Am Morgen des 17. Februar 2011 kommt die 36jährige Ärztin Lydia NN. aus Ulm, wo sie sich als Ärztin in einer Klinik beworben und vorgestellt hat, in die Ehewohnung nach Aachen zurück. Es beginnt sofort ein heftiger Streit mit ihrem 85jährigen Ehemann Hermann NN. Er stellt sie zur Rede, wo sie gewesen sei. Vom Tisch fällt ein Briefumschlag, eine Bewerbung, die Lydia nicht abgeschickt hatte. Zwischen die Blättern findet sie einen Zettel, den ihr Ehemann heimlich beigelegt hatte.
Ihr wird nun bewusst, warum sie bei einer Vielzahl von Bewerbungen nie eine Zusage erhalten hatte.
Am nächsten Abend äußert Lydia gegenüber ihrem Ehemann, dass sie die Kontrolle nicht mehr ertrage.
Wörtlich: "Du bist zu weit gegangen, als du meine Bewerbungen torpediert hast. Was wolltest du damit erreichen?" Darauf schreit sie der Ehemann an: "Du bist das Allerletzte, eine drogenabhängige Schlampe! Du bist wieder an dem Punkt angelangt, wo ich dich vor 18 Jahren aufgegabelt habe. Lass dich auf dem Strich ordentlich durchficken!" Er ist völlig außer sich und droht, dafür zu sorgen, dass ihr die Approbation entzogen wird, er sagt, er habe es in der Hand, sie wieder in die Gosse zu schicken.
Dann lächelt er plötzlich.
"Du hast zu tun, was ich dir sage. Ich habe dich nicht zur Ärztin gemacht, damit du dich gegen mich wendest. Du bist nur hier, um deine Ehepflichten zu erfüllen, du kleine Privatnutte. Mehr warst du nie für mich." Lydia läuft in die Küche, um sich eine Spritze Morphium zu setzen – "um dem Terror zu entfliehen". Der Ehemann schreit und schreit und schreit, sie zieht eine Ampulle auf, "hör auf", eine zweite, "hör auf, Hermann, bitte, hör endlich auf", eine dritte, oder mehr. Plötzlich wendet sie sich um, rennt, völlig außer sich, ins Wohnzimmer. Gerangel.
"Was willst du mit der Spritze, du Nutte?" Er trifft sie mit der Faust ins Gesicht, Lydia rammt ihm die Nadel in den Oberschenkel und drückt ab.
"Du Schlampe, was ist das, du widerliches Miststück, du ..."
Er wird leiser und leiser und stirbt.



Vorgeschichte

Lydia ist 1975 in Baden-Württemberg geboren, der Vater ist Vertreter bei einer Staubsaugerfirma, die Mutter macht eine Boutique nach der anderen auf, erfolglos. Beide Eltern sind fanatische Zeugen Jehovas, was für Lydia heißt: kein Weihnachten, keine Geburtstagsfeier, kein Fasching, kein Fernsehen. "Es gibt in meiner Erinnerung keinen Tag, auf den ich mich gefreut habe."
Trotz aller religiösen Inbrunst trennen sich die Eltern als Lydia drei ist. Der ältere Bruder kommt zur Oma, Lydia bleibt bei der Mutter. In zehn Jahren ziehen sie siebenmal um, denn die Mutter kann die Miete nie bezahlen. Radolfzell, Überlingen, Salem, an die anderen Ortsnamen kann Lydia sich nicht mehr erinnern. Ein Leben auf der Flucht. Ständig neue Tagesmütter, die meisten desinteressiert.
"Ich war eigentlich immer allein. Manchmal starrte ich stundenlang ein Aquarium an."
In der Schule ist es kaum anders. Keine Freunde, und wenn doch, zieht die Familie schon wieder um. Ihr Leben folgt dem immer gleichen Takt: vormittags Schule, nachmittags Bibelstunden, Gottesdienste, Gruppensitzungen, lernen, lernen, lernen. Kommt Lydia zu spät, schlägt die Mutter ihr ins Gesicht. Dann muss sie hundertmal schreiben: 'Ich darf nicht zu spät kommen.' Will sie den Vater besuchen, setzt die Mutter die Neunjährige in den Zug und hängt ihr ein Schild mit dem Zielbahnhof um.

