Christians Mini-Kosmos




Olga Grjasnowa

Die Republik Aserbaidschan mit 10 Mill. Einwohnern, infiziert von der Holländischen Krankheit:
Infolge des rasch expandierenden Öl- und Gasgeschäfts vernachlässigt der Staat völlig die industrielle und landwirt-schaftliche Produktion, zieht Kapital und Arbeitskräfte ab, um sie in die Rohstoffbranche umzulenken. Die Abhängigkeit vom Ölexport rächt sich während des Ölpreisverfalls 2014/15 und führt zu einer Abwertung der Landeswährung Manat um fast 50 %.
Zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus gelegen, grenzt Aserbaidschan im Norden an Russland, im Nordwesten an Georgien, im Süden an den Iran, im Westen an Armenien und über die Exklave Nachitschewan, die ein armenischer Gebietsstreifen vom aserbaidschanischen Kernland trennt, an die Türkei. Größte und Hauptstadt mit rund 2,2 Mill. Einwohnern ist Baku, Hafenstadt am Kaspischen Meer.

Dort ist Olga Grjasnowa in einer russisch-jüdischen Familie 1984 geboren, Mutter Musikerin, Vater Jurist.
Kontingentflüchtlinge sind Flüchtlinge, die in festgelegter Anzahl nach Deutschland übersiedeln dürfen. Ab 1991 haben Juden aus der Sowjetunion und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus deren Nachfolgestaaten die Möglichkeit, als solche nach Deutschland einzureisen. Familie Grjasnowa übersiedelt 1996 nach Hessen, wo Olga Deutsch lernt und in Friedberg die Schule abschließt. Studium der Kunstgeschichte und Slawistik in Göttingen. Dann am Deutschen Literaturinstitut Leipzig im Studiengang „Literarisches Schreiben" 2010 Bachelor. Studienaufenthalte in Polen, Russland und Israel, Studium Tanzwissenschaft in Berlin, wo sie, verheiratet mit dem aus Syrien stammenden Schauspieler Ayham Majid Agha und zwei Kindern, lebt.

Ihr 2012 erschienenes Romandebüt Der Russe ist einer, der Birken liebt erregt auf Anhieb Aufsehen.

Nach dem Zerfall des Russischen Kaiserreichs entsteht 1918 die Demokratische Republik Aserbaidschan; die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik wird Teilstaat der Sowjetunion und 1991 unabhängig, aber autoritär regiert.
Vorherrschende Religion ist der Islam, 85 % der muslimischen Aserbaidschaner sind Schiiten, 15 % Sunniten, heute bezeichnen sich aber nur etwa 10 % als regelmäßig praktizierende Muslime, obwohl der Islam nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Wiedergeburt erlebt. Besonders im Süden des Landes entsteht seit einigen Jahren durch iranischen Einfluss eine orthodoxere Form des Islams und 1991 kommt es zur Gründung politischer Organisationen mit islamischem Charakter. Die aktualisierten laizistischen Gesetze haben aber die Islamischen Parteien ebenso verboten wie die Neugründung religiöser Parteien.
Heute leben in Aserbaidschan etwa 30.000 Juden, zu rund 75 % in Baku. Prominente Juden sind der Nobelpreisträger für Physik Lew Landau, der Arzt Solomon Gusman, sowie der Panzerkommandant Albert Aqarunov, der im Bergkarabach-Krieg stirbt. Aserbaidschan gilt weltweit als eines der sichersten Länder für Juden, wo Antisemitismus kaum vorkommt.

Dafür floriert die "Kaviar-Diplomatie".
Seit Aserbaidschans Eintritt in den Europarat lädt das Land jedes Jahr 30 bis 40 EU-Abgeordnete auf Reisen nach Aserbaidschan ein und überhäuft sie mit Gastgeschenken, darunter teurem Kaviar (Kilopreis 1.400 €), wertvollen Seidenteppichen, Gold, Silber und mit hohen Geldbeträgen. Auch zahlreiche BT-Abgeordnete lassen sich luxuriöse Reisen nach Baku finanzieren und engangieren sich dann als Lobbyisten für die aserbaidschanische Regierung.
2017 klagt die italienische Jusitz den Europaratabgeordneten Luca Volontè wegen der Annahme von Bestechungsgeldern In Millionenhöhe an. Die Gelder seien aus Aserbaidschan geflossen. 2018 wirft ein Bericht mehreren Mitgliedern des Europarates Lobbyarbeit für Aserbaidschan gegen Bezahlung vor und erhebt Korruptionsvorwürfe u. a. gegen die deutschen Politiker Eduard Lintner und Karin Strenz sowie gegen den Spanier Pedro Agramunt Font de Mora (ehemaliger Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates).

