Christians Mini-Kosmos





Victorine

Die Blutwoche von Paris, als die Revolution ihre Kinder frisst

In Erwägung, dass wir der Regierung
was sie immer auch verspricht, nicht trau‘n
haben wir beschlossen, unter eig‘ner Führung
uns nunmehr ein gutes Leben aufzubau‘n .

In Erwägung, dass ihr uns dann eben
mit Gewehren und Kanonen droht
haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
mehr zu fürchten als den Tod.

Marie Victorine Malenfant, geboren in Paris 1839, wächst bei ihrer Mutter in Orleans auf, nachdem ihr Vater, ein Republikaner, 1851 nach Belgien geflohen ist. Sie heiratet 1861 Jean Charles Rouchy, beteiligt sich an der Gründung einer Genossenschaftsbäckerei, das Paar wird Mitglied der Ersten Internationalen, gegründet 1864 in London von englischen Gewerkschaftern und französischen Emigranten.
(Man lud Karl Marx als Mitglied des vorläufigen Organisationskomitees ein, er hat entscheidenden Einfluss. Die Befreiung von der Unterdrückung „müsste das Werk der Arbeiter selber sein“, mit dem Ziel, jegliche Art von Klassengesellschaft zu beseitigen. Es gibt endlose Diskussionen zwischen Marx, den französischen Anhängern Proudhons und den Anhängern Bakunins. Die Internationale überlebt das Scheitern der Pariser Kommune 1871 nicht und löst sich 1876 endgültig auf. Grund: der unlösbare Konflikt zwischen Marx als Kommunist und Bakunin als Anarchist).
Das Ehepaar Rouchy hat 2 Kinder, die jung sterben. Die Eheleute nehmen 1871 an den Kämpfen der Pariser Kommune gegen die Versailler Regierungstruppen teil, die Victorine zum Tode verurteilen; sie flieht nach Genf, gilt als tot, weil ihre Mutter Victorine irrtümlich unter den sterblichen Überresten der Erschossenen in Versailles identifizierte.
In Genf besucht Victorine die Treffen der Ersten Internationalen, bevor sie nach Ungarn zieht. 1874 kehrt sie nach Genf zurück, wo sie als Schuhmacherin arbeitet. Nach der Amnestie geht sie nach Paris zurück, ist 1881 Delegierte auf dem Londoner Anarchistischen Kongress. Dort lernt sie Gustave Brocher kennen. Sie heiraten und adoptieren mehrere Kinder. Brocher ist 1886 Mitbegründer und Ausbilder an der Internationalen Schule von Louise Michel. Sie ziehen 1892 nach Lausanne, wo sie bis 1912 eine Buchhandlung und ein Jugendinternat betreiben. 1909 veröffentlicht sie ihre Memoiren. Das Paar lebt zwei Jahre in Fiume, wo ihr Mann lehrt, und in Levallois-Perret. Als Brocher 1921 erkrankt, kehren sie nach Lausanne zurück, wo Victorine im selben Jahr stirbt.

Der Fernsehfilm von Raphael Meyssan erzählt die Geschichte der Kommune aus der Perspektive von Victorine in einem Comic im zeichnerischen Stil des späten 19. Jahrhunderts, modern animiert.
Die Kommune - der historisch erste Versuch einer urbanen Räterepublik, die es ein halbes Jahrhundert später in München auch gibt (und die ebenso kurzlebig ist).
Sie beginnt mit der freien Wahl am 26. März 1871, Bourgeoisie und Adel in Frankreich und Preußen schlagen sie vereint Ende Mai in einem entsetzlichen und langwierigen Blutbad nieder. Davon handelt die Lebenserzählung Victorine Brochers. Meyssan erzählt die politischen Wegmarken chronologisch, Victorines Erzählung ergänzt die Ebene der historischen Fakten durch Impressionen aus dem eigenen Leben, vom Sohn, von der Mutter, vom Ehemann, und dann zunehmend vom Gemetzel der Regierungstruppen, von der mörderischen Allianz der Sieger und der Verlierer im Preußisch-Französischen Krieg gegen die demokratischen Bemühungen des Volkes.
Am 2. April schlägt die monarchistische Exil-Regierung von Versailles aus los, während die Preußen 50.000 französische Kriegsgefangene entlassen und sie verpflichten, auf der Seite der Versailler Regierungstruppen an den Kämpfen teilzunehmen.

