 Mill. € betragen, zumal der Literaturnobelpreis, 1999 verliehen, mit Zahlung von 1,8 Mill. Mark verbunden ist. Überdies dürfte sein letztes Werk "Vonne Endlichkait" posthum einen wahren Tantiemenregen auslösen. Das alles dürfte an seine Kinder, die letzte Ehefrau und an etliche Grass-Stiftungen fallen.
Grass 2014: "Meine Frau und ich haben zusammen 8 Kinder und mittlerweile 18 Enkelkinder, bald werde ich Urgroßvater. Die Gefahr ist heute, so beobachte ich es, dass die Kinder zugedeckt sind mit einer Überfürsorge. Die Eltern sind sehr bedacht, die Kinder haben überhaupt keine Chance mehr sich zu verlaufen. Ich hatte nicht vor, meinen Kindern übermäßig viel zu vererben. Ich wollte sie nicht unglücklich machen mit nicht-verdientem Geld. So habe ich eine Reihe von Stiftungen errichtet, die auch mit meiner Tätigkeit zu tun haben. Zum Beispiel fördern wir junge Literaten, polnische Grafiker und Menschen, die sich um das Volk der Sinti und Roma - die größte misshandelte Minderheit in Europa - verdient gemacht haben."






Nachwort



Verriss Reich-Ranicki
Verriss Iris Radisch

Wiki:
Beide Kritiker bezeichnen Grass als gescheiterten Schriftsteller, und kritisieren vor allem, dass das Buch aus DDR-Perspektive geschrieben sei, ohne empörte Verurteilung der DDR (Reich-Ranicki) und stattdessen Darstellung der Wiedervereinigung als Kolonisierung durch Westdeutschland (Radisch). Radisch nimmt in der Überschrift ihrer Buchbesprechung Bezug auf den Bitterfelder Weg der DDR-Kulturpolitik, auf den Grass sich anscheinend begeben habe.
Die auf die DDR bezogene Äußerung in Grass' Buch „Wir lebten in einer kommoden Diktatur“ wurde in Diskursen über das Wesen der DDR zum geflügelten Wort.
Grass' Anwort: „Es ist nicht der Autor, der aus der einzelnen Person heraus spricht, und diese Dinge sind von einem Teil der Kritik vordergründig nur politisch beim Wort genommen worden.“ Grass verteidigt die Äußerung seiner Romanfigur: „Wenn man sich mit mir über diesen Satz auseinandersetzen will, wenn ich die DDR-Verhältnisse in Vergleich bringe zu den Verhältnissen, wie sie in der Sowjetunion die längste Zeit herrschten, oder in Rumänien bis zum Schluß herrschten, oder in Chile herrschten, oder im Obristen-Griechenland, dann ist die DDR eine relativ kommode Diktatur gewesen. Sie blieb eine Diktatur dadurch, aber das reicht nicht, es gibt eine Mentalität, die sich in einem Teil dieser Kritiken ausgesprochen hat, die den Sieg, den man meint errungen zu haben, noch größer sehen möchte. Also muß der am Boden liegende Gegner, der zum Teil schon verschwundene Gegner, nachträglich noch gefährlicher gemacht werden, um den eigenen Sieg zu vergrößern.“

Ralf Stiftel macht 1995 darauf aufmerksam, dass Grass seine Akteure ironisiere, ohne dass er das im einzelnen begründet. Anhand welcher Äußerungen lässt sich die Ironie nachweisen? Erleichtert eine ironische Formulierung oder Darstellung das Verständnis beim Leser? Es kann nicht sinnvoll sein, in Anbetracht der Empfindlichkeiten vieler ehemaliger DDR-Bürger, in dieser Art zu schreiben, zumal Grass ihnen wohl doch aus der Seele reden will, wie Ironie überhaupt schwer herüberkommt und Zynismus auch von Grass nicht immer leicht ertragen wird. Statt die Menschen in Ost und West zusammen zu bringen, polarisiert er, was man ihm zutrauen könnte. Überraschend findet sich in der Brockhaus Enzyklopädie der Hinweis, dass z. B. bei Grass die Ironie sich „in trockenem Spott” äußert.

