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Stromness



Reuter


Ran an die englische Söldnerschar
Hurrah unsre Flotte erscheint
Zum Gefechte ist alles klar
Ran ans Geschütz, ran an den Feind




Wilhelm II.


Sir David Beatty


Cardiff















Friedrich der Große



Bayern




21. Juni 1919, ein strahlend sonniger Tag - vor genau 100 Jahren ...
An der Mole von Stromness, einem kleinen Ort auf den Orkneys in Schottland, warten 400 Schulkinder, um auf einem Dampfer einen Schulausflug rund um die internierte deutsche Flotte in der Scapa-Flow-Bucht zu machen. Um 9h30 Uhr legt das Schiff ab. Bald winken die Kinder den deutschen Seeleuten zu, von denen einige Mundharmonika spielen und andere anlässlich der Sommersonnenwende weiße Uniform tragen, im starken Kontrast zu den schwarzgrauen Schiffen, denen lange Bärte von Algen den Rumpf hinabwuchern.



Verbandschef Konteradmiral Ludwig von Reuter, geboren 1869, steht in voller Uniform mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse an Deck seines Flaggschiffs und lässt ab 11h Uhr per Signalzeichen den vorbereiteten Versenkungsbefehl an die anderen Schiffe übermitteln. Das braucht seine Zeit, weil nicht alle direkten Sichtkontakt haben.
Auf einem der englischen Patrouillenboote, die in der Bucht geblieben sind, zeichnet der Maler Bernard Gribble gerade das Linienschiff Friedrich der Große, als ihm auffällt, dass dort verbotenerweise die Boote ins Wasser gelassen werden.

Um 12 Uhr mittags hat das Schiff bereits Schlagseite, und im Augenblick des Kenterns erscheint der letzte Mann an Deck, der später bewusstlos gerettet wird. Um 12:16 Uhr wirft die aus den Schornsteinen austretende Luft zwei große Wasserstrudel auf, dann treiben nur noch Trümmer auf dem verlassenen Liegeplatz. Die erste Versenkung wirkt wie ein Weckruf für die übrige Flotte. Zum ersten Mal seit sieben Monaten rennen die Männer eilig über Deck. Alles wird geöffnet, auch Kondensatorendeckel, Kammertüren und Bullaugen. Die Torpedoboote neigen sich schon nach wenigen Minuten zur Seite.
Als erster Schlachtkreuzer sinkt Moltke um 13:15 Uhr gleich einen Fontänen speienden Wal.



Der Große Kurfürst bäumt sich steil in die Höhe, bevor beide Ankerketten brechen, er schwer über Backbord fällt und kentert.
Auf der Seydlitz ertönt ein Hornruf nach dem alten Reiterlied "Wohl auf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!" Die Männer legen ab und singen die Nationalhymne. Drei Hurras, die von den Inselbergen zurückschallen, sind des sterbenden Riesen letztes Geleit.



Die Kinder auf ihrem Dampfer glauben, ein für sie arrangiertes Schauspiel zu erleben, bis sie begreifen, was vor sich geht. Weinend und schreiend stimmen sie eine spontane Totenklage an, zusätzlich zu der ohrenbetäubenden Kakophonie aus läutenden Schiffsglocken, berstendem Stahl, brodelndem Wasser, singenden Seeleuten, umherfahrenden Dampfbooten und spontan schießenden Engländern, welche die Deutschen zur Rettung ihrer Schiffe zwingen wollen. Auf der Baden, die sehr spät die Versenkung eingeleitet hat, tanzt ein Seemann in weißer Uniform ganz allein auf einem Geschützturm. Nachdem der Dampfer die weinenden Kinder an Land abgesetzt hat, nimmt er die Baden ins Schlepp und setzt sie in flachem Wasser auf Grund. Um 4h nachmittags sind von den 24 Schiffen und kleinen Kreuzern nur noch fünf über Wasser. Markgraf sinkt um 16:45 und als letztes großes Schiff um 17 Uhr die Hindenburg.



Schauriger Schluss des Ersten Weltkriegs zur See, die Engländer erschießen 9 Mann – die letzten Toten dieses Krieges. Ertrunken ist niemand.

Mannschaften und Offiziere des Internierungsverbandes gehen in die Kriegsgefangenschaft, aus der sie Ende Januar 1920 nach Deutschland zurückkehren.




Was alles war dem vorausgegeangen?