Die militärische Auseinandersetzung Armeniens und der Republik Arzach auf der einen Seite und Aserbaidschans auf der anderen Seite beginnt im Juli 2020 und endet 4 Monate später mit einem Sieg Aserbaidschans. Sie ist Teil des Konflikts um die Region Bergkarabach, wo sich 1991 die Republik Arzach für unabhängig erklärt und 1994 einen Krieg gegen Aserbaidschan mit armenischer Unterstützung gewinnt, international jedoch nicht anerkannt wird.
Die neuen Kampfhandlungen werden nach einer von Russland vermittelten Einigung zwischen den Konfliktparteien beendet.

Im Dezember 2012 ernennt das OCCRP Präsient Ilham Aliyev zum „korruptesten Mann des Jahres“.
Die Enthüllungen dokumentieren, wie seine Familie große Anteile der lukrativsten Branchen übernommen hat, einschließlich Banken, Telefongesellschaften, Mineral- sowie Bauindustrie. Weiterhin wird bekannt, dass 2009 innerhalb von zwei Wochen sein zu dieser Zeit 11-jähriger Sohn Besitzer von insgesamt neun Strandhäusern in Dubai mit einem Gesamtwert von 44 Mill. Dollar wird. In diplomatischen US-Depeschen wird Aliyev mit einem „Mafia-Gangsterboss“ verglichen, viele Analysten bezeichnen ihn als Diktator. Kritikern gilt Aserbaidschan unter seiner Herrschaft als Inbegriff eines Polizeistaates.
Dokumente beweisen, dass Aliyevs Töchter seit 2008 drei Firmen auf den Britischen Jungferninseln besitzen. 2015 rückt Aliyev ins Zentrum eines Korruptionsskandals, in den auch der schwedisch-finnische Telekonzern Telia Sonera verstrickt ist. Das Unternehmen soll im Zuge des Privatisierungsprozesses des aserbaidschanischen Mobilfunkanbieters Azercell Telekom, der der Präsidentenfamilie nahesteht, bis zu einer Milliarde Dollar an Schmiergeldern an das Aliyev-Regime gezahlt haben. Ein schwedischer Finanzbeamter bezeichnet die Vorfälle als "größten Bestechungsfall Schwedens".
Der ehemalige US-Botschafter in Aserbaidschan, Richard Kauzlarich, sagt über die Aliyev-Familie: „Ihr Level an Korruption und die Kontrolle der Wirtschaft durch die Elite ist herausstechend - und das in einem Teil der Welt, in dem diese Dinge nicht unüblich sind.“
2017 ernennt Aliyev seine Frau Mehriban Arif qizi Aliyeva zur Vizepräsidentin. Das Amt gab es bis dahin nicht und wird 2016 mit einem Verfassungsreferendum eingeführt. Demnach soll der Vizepräsident den Staatschef vertreten, wenn dieser im Ausland weilt bzw. nicht in der Lage ist, seine Amtsgeschäfte auszuführen.
Die Amtszeit des Präsidenten wurde von 5 auf 7 Jahre verlängert und die Beschränkung auf zwei Amtszeiten aufgehoben.


Mascha, alter ego von Olga, die Jüdin ist (ihre Großmutter Holocaust-Überlebende), kommt 12jährig aus Aserbaidschan, wo der Bürgerkrieg tobt, nach Hessen. Anschaulich und mit treffsicherem Galgenhumor zeigt sie uns, was es heißt, als Einwanderer in Deutschland zu leben, wie es ist, die Eltern aufs Ausländeramt zu begleiten, dolmetschen zu müssen, in der Schule zurückgestuft zu werden und immer wieder rassistischen Äußerungen ausgesetzt zu sein. Lakonisch und nüchtern geschildert Maschas tragische Liebesbeziehung zu Elias, der aus einer ostdeutschen Alkoholiker-Familie kommt und an einer Krankheit stirbt, der Grund für ihre verzweifelte Flucht zu einer humanitären Organisation in Israel. Die Szenen zum palästinensisch-israelischen Konflikt und deren absurde Wahrhaftigkeit geben mehr her als so manche geschwollene politische Abhandlung.
Olga Grjasnowa, eine ganz neue und einzigartig antifolkloristische, antilarmoyante Stimme im Kanon der deutschsprachigen Migrationsliteratur: Die traumatisierte, ehrgeizige, autonome und zugleich essgestörte und tragikomische Mascha Kogan ist ein ganz neuer Typus der deutschen Literatur: multiethnisch und selbstverständlich kosmopolitisch, engagiert, aber gleichzeitig leidend am Mangel einer großen Idee, um die Energie umzusetzen. So zeitgeschichtlich wach und literarisch eigensinnig war lange kein deutsches Debüt.
Olga Grjasnowa hat ihre ausufernde Stoffmasse, die locker für vier Romane gereicht hätte, grandios gemeistert, nie kommt die geringste Langeweile auf. Mascha, der Mittelpunkt eines multikulturellen, in keine Schublade passenden Freundeskreises, muss auch als Dolmetscherin in Israel fremd bleiben. Kein "Thesenroman", dessen mit einer gelungenen Mischung aus Komik und Tragik in rasantem Tempo erzähltes Identitätskarussell uns fesselt, mit sparsamen aber treffenden Figurenzeichnungen. Grjasnowas leichte Hand im Umgang mit ihrem gewichtigen Stoff nötigt Hochachtung ab.