Der Veröffentlichung des Romans folgen beinahe ausnahmslos negative Reaktionen, bei deren Ablehnung durch die Literaturkritik das hohe Maß an Schärfe und Uniformität überrascht. Das beinahe einstimmige Urteil ist, dass Grass mit diesem „totalen Fehlschlag von der Literatur Abschied genommen habe“ und lediglich seine allseits bekannte Kritik am Einigungsprozess den als Sprachrohr fungierenden Figuren der Einfachheit halber in den Mund gelegt habe. Wenige Neuerscheinungen auf dem literarischen Buchmarkt der vergangenen Jahrzehnte haben in vergleichbarer Intensität die Gemüter erregt: „Es ist Literaturkrieg in Deutschland.“
Abgesehen von vielen anderen Punkten, die die Feuilletons kritisieren, hadern die Rezensenten besonders mit der Tatsache, dass das Buch nicht den Platz einnahm, den sie für das Werk vorgesehen hatten: Man hatte das Buch der Vereinigung erwartet und diesen Wunsch auch oft geäußert, was gewissermaßen nur die Fortsetzung des auch politischen Bedürfnisses nach dem „zeitgenössischen, großen, deutschen Roman“ zu sein scheint. Zwar nahm man diese Erwartung von vielen Seiten auch eher mit Befremden oder belustigt wahr, Grass selbst kritisierte das.
Aber warum weckte "Ein weites Feld" in so besonderem Maße die Hoffnung, es könne den lang gehegten Wunsch befriedigen und warum wurde das Werk von vornherein unter der Rubrik „großer Wenderoman“ verhandelt?
1994 meldet dpa, Grass arbeite an einem Roman mit aktuellem Thema: „Deutschland, belastet von alter Geschichte zu Beginn einer neuen Geschichte von solchem Gewicht, dass dieser Roman davon bestimmt ist.“ 1995 meldet dpa, der neue Roman sei fertig, er entwerfe ein Panorama deutscher Geschichte, zeitlich angesiedelt zwischen der Märzrevolution von 1848 und der Gegenwart und spiele hauptsächlich in Berlin.
(Eckhard Henscheid in H 15 von "konkret": „Wer endlich, fast ein Jahr nach Grenzaufweichung und Mauereinsturz, - wer endlich verdient sich die Sporen und packt jetzt endlich mal episch auch die praktisch längst absolvierte deutsche Wieder- und Neuvereinigung an? Und dabei ist ganz nebenbei auch noch das zur Erfüllung zu treiben, wonach der greise Reich-Ranicki seit nun mitgezählten 23 Jahren gackert: nach dem „großen und bewegenden politischen Zeitroman, den auch ich, R.R., so gerade noch kapiere?“)



Nach der ersten Lesung erwecken die Berichte in den Tageszeitungen eine gespannte Erwartungshaltung: „Unser Altmeister Günter Grass hat den großen deutschen Roman über Wende und Mauerfall geschrieben.“
1995 veröffentlicht die ZEIT eine Anzeige von „zweitausendeins“, die dazu auffordert, sich die Erstausgabe des neuen Buches zu sichern, und die das Buch in diesem Zusammenhang als „Jahrhundertroman“ ankündigt. „Grass hat seinen neuen Roman als Jahrhundert-Werk angelegt: Das Buch‚ noch ein wenig umfangreicher als die 'Blechtrommel', schlägt einen Bogen über mehr als hundert Jahre deutscher Geschichte.“
Es war also die zeitliche Ausdehnung und nicht die Einmaligkeit des Romans gemeint, ein Missverständnis, was rasch hämische Reaktionen nach sich zieht: „Grass’ neues Buch, von einem beispiellosen Mediengetöse präludiert und in den neuerdings so beliebten Vorabkritiken schon zum ultimativen Wenderoman, ja zum Jahrhundertwerk ausgerufen, ist auch ohne die hysterisch hochgeschraubten Erwartungen eine herbe Enttäuschung.“ Bis zum Erscheinungstermin liegen 288 Artikel deutschsprachiger Blätter zum neuen Roman vor.
„Dass ein vorbeugend von mehreren Großkritikern als unlesbar und langweilig eingestufter Roman so tief in die sozialpsychologische Balancearbeit eines Landes eingreift, ja sie offenbar zu stören vermag, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass Grass´ neues Werk auf zerbrechliche Strukturen und Konfliktpotentiale verweist, die die bestehende mediale Öffentlichkeit unter allen Umständen in Schichten des Vorbewussten und Verdrängten halten möchte.“