Wie in allen europäischen Revolutionsversuchen des 19. Jahrhunderts ist am Ende der Sieg der jeweiligen Machthaber ein militärischer, illegitimer und blutiger.
Im Rückblick auf die wichtigsten Fakten dieses ohnmächtigen revolutionären Ereignisses - für Deutschland auch relevant mit den Präliminarien der Gründung des zweiten Reichs mit dem Krönungs-Höhepunkt im Versailler Spiegelsaal - erfahren wir einiges über jenes Paris, das Walter Benjamin die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ nennt. Denn die Entwicklung einer chaotisch überquellenden, über viele Jahrhunderte gewachsenen europäischen Residenzstadt zur Kapitale der Moderne und Reichen ist das Ergebnis einer planenden, zerstörenden und neu aufbauenden Arbeit fast eines ganzen Jahrhunderts.

Der neu gewählte revolutionäre Pariser Stadtrat versucht - gegen den Willen der konservativen Zentralregierung - Paris nach sozialistischen Vorstellungen umzugestalten und zu verwalten. Die Kommunardin Victorine ist eine führende Revolutionärin. Aus ihrer Perspektive schildert der Dokumentarfilm die dramatischen historischen Geschehnisse. Wir zittern mit Victorine vor den Soldaten, die an jenem 18. März 1871 im Begriff sind, auf die auf dem Montmartre versammelte Menge zu schießen, jubeln mit Victorine inmitten der Menschen, die am 28. März 1871 auf dem Platz vor dem Rathaus die Kommune ausrufen.
Die Pariser sind empört über die Regierung, die sich in Versailles verschanzt hat und sich weigert, die Wahlen anzuerkennen. Stattdessen nimmt sie Paris unter Beschuss. Die Frauen von Paris begeistern sich, sie treffen sich abends in den besetzten Kirchen und zur Verteidigung der Stadt. Und sie rufen zur Revolution auf. Die in Versailles von der französischen Regierung angeordneten systematischen Massaker der Blutwoche machen uns fassungslos. Dagegen steht die Selbstlosigkeit jener Frauen und Männer, die im Namen eines höheren Ideals bis zum Ende Widerstand leisten. Zehntausende sind am Ende tot, erschossen, exekutiert, massakriert. Auf beiden Seiten.
Der ARTE-Dokumentarfilm schildert den leidenschaftlichen Kampf der Kommunarden, die 72 Tage lang alles daransetzten, der Geschichte einen neuen Verlauf zu geben. Doch am Ende werden sie von ihr mitgerissen: Die Revolution hat ihre Kinder gefressen.



1909 veröffentlicht, ist dieser Text von Victorine eines der seltenen und starken Zeugnisse einer einfachen Frau aus einer militanten Familie, die die Aufstände von 1848 und 1871 durchgemacht hat. Sie erlebt das Zweite Reich, die Belagerung von Paris, die Entbehrungen, den Tod ihrer Kinder, die mit der Sozialrepublik geborenen Hoffnungen, die Blutwoche, das Exil und schließlich das Überleben.
Sie erlebt intensiv zwei Revolutionen: die von 1848 und die von 1871. Sie ist während der ersten noch ein Kind. 1871 nehmen sie und ihr Mann in einem sehr populären Kreis an den Aktivitäten der Internationalisten teil. Sie sieht in der Kommune die Explosion des Volkszorns gegen alle Verrate der Bourgeoisie.
72 Tage hat das Proletariat die Fäden in der Hand. Die Perspektive der Revolutionärin Victorine Brocher, die die kaltblütigen Massaker der Reaktion überlebt, ihre Erinnerungen später aufschreibt. In der Zeit des Widerstands verlieren ihr kleiner Sohn und ihr Mann, der an vorderster Front gegen die Versailler kämpfte, das Leben. Allen Schicksalsschlägen zum Trotz rappelt sich Brocher immer wieder auf und versucht mit aller Kraft, die Errungenschaften der Kommune zu verteidigen. Auch an Pathos mangelt es nicht, wenn Victorine etwa schildert, wie sie einen Schwerverwundeten ihres fast aufgeriebenen Bataillons in die rote Fahne hüllt, danach mit dem blutbefleckten Tuch auf die Barrikade steigt und Mut machen will. Sie legt ein beeindruckendes Zeugnis ab.
Und AERTE erweckt es mit Hilfe alter Kupferstiche, Zeichnungen und einiger weniger Fotos zum Leben. Auf dass wir daraus lernen ...