Der Vater hat bald eine neue Frau, und die hat einen Sohn, Ende 20. Wenn Lydia beim Vater übernachtet, holt der Stiefbruder sie oft zu sich. Dann liegen sie gemeinsam im Bett, schauen Videos. Lydia darf aussuchen: Die unendliche Geschichte, Karlsson vom Dach, Die Goonies. Manchmal fährt er mit den Fingern über ihre nackten Beine.
Der Stiefbruder nimmt sie mit ins Schwimmbad, er kauft ihr den ersten Badeanzug. Er gibt ihr Schokolade, die zu Hause verboten ist. Einmal fährt er mit Lydia in den Wald und bittet sie, sich auszuziehen. Dann fotografiert er sie nackt, im Gras liegend. Ein andermal zieht er sich aus und fragt, ob sie seinen Penis anfassen möchte. Abends beim Fernsehen greift er der inzwischen Zwölfjährigen in den Schritt. Gefällt dir das? "Ich hatte keine Schmerzen, es war mir nicht mal unangenehm, aber irgendwie war ich beschämt. Ich verstand den Sinn nicht."
Der Vater ist nicht so streng wie die Mutter, eher achtlos, die Tochter kümmert ihn zu wenig, als dass er bemerken würde, was in der eigenen Wohnung vor sich geht. Mit 13 hält Lydia es bei der Mutter nicht mehr aus, sie zieht zum Vater. Dort gibt es keine Schläge, aber den Stiefbruder.
Lydia fängt an zu rauchen, zu trinken, zu kiffen, sie nimmt LSD und angstlösende Benzodiazepine. "Solange ich high war, fühlte ich mich wohl." Lydia ist 14, als der Stiefbruder ihr zehn Mark anbietet, um ihren Busen anfassen zu dürfen. Sie erlaubt es, so wie sie ihr ganzes Leben lang fast alles erlauben wird, was Männer von ihr wollen.

Als er ihr in die Hose greift, rennt sie weg. Ein paar Tage später aber geht sie zu ihm, er hat jetzt eine eigene Wohnung. Er habe sie beim Rauchen gesehen, sagt er, und werde es dem Vater sagen. Lydia bekommt Angst und gehorcht, als er ihr befiehlt, sich aufs Bett zu legen. "Innerhalb von Sekunden war er ausgezogen, spreizte mit seinen Knien meine Beine und kam über mich." Er tue ihr doch nicht weh. Dann rammt er ihr seinen Penis in die Scheide, einmal, dreimal, fünfmal. Lydia schreit. Weint. Er lässt von ihr ab und onaniert. Sie duscht noch in seiner Wohnung und ritzt sich mit einer Rasierklinge Wunden in den Arm.

Lydia hat ihren Stiefbruder nie angezeigt, sie wollte die Familie in Ruhe lassen.

Am Tag nach der Vergewaltigung durch den Stiefbruder 1990 will sie sterben.
Sie stiehlt 50 D-Mark aus dem Portemonnaie ihres Vaters und rennt zum nächsten Bahnhof. "Mich hätte keiner aufhalten können." Sie trampt nach Stuttgart, findet einen Dealer, der ihr Heroin verkauft. "Ich hatte über jede erdenkliche Droge alles gelesen, was ich finden konnte. Und Heroin war immer mein Ziel, es versprach so viel." An diesem Tag verspricht es die endgültige Erlösung. Den Notarzt, der Lydia auf einer U-Bahn-Toilette wiederbelebt, schreit sie an: "Warum hast du mich zurückgeholt?"