Nach vier Jahren Krieg ruhen seit dem 11. November 1918 die Waffen, zwei Tage nach der Flucht Kaiser Wilhelms II. ins holländische Exil. Die deutsche Delegation unterzeichnet im Wald von Compiègne den Waffenstillstand. Die deutschen U-Boote sind auszuliefen, die Hochseeflotte soll interniert werden.

Zwei Wochen zuvor hatten in Kiel und Wilhelmshaven die Matrosenaufstände begonnen, als Pläne der Flottenleitung bekannt wurden, zu einer letzten Schlacht gegen England auszulaufen. Nach dem Waffenstillstand rief aber dann der oberste Soldatenrat im Dienste des Vaterlands dazu auf, der neuen deutschen Republik ihre Wehrkraft zu erhalten – in der Annahme, die Schiffe würden als vorübergehendes Pfand nach dem Friedensschluss zurückkehren. Man billigte den Offizieren ein Minimum an Autorität zu, damit sie wieder an Bord gingen und die seemännische Führung der Schiffe übernahmen.

Konteradmiral von Reuter wurde Verbandschef des Überführungsverbandes. Das Zusammen-leben von Mannschaft und Offizieren an Bord wurde nun täglich neu ausgehandelt.

Reuter ahnte, dass die Flotte nie zurückkehren würde, war aber zur Überführung bereit, damit es nicht zu der angedrohten Besetzung Helgolands und der Nordseeflussmündungen kam. Erst Monate später erfuhr er, dass der britische Admirals Sir David Beatty, der die deutsche Flotte vor dem schottischen Firth of Force erwartete, gar nicht ernsthaft damit rechnete, sie unversehrt in Empfang zu nehmen.



Am 19. November 1918 läuft die Flotte in einer 50 km langen Linie von Wilhelmshaven zu ihrer letzten Fahrt aus: 5 Große Kreuzer, 11 Linienschiffe, 8 Kleine Kreuzer und 50 Torpedoboote - 74 Einheiten oder 400.000 Tonnen Schiffsmaterial mit 20.000 Mann an Bord. Vollkommen wehrlos fährt die entwaffnete Flotte dem Feind entgegen.

Auf dem Weg durch die minenverseuchte Nordsee sinkt ein Torpedoboot, zwei Tote.
Am frühen Morgen des 21. November führt der kleine Kreuzer Cardiff, begleitet von 80 Zerstörern, die deutschen Schiffe in den Firth of Forth. Mit seinen Schlachtschiffen fährt Admiral Beatty den Deutschen in zwei langen parallelen Linien entgegen, zwischen denen Cardiff die deutsche Linie hindurchführt. Ein solches Flottenaufgebot hat es noch nie gegeben: 90.000 Mann auf 370 Schiffen. Das gigantische Manöver ist eine Art Spießrutenlauf: die Siegermächte umgeben die Schiffe des vergangenen Kaiserreichs von allen Seiten. Geschwader um Geschwader, Flottille um Flotille, an die 40 englischen Großkampfschiffe, fast eben so viele Kreuzer, 160 Zerstörer, ein amerikanisches Geschwader, ein Franzose, darüber Flugzeuge und kleine unstarre Luftschiffe. Überall stehen die Bedienungen an den Geschützen klar zum Gefecht mit Gasmaske und Flammenschutzhelm aus Asbest. Die beiden äußeren Linien schwenken um 180 Grad und setzen sich in gleicher Fahrtrichtung neben die deutsche Schiffe.
Alles, was schwamm, war am 21. November im Firth of Forth unterwegs.



Schiffe, Yachten, Ruderboote, Vergnügungsdampfer ließen ihre Dampfpfeifen heulen, und die Besatzungen schlugen laut auf Blecheimer ein. Der Wind trug die englischen Hurrahs zu den Deutschen hinüber. Die vielen Zuschauer mussten eigentlich eine Seeschlacht fürchten, aber "nur eine Lady, die an uns vorüberfuhr", so Reuter (möglicherweise war es Lady Beatty), hob drohend die Faust. Am Nachmittag mussten die deutschen Kriegsflaggen eingeholt werden. Am Abend werden der Funkverkehr mit der Heimat und der Bootsverkehr zwischen den deutschen Schiffen verboten. An den beiden folgenden Tagen überprüfen britische und amerikanische Offiziere die Entwaffnung. Die Soldatenräte umlagern mit weißen und roten Armbinden die Fallreeps und verlangen nach Zigaretten. Die Untersuchungskommissionen bleiben kühl; sie schaufeln Kohlen um, öffnen Kisten und Kästen und überprüfen auch die privaten Spinde der Mannschaften. Am 22. November fahren die ersten Torpedoboote weiter nach Scapa Flow.