PS: Aktuell





Schicksalsgebirge Kaukasus

In Archiz geschieht das Wunder vom Kaukasus: Heulmut Kohl ringt vom 14. bis 16. Juli 1990 Gorbatschow das Ja zur deutschen Einheit ab: Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl sitzen an einem rustikalen Arbeitstisch im Garten von Gorbatschows Gästehaus im Nordkaukasus.
Die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion ist schon so schlecht, dass die Gefahr eines Putsches gegen Gorbatschow immer größer wird. Doch ohne Gorbatschow keine deutsche Wiedervereinigung. Lothar de Maizière, Ministerpräsident der DDR erinnert sich: "Bei einem Treffen im Mai sagte mir Außenminister Schewardnadse, die Sowjetunion würde möglicherweise schon im Juni/Juli zahlungsunfähig werden und ihren Kapitaldienst bei den Auslandsschulden nicht erfüllen können"
Nach Gesprächen in Gorbatschows Gästehaus geben Kohl und Gorbatschow den ausgehandelten Kompromiss bekannt: Die Sowjetunion stimmt einer NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands zu. Dafür werde Deutschland auf die Herstellung und den Besitz von ABC-Waffen verzichten. Weiterhin verspricht Kohl Hilfeleistungen bei der Rückführung sowjetischer Truppen und stimmt einer Begrenzung der Truppenstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann zu. In die Geschichtsschreibung geht dieser 16. Juli als "Das Wunder vom Kaukasus" ein.
Fast vier Jahre dauert dann noch der ausgehandelte Abzug der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. 546.200 Soldaten, Offiziere nebst ihren Angehörigen müssen nach Russland zurückgebracht werden. Hinzu kommen 123.629 schwere Waffen und sonstiges militärisches Gerät. (Der "Finder der Fundstücke" war in dieser Zeit Oberstaatsanwalt in Chemnitz (40.000 Russ. Militärs) und zuständig für Straftaten dieser Kämpfer - er könnte abendfüllende Storys aus dieser Zeit erzählen!). Am 31. August 1994 geht mit einer Feier im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt diese Ära zu Ende. Einen Tag später ist die Bundesrepublik Eigentümerin von 3.000 mehr oder weniger abgewirtschafteten Kasernen und verseuchten Grundstücken.

Der Westen verehrt "Gorbi" als Jahrhundertpolitiker, im eigenen Land gilt Gorbatschow als Totengräber der UdSSR.
Auch die Figur Helmut Kohls in Russland steht in einem ambivalenten Licht. Er hatte einfach die falschen Freunde in Moskau. Gorbatschow und sein Nachfolger Boris Jelzin, dessen Männerfreundschaft mit dem deutschen Bundeskanzler geradezu sprichwörtlich war, gehören in Russland bis heute zu den meistgehassten Politikern.
Und die Amerikaner verstehen nie ganz, warum sich Deutschland nach dem Spendenskandal so mit Kohl entzweit hat (der "Finder" hat damals Haftbefehl gegen ihn beantragt: Presse ). In den USA ist er stets der europäische Staatsmann, der Lösungen für die 5 großen Probleme seiner Zeit fand: die Bosnienkrise, die Vertiefung der Europäischen Union, das Verhältnis zu Russland und die deutsche Einigung, bei der die USA die zentrale Kraft waren, die Deutschland trotz weitverbreiteter Skepsis in Europa halfen, den Traum von der Wiedervereinigung zu verwirklichen.

50 Jahre früher:

Am 21. August 1942 weht auf dem Gipfel des Elbrus, dem mit 5.633 m höchsten Berg des Kaukasus, die deutsche Reichskriegsflagge. Die symbolische, militärisch jedoch sinnlose Erstürmung des Gipfels kaschiert nur kurz das strategische Desaster der Wehrmacht zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer.