Es folgen zwei Monate Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als die Ärzte die Eltern einbestellen, um das weitere Vorgehen zu besprechen, taucht die Mutter gar nicht erst auf. Lydia kehrt zurück zum Vater. Sie geht kaum noch zur Schule. Immer wieder haut sie ab, nach Stuttgart, Berlin, später flüchtet sie auch aus dem betreuten Wohnheim in Konstanz, in dem sie untergekommen ist. Mit 17 hat sie ihren ersten Freund. Er zeigt ihr, wie man Gitarre spielt. Sie leben in einem Bauwagen, machen Musik, kiffen, ein kurzes Glück. Dann kommt das Heroin zurück. "Lass uns nach Aachen fahren, meinen Bruder besuchen", sagt der Freund. Dort kriegt man das Zeug viel billiger. Für Lydia ist das eine Weltreise. Und eine Verheißung.

Es dauert nicht lange, und ihr Leben richtet sich nach den Drogen aus. Tagsüber läuft sie mit der Gitarre durch die Aachener Pontstraße, viele Kneipen, viele Touristen. Sie singt selbst gedichtete Protestlieder über die Bonzen aus Bonn, ihr Lieblingssong aber stammt von der Band Gänsehaut.

Karl der Käfer ist ein Renner. Manchmal verdient sie 100 Mark am Tag, das sind zwei Gramm Heroin. Nachts schläft das Paar im Stadtpark. Bald aber wird es draußen kälter, die Menschen sitzen nicht mehr vor den Kneipen. Ihrem Freund wird es zu viel, er kehrt zurück nach Konstanz. Lydia bleibt. Sie geht jetzt auf den Strich, sie ist noch immer 17. Jünger ist hier niemand. "Ich war gut befahren", sagt sie.

Ein, zwei, drei, manchmal vier Freier pro Tag, klassisch, oral, SM – Lydia macht alles. Die Sucht verlangt es ihr ab. "Die fielen über mich her wie die Wölfe." Eines Tages kommt Hermann, stattlicher Bauch, 50 Jahre älter, ehemals Betreiber eines Lebensmittelgeschäfts, zweimal geschieden, vier Kinder von vier Frauen. Hermann ist anders. Höflich. Bezahlt gut. Kommt wieder. Irgendwann gibt er ihr seine Nummer. "Ruf mich an, wenn du was brauchst."
Das ist bald der Fall. "Ich hatte kein Geld mehr und schlimme Entzugserscheinungen, da rief ich zum ersten Mal den Hermann an. Er holte mich sofort ab, und wir hatten Sex bei ihm in der Wohnung." Danach fährt er mit ihr zu ihrem Dealer in den Niederlanden. Hermann sagt: Für jedes Mal Sex mit mir kannst du dir was von dem Zeug holen. Sex gegen Drogen, das ist die Abmachung.

Für einen anderen Drogenhändler, bei dem sie in Aachen manchmal wohnt, schmuggelt Lydia in der Vagina sieben Gramm Heroin über die deutsch-niederländische Grenze. Sie wird erwischt und kommt in Untersuchungshaft. Drei Monate lang. Als sie entlassen wird, ruft sie Hermann an. Wieder holt er sie ab und nimmt sie mit zu sich. Wieder Sex. Diesmal bleibt sie.

Lydia ist 19 Jahre alt, als sie und Hermann, 69, ein Paar werden. Warmes Bett, drei Mahlzeiten, regelmäßiger Tagesablauf, Hermann päppelt Lydia auf. Er füllt ihren Antrag auf Sozialhilfe aus, sie bläst ihm einen. Er kümmert sich um einen Platz im Methadonprogramm, sie bläst ihm einen. Er motiviert sie, wieder zur Schule zu gehen, sie bläst ihm einen. Jeden Abend bläst sie ihm einen. 18 Jahre lang.
Er profitiert von ihr, sie profitiert von ihm. Also bleiben sie zusammen. Hermann tut alles dafür, dass sie von den Drogen wegkommt, dem Heroin, dem Kokain, den Medikamenten, er baut sie nach jedem Rückfall wieder auf. Vier Jahre dauert es, bis Lydia clean ist. Sie macht den Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss, das Abitur mit 1,8. "Mit jedem Erfolg wuchs mein Ehrgeiz". Schon als Kind träumte sie davon, Ärztin zu sein. "Aber in meinem Kopf war immer der Gedanke: Du bist doch eh zu blöd." Als sie die Zulassung für das Medizinstudium an der RWTH Aachen bekommt, ist es der größte Tag in ihrem Leben.