Scapa Flow

Im Naturhafen im südlichen Teil der Orkney Insel Mainland mit einer Fläche von 5 × 8 sm versammelten schon die Wikinger ihre Schiffe und auch zu Napoléons spielte der Hafen eine wesentliche Rolle. Die britische Marine richtete sowohl im Erstenwie im Zweiten Weltkrieg hier den Hauptstützpunkt ihrer Flotte ein. In beiden Weltkriegen drangen deutsche U-Boote in die Bucht ein.
Am 23. November 1914 unter Kapitänleutnant Heinz von Hennig, das U-Boot findet aber kein lohnendes Ziel und wird beim Rückzug gerammt.
1939 gelingt es einem U-Boot unter Kapitänleutnant Günther Prien das britische Schlachtschiff HMS Royal Oak mit 833 Mann Besatzung zu versenken.
Und seit den ersten Tests von Atombomben ist der Stahl der versenkten Schiffe der deutschen Kriegsmarine wichtige Quelle für die Messung von Radioaktivität.

Am 27. November 1918 treffen die letzten Schiffe des Überführungsverbandes in Scapa Flow ein und gehen für die kommenden sieben Monate vor Anker. Die flachen, kargen Inseln bieten einen melancholischen Anblick. Die großen Schiffe liegen im westlichen Teil der Bucht; weiter südlich die Torpedoboote in Päckchen nebeneinander. Die vielen Stürme rauben den Besatzungen den Schlaf. Im Osten der Bucht liegt das englische Wachgeschwader, und zwischen den großen Schiffen der Deutschen und ihren Torpedobooten ankert die gegnerische Zerstörerflotte. Im Falle eines Ausbruchversuchs würde sie die deutschen Schiffe mit Torpedo und Geschützfeuer versenken.
Die ständige Bereitschaft eines englischen Besatzungskommandos hält meuternde Teile der Mannschaft halbwegs in Schach, zum Schaden der deutschen Offiziere, deren Autorität darunter leidet, dass sie mangels eigener Macht mit der des Feindes drohen.



Die Besatzungen werden reduziert; 15.000 Mann fahren wieder heim. Für die Dagebliebenen gibt es nicht mehr viel zu tun. Außer Wartungs- und Reinigungsarbeiten wird musiziert und getanzt, gelesen, geschrieben, gebastelt, gespielt und getrunken.
Der Soldatenrat hatte noch für reichlich Alkohol gesagt, was regen Tauschhandel mit den Engländern erlaubt. Landgang und Bootsverkehr zwischen den Schiffen sind verboten. Weihnachten, Ostern und der Tag der Skagerakschlacht sind die wenigen Höhepunkte. Verpflegung kommt aus Deutschland. Die Engländer liefern nur Kohle, Wasser und Öl. Pro Tag verbraucht der Verband 1000 Brote, jede Menge Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Das Fleisch ist bei der Ankunft meistens nicht mehr zu genießen. Fälle von Skorbut treten auf, und 700 Mann leiden monatelang unter Zahnschmerzen. Ein Seehund, der in einer Badewanne gehalten wurde, sowie einige Bordhunde und ein paar Schweine wandern in den Kochtopf. Ein Versuch, mit selbst gegossenen Bleikugeln Möwen zu schießen, scheitert kläglich. Die Bedingungen sind eher die einer Kriegsgefangenschaft denn die einer Internierung, aber die Reichsregierung hat in diesem Winter andere Sorgen.

Besonders auf dem Flaggschiff Friedrich der Große gibt es immer wieder Unruhen. Die Nachricht von der Erschießung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts führt zu einem Saufgelage und beinahe zum Lynchmord an einem Offizier. Die übrigen Schiffe sind vielfach verstimmt von den Aufwiegelungen. Ein Offizier, der einen guten Bekannten zur Rede stellt, bekommt zur Antwort: "Wir müssen, sonst werden wir verhauen". Der Chef der Stabes wird mit "kleiner und großer Notdurft" durch die Seitenfenster gedemütigt. Verbandschef von Reuter wird abgesetzt, dann aber wird seine Befehlsgewalt teilweise wiederhergestellt, als auch der Soldatenrat die Kontrolle verliert.
Auf den kleinen Schiffen geht es ruhiger zu als auf den großen, wo es strengere Hierarchien gab, wo die Mannschaften die Privilegien der Offiziere erlebten und die lange Untätigkeit im Krieg als zunehmend sinnlos empfinden.