100 Jahre davor:

Imam Schamil (1797 -1871), von 1834 bis 1859 Imam (religiös-politischer Führer) der muslimischen Bergvölker Dagestans und Tschetscheniens, organisiert den Widerstand gegen die russische Eroberung des Nordostkaukasus.
1839 kommt es in Achulgo zur verheerenden Niederlage Schamils gegen die russische Armee. Er muss seinen Sohn als Geisel der russischen Armee übergeben. Schamil entkommt und baut 1840 die Widerstandsbewegung von Tschetschenien aus wieder auf. Ein geordneter Staat gibt dem Widerstand eine solide Grundlage. Schamil schafft eine dreistufige Hierarchie von Dorfvorstehern, Gebietschefs und schließlich seine Zentralregierung mit stehendem Heer, Postwesen, Steuerverwaltung und islamischem Gerichtswesen.
Wer war dieser Imam?
Der Sohn eines Landbesitzers gehört dem Volk der Awaren an. Er studiert Grammatik, Logik, Rhetorik und Arabisch, erwirbt sich Ansehen als Gelehrter und tritt 1830 der Sufi-Bruderschaft der Nakschibendi bei, in Russland als Muridismus bezeichnet. Unter Imam Ghazi Muhammad setzen sich die dagestanische Bergvölker etwa ab 1827 gegen den russischen Staat zur Wehr. Schamil wird zu einem der wichtigsten Mitstreiter und Freunde Ghazi Muhammads.
Der Heldenmythos von Imam Schamil exisitiert bis heute bei den Völkern Dagestans und in Tschetschenien .
Schamil erlebt den Höhepunkt seiner Macht, als er das Heer des neubestellten Kaukasus-Statthalters Michail Woronzow 1845 fast vollständig vernichtet. Die folgende, von Woronzow angegangene, Reorganisation der gesamten russischen Politik im Nordkaukasus leitet aber den Niedergang Schamils ein.
Bei seiner letzten Schlacht zieht er sich mit seiner Kämpfer auf den Berg Gunib zurück und muss sich 1859 ergeben.

Das 2020 erschienenen Buch von Olga Grjasnowa erzählt die Geschichte von Imam Schamils Sohn Jamalludin, den sein Vater, der „Gotteskrieger“ während militärischer Verhandlungen als Pfand an das russische Heer übergibt. Die Russen behalten den Jungen, schicken ihn zur Kadettenausbildung nach St. Petersburg und später zu Militäreinsätzen in Polen, um ihn zum künftigen russlandtreuen Herrscher im Nordkaukasus auszubilden.
Grjasnowa geht diesmal weit zurück in die Vergangenheit. Sie erzählt uns die Geschichte des anfänglich 9-jährigen Protagonisten über zwei Jahrzehnte auf seinem Lebensweg vom nordkaukasischen Dagestan über Russland und Polen und wieder zurück in seine Heimat. Ihre märchenhafte Geschichte lässt Parallelen zu einem Klassiker der russischen Literatur erkennen:„Hadschi Murat“ von Lew Tolstoj erzählt vom gleichnamigen historischen Freiheitskämpfer aus Dagestan, der zu den Russen überläuft und daran zerbricht.
In der russischen Literatur ist der Kaukasus und speziell der Freiheitsdrang der Kaukasier (im Widerstand gegen das autoritäre Russland) ein zentraler und altehrwürdiger Topos. Puschkin und Lermontov haben darüber geschrieben, ebenso Dichter des 20. Jahrhunderts wie Mandelstam, Pasternak oder wichtige zeitgenössische Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Alexander Ilitschewski oder Alissa Ganijewa. Grjasnowa dankt am Ende ihres Buchs unter anderen der letztgenannten Moskauer Kollegin.
Olga Grjasnowa skizziert bildreich die elenden Lebensumstände der Menschen in Dagestan genauso wie das prächtige Leben am russischen Hof und die Armut der leibeigenen russischen Bevölkerung. Dekabristenaufstand, Revolutionär Bakunin (dessen Familie Jamalludin kennenlernen darf) und die berühmte Geschichte von Dostojewskis Begnadigung kommen in Erinerung.
Grjasnowa, die als russische Muttersprachlerin, geboren im Südkaukasus, biografisch ein besonderes Verhältnis zur leidvollen Beziehung zwischen Kaukasiern und Russen hat, präsentiert uns im Anhang eine lange Literaturliste mit Sekundärwerken, was großen Fleiß verrät.