Hermann und Lydia fahren ab und zu in den Urlaub, sonst gibt es nichts Gemeinsames.
Früher gingen sie manchmal aus, nun hockt er vor dem Fernseher, und sie lernt. Das Medizinstudium ist alles für Lydia, es absorbiert ihre gesamte Energie. Ihr fehlt die Kraft, die Beziehung zu Hermann zu beenden. Im Grunde leben sie aneinander vorbei. Sie treffen keine Freunde, weil sie keine haben. Wenn Hermann mit jemand anderem über Lydia spricht, nennt er sie nie beim Namen, sondern sagt »Püppi«. Sie berühren sich nur, wenn das Ritual es verlangt. Küssen sich nicht. In fast zwei Jahrzehnten Beziehung spricht keiner der beiden jemals die drei Wörter aus: Ich liebe dich.

Je weiter Lydia in ihrem Studium vordringt, desto besitzergreifender wird Hermann. Kommt sie zu spät nach Hause, schreit er sie an: Wo warst du? Mit wem hast du dich getroffen? Manchmal schlägt er ihr ins Gesicht. Es ist, als habe er Angst, die Kontrolle über sie zu verlieren, als komme er nicht damit klar, dass Lydia nicht mehr das kleine drogensüchtige Püppi ist, sondern eine angehende Ärztin. Und Lydia ist hin- und hergerissen, will sich lösen von Hermann und ist doch abhängig von ihm. Sie verabscheut ihn und ist ihm unendlich dankbar. Sie wird laufend gedemütigt und sorgt sich um seine Gesundheit. Sie ahnt, dass sie ohne seine Kontrolle am nächsten Tag wieder an der Nadel hängen würde.

2008 macht sie ihr praktisches Jahr im Universitätsklinikum Aachen. Ihr Traum, Ärztin zu sein, wird ihr Verhängnis. Erst zwackt sie heimlich fünf Milligramm Diazepam ab, dann zehn, irgendwann klaut sie, was sie zwischen die Finger bekommt. "Ich hab die Dinger geschmissen wie Smarties." Benzos, Barbiturate, bald dann auch Morphium. Warme Geborgenheit, endlich. Sie ist wieder drauf.

Lydia beendet ihr Medizinstudium 2009 als Süchtige. Sie promoviert mit der Note »gut« über nichtinvasive Beatmung. Sie will Anästhesistin werden. Hermann, inzwischen 83, aber weiß, dass sie rückfällig geworden ist. Und er will mit aller Macht verhindern, dass sie jetzt auch noch Fachärztin wird. Schickt sie Bewerbungen los, schmuggelt er Zettel in die Umschläge. Darin warnt er die potenziellen Arbeitgeber, Lydia H. sei drogensüchtig und früher auf den Strich gegangen. Sie bekommt eine Absage nach der anderen und kann es sich nicht erklären.

2010 meldet sie sich bei Easyflirt an. Sie sehnt sich nach Austausch mit einem anderen Menschen, nach Gesprächen, die Männer wollen aber nur Sex. Nach sieben Tagen löscht sie ihr Profil. Die Nähe zu Hermann erträgt sie nur noch mit Medikamenten. Neuer Versuch, sechs Monate später. »Larissa Prunk« trifft den »grauen Wolf«. Und dieser graue Wolf ist alles, was Hermann nie war.