Die englischen Offiziere berichten von Schmutz und Verwahrlosung. Sie haben keine Lust, die Unruhen auf ihre Schiffe überspringen zu sehen und verdoppeln kurzerhand den Sold ihrer eigenen Leute. Von Reuter wundert sich sehr, dass die Engländer bis zum Schluss nicht die deutschen Schiffe besetzen (was die Amerikaner mit den internierten Handelsschiffen doch längst getan haben). Aber so frei sind die beiden nicht. Das künftige Schicksal der deutschen Flotte verhandeln die seit dem 18. Januar 1919 tagenden Siegermächte gemeinsam.

Schlussakt

Den Entschluss zur Versenkung der Flotte fällt der Konteradmiral am 20. Juni nach Lektüre der Times vom 16. Juni, die ihm sagt, dass der Waffenstillstand am 21. Juni ohne Verlängerung auslaufe. Reuter bleibt bei seinem Entschluss, die Flotte am 21. Juni vor der wie er meint drohenden Besetzung durch die Engländer zu versenken, obwohl er von der Verlängerung des Waffenstillstands bis zum 23. Juni noch rechtzeitig erfährt.
Die deutschen Besatzungen wurden am 15. und 17. Juni auf 1700 Mann reduziert. Obwohl das internationale Gebot der Seemannsehre, kein Schiff in feindliche Hand fallen zu lassen, auch viele revolutionär gesonnenen Männer teilten, ist es unvorstellbar, dass die Engländer im Rahmen ihrer täglichen Kontakte zu den Deutschen nichts von den heiß diskutierten Vorbereitungen zur Versenkung mitbekommen haben. In Ermangelung von Sprengstoff müssen die vorhandenen Öffnungen wie Flutventile und Torpedoausgänge geräuschvoll präpariert werden.
Am Morgen des 21. Juni verraten englische Seeleute den Deutschen sogar noch freimütig, dass ihre Flotte am kommenden Montag besetzt werden solle. Umso merkwürdiger ist es, dass an diesem 21. Juni 1919 etwas geschieht, was bis dahin noch nie geschah: die meisten englischen Schiffe verlassen ab 9:00 Uhr morgens die Bucht zu Torpedoübungen auf offener See.

Quintessenz

Die Selbstversenkung war eher ein friedlicher wenn auch teurer Schlussakt des Seekriegs. Die formellen Proteste und materiellen Nachforderungen der Briten gingen mit sehr zufriedenen Kommentaren ihrer Admiralität einher, der die Versenkung gewaltige Probleme ersparte. Dank des diskreten Umgangs mit ihrer heimlichen Einigkeit wahrten jedenfalls beide Seiten das Gesicht.

Die Versenkung der Schiffe war ein Bruch der Waffenstillstandsbedingungen, die es verboten, militärische Ausrüstung zu zerstören. Von Reuter wurde deswegen des Vertragsbruches beschuldigt und mit seinen Seeleuten in Kriegsgefangenschaft genommen. 1773 Offiziere und Mannschaften der Rumpfbesatzungen wurden als Gefangene in ein Militärlager in der Nähe von Invergordon überführt. Sie kehrten am 31. Januar 1920 nach Deutschland zurück.

Quelle: Thomas Lombard, Cato 4/2019



Hebung der Kaiserin 1936: Was wie Masten aussieht, sind auf der Unterseite des Rumpfs montierte Einstiegsschächte.
Krieg Triumph des Kapitalismus: Der Ingenieur und Unternehmer Ernest Cox kauft die Wracks für 40.000 Pfund von der Admiralität und sein Unternehmen Cox & Danks hebt sie größtenteils zwischen 1923 und 1939, schlachtet sie aus und wrackt sie ab. Er leistet ingenieurtechnische Pionierarbeit - mit dem Wrack des Großen Kreuzers SMS Hindenburg im August 1930 gelingt ihm die Bergung des bis dahin größten gehobenen Schiffes. (Erst 1950 wird der Rekord durch die Bergung der Gneisenau überboten). Sieben Schiffe bleiben am Meeresgrund und dienen Wracktauchern als beliebte Ziele, die seit 1995 unter Denkmalschutz stehen.



Und zum hundertsten Jahrestag der Versenkung halten deutsche und britische Marine vor Ort eine Gedenkveranstaltung ab: Am Bug des Wracks der Dresden ziehen Taucher die deutsche Flagge auf und demonstrieren ihre Verbundenheit, indem Deutsche und Briten sich die Hände reichen. Ein deutscher Flottillenadmiral übergibt zusammen mit einem britischen Captain Gedenkkränze der See.








Dokumentation BBC: Dokus



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