Im Deutschen Ärzteblatt entdeckt sie eine Stellenanzeige der Uni-Klinik Ulm, weit weg von Aachen. Das könnte ihre Chance sein. Auf eigenen Füßen stehen. Kein Anhängsel mehr sein. Und, nun ja, da ist ja jetzt auch Erich, der graue Wolf, der nicht weit von Ulm lebt. Wieder ein alter Mann, das wohl, aber was soll sie mit einem Jüngling, der nichts vom Leben weiß? Sie bittet ihn, sie zum Vorstellungsgespräch zu begleiten. Und Erich fährt sie hin. Natürlich. Er vergöttert sie, seit er sie sah. Hermann erzählt sie nichts vom Vorstellungsgespräch. "Ich bin einfach abgehauen."
Lydia bekommt die Stelle. Sie ist außer sich vor Freude. "Das war mein Leben, mein alles." Doch wie soll sie das ihrem Mann erklären? Mehr als 400 Kilometer liegen zwischen Aachen und Ulm.



Gerichtsverfahren

Am Morgen nach dem Spritzen-Angriff findet Lydia Herrmann vor dem Sofa liegend, ein Arm und ein Bein fast rechtwinklig vom Rumpf abstehend. "Ich wusste sofort, dass er tot war, aber ich wusste nicht, wieso. Die Spritze, das Morphium, ich hatte das total ausgeblendet."
Als Erstes ruft sie Erich an, der ihr rät, einen Arzt zu kontaktieren. Dann versucht sie es bei Hermanns Hausärztin, schließlich wählt sie den Notruf. Die Polizisten erleben eine weinende, unter Schock stehende Frau. In der Wohnung in Aachen hängt ein Müllsack mit der Spritze und den Morphium-Ampullen an der Küchentür. Die Beamten entdecken ihn nicht. Sie sehen keinen Anlass, von Fremdverschulden auszugehen. Hermann war über 80 Jahre alt, herzkrank, adipös, die Lungen funktionierten schon lange nicht mehr so recht.
Ein natürlicher Tod erscheint plausibel. Dennoch empfiehlt der aufmerksame Notarzt eine Obduktion, er hat eine Platzwunde am Schädel gefunden, die ihn misstrauisch macht.

Während die Polizei ermittelt, löst Lydia die Wohnung auf und zieht nach Ulm, um ihre Stelle als Assistenzärztin anzutreten. "Dort bin ich aufgeblüht, so gut ging es mir noch nie. Die Arbeit, der Erich, endlich fügte sich alles." Den Toten verdrängt sie, wie sie die Vergewaltigung aus ihrem Leben verdrängt hat.
"Morgens habe ich die Vorhänge in meiner Wohnung aufgemacht, vier Zimmer, 900 €, ein Luxus-Traumleben. Und doch hat irgendwas in mir immer gemahnt: Wie lange darf ich das noch machen?"
Verhaftung im Juli 2011: Die toxikologische Untersuchung ergibt eine letale Dosis Morphin im Blut der Leiche des Hermann.



Das steht im Juli 2012 in der Presse:

Im Raum 0.020 des Landgerichts Aachen ist es hell wie in einem Operationssaal. Lydia wird an diesem 6. März 2014 von zwei Justizbeamten an ihren Platz geführt. Schwarze Hose, schwarzer Pullover, das Haar frisch blondiert, als käme sie zu einem Vorstellungsgespräch. Sie kennt diesen Saal. Vor knapp zwei Jahren hat sie hier nach 21 Verhandlungstagen die erste Schwurgerichtskammer zu lebenslanger Haft verurteilt – wegen Mordes an ihrem Ehemann Hermann.
Ihre Anwälte legen Revision ein – mit Erfolg. Der Bundesgerichtshof hebt das Mordurteil auf, verweist den Fall zurück nach Aachen zur erneuten Verhandlung. Das Gericht muss prüfen, ob es nicht vielleicht auch Totschlag gewesen sein könnte. Die Mordmerkmale der »Heimtücke« und der »niedrigen Beweggründe« erschienen den Bundesrichtern nicht zwingend nachvollziehbar.

In der ersten Hauptverhandlung hat Lydia beharrlich geschwiegen, kurz vor Prozessende dann gestanden. Nun eine neue Strategie: größtmögliche Offenheit. Fast zwei Stunden liest sie ihre Lebensgeschichte vor.
Im April 2014 das Urteil: Totschlag, acht Jahre Freiheitsstrafe. Die Richter erkennen keines der in erster Instanz angenommenen Mordmerkmale: "Die Angeklagte sah durch die Ankündigung ihres Ehemannes, er werde gegenüber der Ärztekammer ihren fortbestehenden Tablettenkonsum offenlegen, ihre gesamten über Jahre investierten Anstrengungen als gefährdet und möglicherweise vergebens an. Deshalb musste Hermann sterben."

Die Staatsanwaltschaft geht in Revision.
Am 25. Oktober 2016, zehn Monate nach ihrer vorläufigen Entlassung, ist Lydia zurück im Landgericht Aachen. Zum dritten Mal ist der Tod des Hermann zu klären. Lydia H. ist sehr dünn geworden, die Adern an ihren Unterarmen bewegen sich rastlos, als bahne sich die Anspannung einen Weg aus der Haut.
Die Hauptverhndlung dauert nicht lang. Der Bundesgerichtshof hat den Fall erneut ans Landgericht zurückverwiesen, es geht nur noch um das Strafmaß. Keine Zeugen, keine Gutachten.
Der Vertreter der Staatsanwaltschaft sieht den Fall anders als seine Vorgänger, er plädiert nicht auf Mord, sondern auf Totschlag – und aufgrund besonderer Tatumstände und der überlangen Untersuchungshaft auf sechs Jahre und acht Monate Freiheitsstrafe.

Das endgültige Urteil: Die Richter kippen das lebenslange Berufsverbot – Lydia H. könnte theoretisch wieder als Ärztin arbeiten –, aber sie verhängen eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und acht Monaten. Zu viel für eine vorzeitige Bewährung, Lydia muss wieder ins Gefängnis, für mindestens sieben Monate.



Strafe

Der Fall steht für eine der kompliziertesten Fragen im Strafrecht, Schuld und Strafe.
Ein Mensch ist tot, ein anderer daran schuld – unstrittig. Wie sehr kann jemand Täter sein, der sein Leben lang Opfer war? Laut Strafprozessordnung darf U-Haft nur dann länger als sechs Monate andauern, »wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen«. Eine der kompliziertesten Fragen, die das Strafrecht bereithält: Wann ist der gewaltsame Tod eines Menschen Mord – wann Totschlag? Drei Schwurgerichtskammern und der Zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs haben sich über Jahre mit ihrem Fall beschäftigt, stets gab es eine andere Bewertung.
Lydia sitzt bis zu ihrer vorläufigen Entlassung 2015 so lange in U-Haft wie sonst fast niemand in Deutschland. Nur Terroristen oder Personen, die von der Justiz dafür gehalten wurden, verbrachten mehr Zeit in U-Haft – wie der Berliner Kommunarde Fritz Teufel, den die Justiz fünf Jahre festhält, bevor man ihn freispricht. Beate Zschäpe und der angeklagte NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben, beide 2011 inhaftiert, sind seit mehr als sechs Jahren in U-Haft.
Staatsanwaltschaft und Verteidiger steiten, die Unnachgiebigkeit auf beiden Seiten hat das Verfahren derart in die Länge gezogen.

Zweck einer Strafe ist Schuldausgleich, Generalprävention, Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Vier Jahre und vier Monate Gefängnis gegen ein ausgelöschtes Leben, das klingt nicht fair. Zweck einer Strafe aber ist nicht Vernichtung des Angeklagten, sondern Resozialisierung, Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Jedes Gericht muss abwägen.



Vollzug

Im Gefängnis kann Lydia nur alle zwei Tage duschen, die Toilette stand am Kopfende ihres Betts, an manchen Wänden war Schimmel, sie sagt: "Anfangs wollte ich nur wieder zurück in die Zelle." Da hatte sie ihre klar umrissene Welt. Feste Uhrzeiten, einen Job als Friseurin, eine Seelsorgerin, eine Therapeutin, mit der sie über die Tat sprach.
Die ganzen »Plemmis« und »Schockeln« dort, die Idioten und Drogenabhängigen; harte »Pop-Shop-Zeit«, jene Stunden, in denen man auf sich allein gestellt in der Zelle hockt; hammerhart.
Bis Frühjahr 2018 hat sie die Haftstrafe nicht angetreten. Eine Psychiaterin und ein vom Gericht bestellter Sachverständiger haben sie für haftunfähig befunden. Lydia steckt in einem Dilemma: Sie muss vorerst nicht zurück ins Gefängnis, aber da sie haftunfähig ist, kann sie auch nicht arbeiten.

JVA Köln-Ossendorf, wo Lydia 4 Jahre vier Monate einsitzt.


Zweites Leben

In einer Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds sitzt Erich in seinem Wohnzimmer. Seine Haare sind grau, aber seine Arme noch immer kräftig. Dreimal in der Woche stemmt er Hanteln im Fitnessstudio, mehr als hundert Kilo schwer. Kerzengerade hockt er auf seinem schwarzen Ledersofa, wie ein Turner vor einer anspruchsvollen Übung. Dann fängt er an zu erzählen, wie er und Lydia einander kennenlernten, im November 2010, über Easyflirt.
Lydia damals 34, nannte sich »Larissa Prunk«, Erich NN., 65, war »Der graue Wolf«. Sie berichtete ihm von ihrem Medizinstudium, er ihr von seinen vier Enkeln. Zwei Einsame, die froh waren, etwas von sich mitteilen zu können. Wenige Wochen später treffen sie einander. Ein Hotel in Aachen, wo Lydia H. lebt. Sie zeigt ihm die Stadt, erzählt von ihrer Ehe, die sie unglücklich macht. Noch am selben Abend schlafen sie miteinander. "Sie war so schön, so interessant, sie hat mir imponiert. Dass sie verheiratet war, hat mich nicht gestört. Ich war einfach froh, eine so tolle Frau kennenzulernen."
Es könnte der Anfang einer wundervollen Liebesgeschichte sein, und vielleicht ist es das auch. Aber nur wenig später wird zwischen Erich und Lydia eine Leiche liegen. Und die liegt da bis heute.

Frühjahr 2018.
Lydia H. hält ein Rezept für das Medikament Medikinet in der Hand, sie hat es gerade von ihrer Psychiaterin geholt. Medikinet ist ein Stimulans, ähnlich dem ADHS-Medikament Ritalin. Lydia leidet – wie ein Viertel aller Suchtkranken – an einer erwachsenen Form der Aufmerksamkeitsstörung. In der richtigen Dosierung hilft ihr das Medikament, sich zu fokussieren. Sie aber nimmt oft viel zu viel davon. Es ist dann, als würde ein trockener Alkoholiker ein paar Schluck Whiskey trinken. Ein Mensch hat seine Sucht nie im Griff, die Sucht aber immer den Menschen.
In manchen Phasen fühlt Lydia H. sich so stark, dass sie nächtelang wach bleibt. Dann bringt sie sich selbst das Mundharmonikaspielen bei, schreibt Bewerbungen, bindet Fotoalben, ist ständig in Bewegung. Danach fällt sie regelmäßig in ein Loch, wird fahrig, hüpft von einem Thema zum nächsten, wirkt müde, platt, antriebslos, liegt tagelang im Bett. Wie geht man damit um, wenn der Mensch, den man liebt, dauernd ein anderes Gesicht zeigt? Erich: "Es ist nicht einfach, aber wir schaffen das schon. Irgendwie. Irgendwann."

Manchmal halten die beiden es nicht mehr zusammen aus. Dann bringt er sie zu ihrem Vater. Sie fühlt sich dort geborgen, einerseits. Anderseits gibt es in der Wohnung kaum Platz. Wenn sie übernachtet, schläft sie im Schrankbett, dort, wo einst der Missbrauch durch den Stiefbruder begann. Im Zimmer mit der Palmentapete.
"Ich habe die jetzt mit Postern überklebt, damit ich diese Scheißpalme nicht mehr sehen muss", sagt Lydia. Es sind medizini-Poster: Eichhörnchen, Kaninchen, Tigerbabys. Symbole einer unbeschwerten Kindheit.

ZEIT 18/20128